Vereintes Land

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xrotbartx

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Samstagnachmittag. Endlich war wieder einmal Zeit, nach den Rindern zu sehen. Franks Pferd schritt gemächlich den staubigen Weg entlang, den Pferde, Rinder und Menschen mit ihren Hunden durch die Wiesen getreten hatten. Er dachte an seinen Traum: Weites, beinahe unerforschtes Land. Und nun – der Osten.
Am Koppelzaun brachte er den Braunen zum Stehen. Frank stieg ab und wickelte die Zügel um einen Pfosten. Dann schob er seinen Strohhut ins Genick und blinzelte für einen Augenblick in die Mittagssonne.
Fast vierzig Grad. Seit wann hat es nicht mehr geregnet? Sechs Wochen? Acht? Und wir haben erst Mitte August.
Eine kleine Windhose nahm den Staub des Weges auf und wirbelte ihn durcheinander. Ein paar Hundert Meter entfernt weidete friedlich eine Rinderherde. Es waren nicht viele, höchstens fünfzig Tiere – Kühe, Kälber und Bullen bunt gemischt. Ihre Leiber dampften, dass er es bis hierher riechen konnte.
Viele Rinderherden werden wohl nicht über den Winter kommen. Das Futter wird immer knapper, jetzt schon.
Frank schlug nach einer Bremse und krempelte die Hemdsärmel herunter. Dann bückte er sich, strich mit der Hand über die trocknen Grashalme und riss einige ab. Die Halme raschelten, als er sie zwischen den Fingern hin und her rollte. Und als er versuchte, sie ein wenig zu biegen, brachen sie.
Diese verdammte Dürre!
Er schwang die Beine auf den Holzbalken des Koppelzauns und setzte hinüber. Ohne Eile schlenderte er auf die Rinder zu. Ein besonders großer Bulle kam ihm entgegen, ohne die leiseste Spur von Misstrauen oder Furcht erkennen zu lassen. Dicht vor Frank blieb er stehen und senkte den Kopf.
„Ah, Sam, mein Guter“, sagte Frank mit sanfter Stimme und kraulte das Tier liebevoll zwischen den Hörnern. „Wie geht es dir heute? Hast du noch genug zu fressen gefunden?“ Es kam nicht darauf an, was er sagte, aber Sam wartete auf die kosende Stimme und stupste mit dem Maul, wenn Frank schwieg. Sam ließ sein tiefes „Muh“ hören und peitschte mit dem Schwanz nach den Fliegen. Nun näherten sich langsam kauend weitere Fleischberge. Sams riesiger Kopf mit den gefährlichen Hörnern schob von hinten.
„Hoho, Eifersucht ist doch was für Mädchen. Gib Ruhe jetzt.“ Seine Stimme blieb ruhig und doch war er sich bewusst, dass Sams Stimmung mitunter recht schnell kippte. Er wandte sich wieder dem Bullen zu, ergriff das Horn, das ihm am nächsten war, und stemmte sich dagegen. Dabei beobachtete er aufmerksam die Herde, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Keins der Tiere, die er überblicken konnte, zeigte irgendwelche Auffälligkeiten. Die Kälber sahen gesund aus. Sie standen mit ihren Müttern am weitesten weg. Sie waren vorsichtig.

