Vor dem roten Vorhang

Vor dem roten Vorhang

Menschen voller Erwartung.
Gerade erklingt die Ouvertüre.
Die meisten wissen, was auf sie zukommt.
Liebe, Hass, Eifersucht.

Der Herr rechts neben mir denkt vielleicht an eine frühe Carmen, die ihm nicht beschieden war. Die Nachbarin an seiner Seite ahnt wohl, was ihn bewegt. Beide haben ihre Oper möglicherweise bald hinter sich. Bis auf den letzten, den wichtigsten Akt, könnten sie hier ihr eigenes Drama vorführen … Werden sie mit einander alt werden?
Vielleicht wird die Frau in Kürze ein Pflegefall, dem er besser aus dem Weg geht – zusammen mit einer neuen Geliebten?

Vor mir, der Kahlköpfige und sein Nachbar, vielleicht zwei Un-Täter der übelsten Sorte?
Der eine ein Verbrecher mit amtlich geprüfter weißer Weste? Der andere einer, der durch bloßes Nichthandeln Menschen unglücklich gemacht hat?

Und mein Nachbar zur Linken? Denkt er gerade über sein verfehltes Leben nach, über Versagensängste als Ursache seines ständigen Scheiterns?

Wie viel Missetäter, Unterlassungssünder und andere Gepäckträger sind wohl im Saal versammelt, wie viel stumme Dramatik und Lebenslüge?

Da öffnet sich der Vorhang. Bühne frei für fiktives Geschehen. Aufschub für ein paar Stunden. Morgen ist wieder Probe, eine Bewährungsprobe - für alle.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Lieber Eberhard,

der Text hat mir sehr gefallen: kurz, witzig, wesentlich. Auf den Punkt gebracht die Scheinheiligkeit und Widersprüchlichkeit kultureller Highlights resp. der bürgerlichen Kultur resp. unserer Gesellschaft...

P.
 



 
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