Unvergessen - Kapitel 16: Ein racherfülltes Herz

Kunstbanause

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"Ich denke nicht, dass er das gewollt hätte."
"Ach was." Robins Blick ist voll Verachtung, noch nie zuvor hat er mich so angesehen. "Glaubst du, er hätte sich von diesem Penner verkrüppeln lassen wollen oder wie?"
"Nein, natürlich nicht, aber Chris wusste, dass Dr. Neverknows Tod ihn nicht geheilt-"
Empört hämmert er auf den Schreibtisch zu seiner rechten. "Du hast doch keine Ahnung! Du musstest das alles nicht durchmachen! Es war heilsam für meine Seele, ihn sterben zu sehen!"

"Ach wirklich? Und warum bist du dann immer noch unzufrieden?" Ich weiß nicht woher, doch ich fasse nun etwas Mut. Langsam schreite ich auf ihn zu. "Ich kann deine Beweggründe schon nachvollziehen, aber Dr. Neverknows Tod ändert gar nichts. Er hat nur noch mehr Menschen ins Unglück gestürzt. Katia verliert ihren Mann und Luna muss hilflos mitansehen, wie ihre Schwester unschuldig ins Gefängnis wandert." Die Hände an meine Hüfte gelegt, bleibe ich vor ihm stehen. "Hast du auch mal eine Sekunde an das Leid der Hinterbliebenen gedacht?", schreie ich. "Auch ihr Leben ist nun zerstört und macht es das besser? Nein!" Robins Miene verfinstert sich, frustriert beißt er sich auf die Unterlippe. "Ich habe stets daran geglaubt, dass du auf meiner Seite wärst, Yuri... Ich dachte du verstehst mich!", quengelt er mit rauer Stimme.
"Das war ich auch immer", ich falte die Hände vor meiner Brust, "a-aber das hier... das geht eindeutig zu weit, Robin! Du hast nicht nur einen Mord begangen, sondern ihn auch noch auf jemanden anderen geschoben! Du... du hättest Lunas Augen sehen müssen, als ihre Schwester verurteilt wurde..." Ich rufe mir ihren Gesichtsausdruck in Erinnerung. "Sie waren voller Verzweiflung, so leer und trüb... Dieses unschuldige Mädchen war totunglücklich! Das kann ich dir nicht verzeihen, niemals."

Gleichgültig zuckt er mit den Schultern und wendet sich von mir ab. "Schön, ist mir doch egal." Mein Herz blutet, dieser Mann vor mir kann unmöglich mein Freund sein...!
"Nein Robin, das ist es nicht. Ich weiß, dass du nicht so bist, dass du in Wahrheit, hier und jetzt, Reue verspürst." Behutsam lege ich meine Hand auf seine Schulter. "Ich kenne dich... du bist nicht kaltherzig, du stehst für deine Fehler gerade. Also bitte, tu' das einzig Richtige, was dir noch bleibt und stelle dich der Polizei." Robin macht sich von mir los und dreht sich wutentbrannt um.
"Pah, einen Scheiß werde ich." Sein sonst so verführerisches Gesicht hat einen derart irren Ausdruck angenommen, dass ich einen Schritt zurück weiche. "Dieser Mistkerl hat meinen Bruder in den Tot getrieben und kam ohne Strafe davon. Und von mir verlangt du ernsthaft, mich zu stellen?"
"J-Ja, andernfalls wärst du nicht besser als Dr. Neverknow. Katia und Luna haben es mehr als verdient. Bitte Robin!"
"Auf keinen Fall."
"Ist das dein letztes Wort?"
"Ja, du kannst nichts an meinem Entschluss ändern." Ich schließe meine Augen und atme einmal tief durch. "Dann lässt du mir keine andere Wahl. Ich werde zur Polizei gehen." Auf seiner Stirn bilden sich Zornfalten. "Das wirst du nicht."
"Gib mir den Schlüssel."
"Setz dich wieder hin!"
"Du solltest eigentlich wissen, dass ich mir keine Befehle erteilen lasse. Wie sieht dein Plan aus Robin? Du kannst mich nämlich nicht daran hindern, eine Aussage zu machen. Die Wahrheit wird so oder so ans Licht kommen." Plötzlich lockert sich seine Miene. Ob er seinen Fehler wohl einsieht?
"Es tut mir leid...", seufzt er, den Blick auf die Dielen fixiert.
Vorsichtig trete ich an ihn heran. "Was tut dir leid?"
"Hach... Ich war mir so sicher, du würdest meine Gefühle verstehen. Von allen Menschen auf dieser Welt habe ich dir das meiste Vertrauen beigemessen, ich dachte wirklich du wärst auf meiner Seite. Yuri... es tut mir Leid." Seine blauen Augen sehen mich anklagend an. "Es ist mein Fehler, ich hätte deine Reaktion vorausahnen müssen. Ich... ich hätte dir niemals davon erzählen sollen, dann gäbe es", Robin zückt aus seiner Hosentasche ein kleines Taschenmesser, "jetzt auch eine andere Lösung."