Kaum war Frank mit seiner Musterung am Ende, hörte er vom Weg her das Klappern von Pferdegeschirr und das Rumpeln des Wasserwagens.
In die Herde kam Bewegung. Er ließ Sam los und ging zum Zaun hinüber. Dort wartete er, bis der alte Paul heran war, einen weiten Bogen fuhr und die beiden schweren Kaltblüter mit einem „Ho-oh“ anhalten ließ.
„Ho-oh Paul, heißer Tag heute“, rief Frank ihm zu. Er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde. Es gab Tage und Wochen, an denen ihn niemand etwas sagen hörte – von „Ho-oh“ oder „Hey“ einmal abgesehen.
Paul schlang die Zügel um den Knauf und stieg ab. Ohne Frank überhaupt eines Blickes zu würdigen, ging er zum Koppelzaun, ergriff das lange Eisenrohr, das halb im Wassertrog lag, und zog das eine Ende bis zum Tank, der dem einer kleinen Dampflok nicht unähnlich war. Kaum hatte der Alte das Rohrende am Tank festgemacht, dreht er an dem gusseisernen Rad und das Wasser begann zu fließen. Die Rinder drängten sich um den Trog.
Frank hatte sich kurz die Pferde angeschaut, die in einem ausgezeichneten Zustand waren, und lehnte nun lässig an der Seitenwand des Karrens. Paul drehte sich zu ihm um und schaute ihn an, als würde er ihn jetzt erst bemerken.
„Doc, sagen Se mal, Se komm’ doch aus’m Westen – stimmt’s?“, fragte er plötzlich. Frank wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte, so verblüfft war er von Pauls Worten. Hatte Paul wirklich gesprochen?
„Was gucken’s wie de Kuh bei Mondschein? Kommen’s nu aus dem Westen?“ Auf Pauls Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Also nickte Frank, gespannt darauf, was nun kommen würde.
„Gibt’s dort noch Indianer?“ Frank stand verdutzt da und sagte kein Wort. „Ich hab jehört, se sind ausjestorben, stimmt datt?“
Frank räusperte sich. „Also, ja, Indianer gibt es wohl noch …“ Frank unterbrach sich, als er Pauls breites Grinsen sah und wie er sich belustigt auf die Schenkel schlug. Verstört und ein kleines bisschen verletzt stieß er sich von dem Wagen ab und half dem Alten, das Wasserrohr wieder zurückzuschieben. Paul griente dabei unaufhörlich, hin und wieder stieg ein Glucksen aus seiner Kehle.
Paul ging mit schlurfendem Schritt zurück zum Wagen. Als er ihn erreichte, drehte er sich noch einmal um. „Hey Doc, war’n Scherz, ja? Nehm’Se es einem alten Mann nich übel. Hab ja sonst nischt vom Leben.“
Paul kam noch einmal zurück und klopfte Frank auf die Schulter, wie er es wohl auch bei seinen Pferden tat.
„Okay?“, fragte er und schaute nun ernst unter seinem Basekap hervor. Frank nickte zögernd und Pauls Gesicht hellte sich wieder auf. Dann stieg er auf den Kutschbock, stieß ein trällerndes „Hey“ aus und der Karren fuhr mit lautem Rumpeln davon.

Als Frank am Abend den Hühnerstall zusperrte, klingelte das Telefon im Haus. Fluchend zog er die Gummistiefel aus und sprintete hinein.
„Hm – was gibt’s denn?“, fragte er in die Sprechmuschel.
„Ja, hier is Paul. Doc, wie is, woll’n wir nich ein Bier zusammen trinken? Komm’ Se rüber?“
Frank, der Pauls so genannten Witz vom Mittag nicht vergessen hatte, zögerte einen Moment.
Ach, Blödsinn, er hat’s nicht so gemeint.
„Ja, gut, ich komme gern.“

Das dritte Bier, der dritte Kräuter (man will schließlich gesund leben). Das Fernsehgerät lief. Beide starrten auf den Bildschirm:
„Der Osten Deutschlands könnte künftig verstärkt von Dürreperioden bedroht werden. Das leiten Klimaforscher aus der derzeitigen Tendenz der Niederschlagsentwicklung ab. Vor allem im Sommer würden Niederschläge immer seltener, sagte …“
Paul und Frank hoben ihre Gläser, schauten sich an und sagten wie aus einem Mund: „Scheiße!“, und Paul fügte hinzu: „Wir müssn de dämlichen Entwässerungsgräben bei de Weiden wieder zuschippen. Et jibt nischt mehr zu entwässern.“ Sie nickten und tranken ihre Gläser aus.

©Harald Hillebrand (April 2005)
 

herb

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hallo Harald,

das ist sauber geschrieben, die ganze Situation kommt glaubhaft rüber, grins, als wäre der Osten irgendwo im Wilden Westen,
ich habs gern gelesen, danke

Gruß
herb
 



 
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