Vater (gelöscht)

L

label

Gast
Liebe Presque

Das Lyri will sich aus der bestimmenden Definition des Vaters lösen, ohne die innige Verbindung zu zerstören.
[blue]Das Brennen auf der Haut das brannt‘ sich ein[/blue] Hier rekapituliert das Lyri, die Schamröte, aber auch das Schamempfinden das vom Vater zu bestimmten Dingen fest verankert wurde.
Das Lyri fühlte sich in seiner Haut nicht wohl, und wäre gerne in den Häuten von den verschiedenen! Vorbildern gewesen.
[blue]Du wolltest in mir viel zu vieles sein [/blue]
Hier erkennt das Lyri, dass auch der Vater all diese vorbildlichen Eigenschaften nicht selbst besitzt, sondern dass er einen Menschen formen will, der seine eigenen Mängel ausgleicht.
Das Lyri hat viele Sollzustände eingepflanzt bekommen und fühlt sich an dieser Messlatte unzureichend und klein.
Das Lyri sieht den Schmerz des Vaters, ist mitfühlend, fühlt dadurch wieder den kindlichen Schmerz, das Schuldgefühl kommt auch, deshalb glaubt das Lyri dass der väterliche Schmerz durch Versagen des Lyris zustande gekommen sei.
In diesem Mitgefühl verhaftet, will es sogar seinen eigenen "Schutz" die Haut opfern, die der Vater offenbar nicht mehr hat. Das Lyri will nicht nur seine eigenen, sondern auch die Unzulänglichkeiten des Vaters sühnen, fragt aber sich und den Vater ob er diesen Zustand wirklich nur des Lyris wegen habe.
[blue]Ich lerne doch noch immer wie man heißt [/blue]
Hier bittet das Lyri den Vater um Verständnis, dass es erwachsen geworden ist und sich nicht mehr nur in der Vatervorstellung aufhalten kann.

Ein im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehendes Gedicht, das den Ablösungsprozess von kindlichen Prägungen beschreibt. Die noch unsicheren Schritte ins Selbst-sein erfolgen mit einfühlbarer Wortgewaltigkeit.
Auch ein zum Thema Erbsünde, oder "die Sünden der Väter" nachdenklich machendes Gedicht.

nachdenkend
label
 

presque_rien

Mitglied
Liebe label,

vielen Dank für deine Analyse! Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du dich überhaupt als Einzige an dieses Gedicht herangetraut hast (aber ich habe schon damit gerechnet, dass das hier kein Lupenhit wird, obwohl ich persönlich das Gedicht sehr gelungen finde). Hoffentlich bist du nicht böse, wenn ich nicht näheres zu deiner Interpretation sagen möchtest, du hast vieles richtig gesehen, anderes hingegen auch nicht, aber alles was ich zu diesem Thema sagen möchte ist schon im Gedicht ausgedrückt. Dennoch habe ich mich wirklich sehr über deine Antwort gefreut! :)

Lg presque

PS.: Den vorletzten Vers habe ich auf deinen Kommentar hin geändert, denn ich will, dass er als Bitte klingt.
 
L

label

Gast
Liebe Presque,

ja, ein schweres, sehr schweres Thema, eines das einem erst mal ein bisschen die Luft nimmt und überdies mit der Intensität der Bilder und Gefühle auch noch betäubt.
Dein Gedicht ist ein Erlebnis.
Ich habe einige Anläufe gebraucht, bis ich den Kopf soweit frei hatte um denken zu können.

Die Bilder und Gefühle die dein Gedicht bei mir hervorrief habe ich versucht zu verarbeiten, denn einige holten alte Erinnerungen hoch. Gut möglich, dass ich da nicht Zusammengehörendes vermengt habe und mich damit vom Inhalt deines Gedichtes entfernt habe.

Das wird wahrscheinlich auch anderen so gehen - mit deinem Gedicht bricht ein Gefühlssturm über einen herein und das will erst sortiert werden.
Dass du das Ganze überdies in eine für mich makellose Gedichtform gegossen hast hatte ich nicht gesondert erwähnt - das hüpft einem ja entgegen - sondern in Form von Punkten zum Ausdruck gebracht. Für mich zählt dieses Gedicht mit zum Besten was ich je in der Leselupe gelesen habe.

label
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Julia,

noch ist die Zeit für eine Enttäuschung nicht gekommen, das lese ich aus Deinem Text heraus.

