Unvergessen - Kapitel 10: Ein folgenschwerer Unfall

Kunstbanause

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"Nun, für mich klingt das so", Robin nippt kurz an seiner Teetasse, dann stellt er sie klirrend auf den dazugehörigen Unterteller, "als wäre Dr. Neverknow ein sehr verhasster Mensch gewesen. Ich kann mir schon vorstellen, dass viele Leute ihn tot sehen wollten."

Seufzend lasse ich meinen vollkommen überarbeiteten Schädel über die Anlehne der Couch hängen, das Wohnzimmer steht nun Kopf. "Ja, zumindest wenn die Gerüchte stimmen, aber", mit einem Schwung folgt der Raum wieder den Gesetzen der Physik, "selbst wenn der Täter wirklich ein ehemaliger Patient war: ich könnte ihn niemals ausfindig machen, da kommen tausende in Frage. Und morgen ist bereits der Prozess, ein Ding der Unmöglichkeit." Robin zieht mich in seine Arme, im nächsten Moment funkeln mir seine Kristalle entgegen. "Ach Schatz, ich wünschte, ich könnte dir irgendwie helfen." Sanft streicht er mir übers Haar, allmählich werde ich müde.
"Quatsch, das brauchst du nicht." Schließlich hat er genug eigene Probleme, eigentlich müsste ich ihm helfen...
"Das denke ich auch. Den Prozess heute hast du ja gründlich durcheinander gewirbelt und das, obwohl du kaum Beweise zur Verfügung hattest. Irgendwie schaffst du das schon."
"Moment mal!" Ich schieße nach oben.
"AUTSCH!" Mit schmerzverzerrtem Gesicht hält sich Robin sein Kinn. "Pass doch mal auf... das tat weh." Ich übergehe sein Leiden.
"Soll das heißen, du warst heute im Publikum!? Warum hast du nichts gesagt? Du hast doch sonst so selten Zeit für meine Prozesse." Robin macht merkwürdige Bewegungen mit seinem Kiefer, habe ich ihn etwa verrenkt? Ups.
"Ach weißt du, ich wollte dich nicht stören. Du wirktest so konzentriert und irgendwie habe ich das Gefühl, dich dauernd von deiner Arbeit abzulenken. Stimmt doch, oder?"
"Naja..." Wo er recht hat, hat er recht.
"Siehst du?", verschmitzt lächelt er mich an, "Deshalb habe ich nichts gesagt. Auf jeden Fall war es amüsant, dich mal wieder in Aktion zu erleben, Darling."

Mein Herz setzt aus. Oh Gott, stimmt ja! Nicht nur mich, sondern auch Justin hat er gesehen... und... zu allem Überfluss hat mich mein Ex auch noch Darling genannt! Ob er wohl weiß, wer dieser-
"Dieser Staatsanwalt hatte offensichtlich einen an der Waffel." Robin lehnt sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, zurück. "Schiebt sich einen Bonbon nach dem anderen rein", sein Kopf dreht sich zu mir, "und nennt dich dauernd 'Darling'. Kennt ihr euch?" Seine blauen Starraugen durchbohren mich, ich spüre wie ich rot werde, weshalb ich mich rasch umdrehe. "O-Oh, den meinst du. Nein, den habe ich heute zum ersten Mal gesehen. Ich ähm, habe öfters mit solchen Verrückten zu tun, weißt du."
Vorsichtig wende ich mich ihm wieder zu, um seine Reaktion zu sehen, doch seine Augen sind geschlossen.
"Ah, richtig. Er wurde erst kürzlich hierher versetzt, nicht? Das hast du doch dem Richter erklärt."

Heiliger Lutschbonbon! Genau, ich habe Justin dem Richter vorgestellt! Das impliziert doch hundertprozentig, dass wir uns schon vorher kannten! Au weia, jetzt muss er nur noch eins und eins zusammen-
"Tja, wie dem auch sei." Lächelnd wendet er sich mir zu und nimmt meine Hand. "Ich muss dir danken, so viel musste ich nämlich schon lange nicht mehr lachen. Eine fabelhafte Komödie." Aus Reflex vepasse ich ihm einen Hieb in die Bauchgegend, grinsend zuckt er zusammen. "Hey! Das war der anstrengenste Prozess seit Langem für mich! Es ging um Leben und-"
"Haha, jaja. War doch nur Spaß...", Robin wirft mir einen verträumten Blick zu, bevor er meine Hand küsst, "...Darling."
Wir müssen beide lachen. Puh, anscheinend ist er nicht hinter die wahre Identität dieses dubiosen Staatsanwaltes gekommen.
Und schon wieder starre ich auf die rot-weißen Fliesen, während ich in der viel zu heißen Badewanne allmählich schmelze. Eigentlich wäre es ja nicht schlimm, wenn Robin wüsste, dass Justin und ich einmal ein Paar gewesen sind. Schließlich ist das Vergangenheit, von unserer süßen Liebe nichts geblieben.
Das Schaumwasser plätschert, während ich langsam meine Arme einseife. Aber aus welchem Grund ist es mir dann so unangenehm, über ihn zu sprechen? Etwa weil ich immer noch...? Nein, ausgeschlossen. Ich hege keine Gefühle mehr für diesen Süßigkeiten-Fetischist. Ihn zu verlassen ist die einzig richtige Entscheidung gewesen, auch wenn sie mir damals lange Kummer beschert hat.