Ich erschaudere. W-Was soll das? Eine unerträgliche Hitze breitet sich in meinem Körper aus. "Robin, was... was zum Teufel tust du da...? Ist das dein verdammter ernst!?" Mir bleibt die Spucke weg.
"Sorry, Yuri." Mit tristem leerem Blick geht er langsam auf mich zu. "Ich hätte mir auch gewünscht, das anders regeln zu können. Aber du lässt mir keine Wahl. Ich werde nicht ins Gefängnis gehen, nicht für diesen Mann." Sofort renne ich zur nächstgelegenen Wand und schaffe etwas Abstand, doch Robin behält mich ruhig im Auge. Herzflattern und Schwindel überkommen mich, zudem heitzt sich mein Kopf immer mehr auf.
"Komm schon Robin! Wir wissen beide, dass du das nicht bist! Du bist kein Mörder!"
"Ach ja?", er zieht eine Schnute wie ein Kleinkind, "Du hast wohl vergessen, dass ich Dr. Neverknow ermordet habe." Er ist verrückt, Yuri. Du musst schleunigst weg von hier... Mehr Gedanken kann ich momentan nicht erübrigen.
"Nein, das habe ich nicht." Ich laufe langsam rückwärts, Richtung Treppe. "Aber das warst nicht du. Dein Blick auf die Welt war getrübt, durch Rache, doch in Wahrheit bist du reinen Herzens. Denk' doch mal an Chris! Du hast alles für ihn getan!" Robin hält geschockt inne und starrt ins Nichts. "Chris...", murmelt er geistesabwesend. Jetzt!

Sofort renne ich die Treppe hinauf. Von unten höre ich Robin panisch aufschreien, doch es bleibt keine Zeit sich umzudrehen. Im Wohnzimmer mache ich kurz halt und sehe mich um, auf dem Esstisch am anderen Ende des Raumes liegt mein Handy. Mist, das wäre eine Sackgasse!
Mein Puls rast, ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Der nächste Raum links von mir ist Robins Werkzeugzimmer, ich stürme hinein. Als ich mich umdrehe, um die Tür zu schließen, erblicke ich Robin auf der obersten Treppenstufe. Unsere Blicke treffen sich, er wirkt vollkommen wutentbrannt und stampft, das Messer erhoben, auf mich zu.
Rasch knalle die Tür zu und verriegle sie, erschöpft sinke ich auf den kalten Holzboden. "M-Mach sofort die Tür auf!" Er hämmert gegen das Holz.
Ohne Pause trommelt mir mein Herz in den Ohren, unfähig zu glauben, was hier gerade passiert. Verzweifelt sehe ich mich um.
Der Werkraum besitzt nur ein Fenster, groß genug um hinauszuklettern, jedoch befinde ich mich im ersten Stock. Bestenfalls würde ich mir nach der Landung auf dem Asphalt etwas brechen und Robin mich einholen. Es ist zu riskant.
Plötzlich raschelt es an der Tür, geschockt springe ich auf und haste zum anderen Ende des Raumes. Der Schlüssel wird aus dem Loch geschoben und fällt klimpernd zu Boden, auf der anderen Seite hören ich Robins dumpfes Lachen.
"Ich habe einen Ersatzschlüssel für meinen Werkraum!"

Meine Atemfrequenz erhöht sich drastisch. Was nun!? Panisch schaue ich mich um. An den Wänden lehnen Deckenhohe Stahlregale mit allerlei Werkzeugen und Bauteilen, doch damit weiß ich nichts anzufangen, nichts womit ich mich verteidigen könnte.
Die Tür fliegt auf und kracht laut gegen den Werkzeugtisch dahinter, ein Foto von Chris darauf fällt um. Was nun geschieht würde wohl niemand freiwillig mitansehen.
Schritt für Schritt, mit einem irren und zugleich tieftraurigen Gesichtsausdruck, läuft Robin auf mich zu. "Jetzt mach es mir doch nicht so schwer, Yuri. B-Bringen wir es hinter uns", klagt er unsicher. Vor Anspannung bin ich kaum noch in der Lage, mich auf den Beinen zu halten, er ist nur noch zwei Meter von mir entfernt. Ah! Ich habe eine Idee!
Mit all meiner Kraft ziehe ich am Werkzeugregal zu meiner rechten, Robin schreckt auf. Es wackelt bedrohlich, Schrauben, Muttern und zahlreiche andere Teile fallen klirrend auf den Holzboden. Doch die Stahlkonstruktion bleibt stillschweigend stehen. Mein Kopf droht zu überhitzen, während mir nasskalter Schweiß den Rücken hinunter strömt. Auch das noch!
Robin schaut mit leicht überraschter Miene auf die Teile am Boden, grinsend hebt er seinen Kopf. "Netter Versuch, aber das ist festgenagelt. Also dann..." Er hebt das Messer.
Mir schießen tausend Gedanken durch den Kopf. Eine vollkommen erschöpfte Katia hinter Gittern, Lunas verzweifeltes Gesicht im Gerichtssaal, Robins kristallblaue Augen, als ich ihn das erste mal in der Stadt treffe...
Ich habe versagt. Wegen mir sind all diese Menschen unglücklich, vielleicht muss es so kommen. Ja, womöglich habe ich diesen Tod sogar verdient. Und dann sehe ich noch Justin, wie immer mit einem Lutscher im Mund. Auch ihn habe ich verletzt...
"Tut mir leid", Tränen rinnen über Robins zitterndes angstvolles Gesicht, "wir... wir sehen uns dann... im Jenseits."
Er sticht zu. Ich stoße einen letzten Schrei aus. Dann hält er mit leerem Blick inne, nach einem Schlag auf den Hinterkopf geht er vorn über zu Boden. Entgeistert blicke ich zum Eingang: Justin ist wirklich hier.
 



 
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