"Sieh bitte dich darin um meinetwillen." Das Lyri bittet den Vater, sich in das Lyri klarer hineinzudenken und die Zeitspanne mit zu bedenken, die es braucht, bis man über jemanden sagen kann, er sei dieser oder jener geworden, denn jeder ist allezeit ein Werdender und auch der Vater hat dieselbe Chance ein Werdender zu bleiben in seiner Beziehung zu seinem Kind, indem er mit dem Kind mitwächst und mitvollzieht, dass das Kind ein Wachsendes bleibt.

Mögen da auch zeitweilig Erwartungen nicht erfüllt werden, worunter der Vater dann leidet und auch das heranwachsende Kind leidet, weil es die Erwartungen gerne erfüllen würde, aber der eigentliche Grund, auf dem diese von Dir beschriebene Vater-Kind-Beziehung steht, bleibt immer erhalten: die Liebe zwischen beiden, die sich auch immer wieder in gegenseitigem Verstehen eine Bahn bricht.

"Sind wir nicht beide mehr als rote Grütze?" in diesem wunderbar profan gewählten Satz ist es enthalten. Uns kann nichts auseinanderbringen, denn wir werden alles mit dem, was jedem von uns eigen ist durchdringen und uns dadurch immer wieder finden.

So lese ich Deinen Text, liebe Julia. Für die Empfindungen hast du, nach meinem Geschmack, angenehm nüchterne Worte gefunden.

Ein Text, der die Zeiten überdauern könnte. Das findet man so selten verdichtet, die Liebe inmitten aller Schwierigkeiten und vorübergehender Missverständnisse.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

viktor

Mitglied
liebe pr,
da denk ich spontan an die probleme, die meine drei schwestern früher mit meinem vater hatten.
mich als sohn hat das sehr belastet, weil m.m.n. meine schwestern den vater nur nach ihrer eigenen wahrnehmung interpretiert haben.
vom sprachlichen her ist der text gut gelungen - wie nicht anders zu erwarten...
"nur nicht allein in meinem leibe sein..." fände ich wohlklingender.
liebe grüße
viktor
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Vera-Lena, lieber Viktor, liebe label,

ich danke euch sehr für Eure Kommentare und möchte mich entschuldigen, dass ich erst jetzt antworte. Schön, dass euch dieser Text etwas sagt und Erinnerungen wachruft. Ich hatte sehr gehofft, dass der Text nicht als Betroffenheitslyrik empfunden wird, sondern allgemein genug bleibt, um Grundsätzliches über eine Eltern-Kind-Beziehung auszusagen. Für mich ist das die schwierigste aller möglichen Beziehungen, sowohl im Sinne von "komplexeste", als auch im Sinne von "nervenaufreibendste". Ich wollte die beiden Grundkomponenten dieser Beziehung in der Sonettform darstellen: Einerseits die Vorwürfe, die unweigerlich zum einen oder anderen Zeipunkt von Seiten des Kindes kommen, das Verantwortlich-Machen für das eigene Schicksal; und andererseits die Liebe und emotionale Abhängigkeit von den Eltern, das Sich-Verantwortlich-Fühlen für das Befinden der Eltern. Und auch - das hat Vera-Lena genau richtig gesehen - das Wechselspiel zwischen der Bindung der Selbstdefinition an die Eltern, der Identifizierung mit den Eltern, und der Hoffnung, dass sich die Eltern durch einen selbst ändern.

Zu Vers 4: Viktor hat Recht, dieser Vers könnte eleganter formuliert werden. Aber ich wollte hier mit der sukzessiven Anreicherung von Bedeutung spielen, die ich vor Kurzem in Shakespeare-Sonetten sehr bewundert habe:
Nur [blue]bleiben[/blue] nicht
hat eine andere Bedeutung als
Nur bleiben nicht [blue]in diesem Leib[/blue]
hat eine andere Beeutung als
Nur bleiben nicht in diesem Leib [blue]allein[/blue]
Ähnlich auch in:
Mich lösen / mich zerteilen / unter Leuten
und
Ich fühle deinen Schmerz / kann ich nicht stillen
Nochmals vielen Dank für Euer Lob! Es hat mir sehr gut getan :)

Lg presque

P.S.: Noch etwas zur Form: Ich finde, bei Themen wie diesem wird ein weiterer Vorteil der festen Form deutlich: Sehr emotionale Inhalte brauchen einen starken, unbeugsamen Käfig, damit man sich ihnen nähern kann.
 



 
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