Seitdem habe ich mehr als genug Zeit zum Nachdenken gehabt, heute urteile ich anders über sein Handeln. Ich bin überzeugt, dass er mich damals ins Krankenhaus begleitet hätte. Er ist kein egoistischer, kaltherziger Mensch, dem sein eigener Erfolg wichtiger ist, als die Menschen, die er liebt.
Doch Justin mangelt es an Mut, den Mut, Regeln zu brechen. Es hat sich um das letzte Examen des Studiums gehandelt, wir haben zuvor hart darauf hingearbeitet. Justin hat gewusst, dass wenn er die Prüfung aus irgendeinem Grund nicht absolvieren würde, er vorerst kein Anwalt hätte werden können. Alle Mühe wäre vergeblich gewesen. Alles was er beginnt, bringt er stets ordnungsgemäß zu Ende. Es gehört zu seinen Prinzipien, perfekt zu sein. Justin kennt das Gefühl nicht, dass etwas nicht nach Plan läuft, er braucht von klein an etwas, an dem er sich orientieren kann, einen Faden, an dem er sich entlang zu hangeln weiß.

Aber an diesem Tag ist etwas Unvorhersehbares geschehen, meine Schwester hat einen Unfall gehabt, woraufhin ich die Prüfung sofort abgebrochen und ihn gebeten habe, mich ins Krankenhaus zu begleiten. Was mir damals noch nicht klar gewesen ist: Erstmals in seinem Leben hat er sich entscheiden müssen, doch er hatte zu viel Angst gehabt, vom Weg abzukommen, der immer geradeaus führt, dass seine Ordnung zerstört wird. Was würde geschehen, wenn er die Prüfung nicht machen und vorerst kein Anwalt werden könnte? Was sollte er aus dieser Unbestimmtheit machen? Justin fürchtet sich vor dieser Ungewissheit, daher ist er geblieben und ich habe ihn verlassen, für immer.
Ich habe ihm nicht verzeihen können, dass er mich in einer Stunde der Not allein gelassen hat. Als es darauf angekommen ist und ich Beistand gebraucht hätte, ist er nicht für mich da gewesen. Hilfesuchend habe ich meine Hand ausgestreckt, doch er hat sie nicht genommen. Er kann schlichtweg nicht von seiner Ordnung ablassen. Zu groß ist die Angst, bei dem Versuch, etwas anderes zu ergreifen, zu fallen. Er hat keine Hand für mich frei gehabt, so bin ich diejenige gewesen, die hinabgestürzt ist.

Die Prüfung habe ich ein Jahr später nachgemacht und bin nach Frankfurt gezogen. Ich habe einen Neuanfang gewollt und bin froh, Robin kennengelernt zu haben. Er ist ganz anders als Justin, sehr spontan und offen und ich habe das Gefühl, ihm wichtiger zu sein als alles andere.
Meine Schwester ist heute wieder vollkommen gesund, die eigentlichen Opfer dieses Unfalls sind ich und Justin. Mittlerweile bin ich mir im Klaren darüber, dass ich damals etwas übertrieben und Justin es nicht böse gemeint hat, doch das ändert nichts an meinen derzeitigen Gefühlen. All den Schmerz... ich habe ihn in Hamburg gelassen, als ich damals schweren Herzens in den Zug gestiegen bin. Auch wenn er morgen wieder vor mir steht, mit all seinem Witz und Charme, so bleibt er letztenendes doch nur eine verblasste Erinnerung. Da ist nichts mehr, denke ich... Mit Robin bin ich glücklich und damit hat sich's. Punkt.

Ich steige aus der Wanne und streife mir meinen Bademantel um. Die kalten Fliesen holen mich in die Realität zurück. Also gut, morgen ist es so weit. Der Prozess erreicht seinen Höhepunkt, meine letzte Chance, Katias Unschuld zu beweisen. Beweise... ich habe leider keine neuen finden können. Mithilfe des Autopsieberichtes und dem Überwachungsvideo bin ich zwar in der lage gewesen, die Verhandlung noch hinauszögern zu können, aber... zweiteres Beweismittel habe ich heute selbst entwertet. Somit bleibt mir kaum mehr etwas, womit ich auch nur ansatzweise eine vernünftige Strategie ausarbeiten könnte. Verdammt... ich habe wohl keine andere Wahl, als das beste aus dem morgigen Prozess zu machen. Robin hat recht: irgendwie bekomme ich das schon auf die Reihe. Für Katia. Für Luna. Für die Gerechtigkeit. Oh, und für Ervnet natürlich...
 



 
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