Wahrnehmung begreifen

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Paloma

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Wahrnehmung begreifen

Neulich ging ich abends unter Linden spazieren, als ein Lichtschein mir vorwitzig vor die Füße fiel. Er schien mich einzuladen und so folgte ich seiner Spur. Vor einem Hauseingang, aus dem Stimmengewirr zu mir herausdrang, las ich ein Schild: Vernissage.
Einen Moment zögernd überlegte ich, ob es mir wohl gestattet sei einzutreten, schließlich hatte ich von dieser Art Kunst nicht die geringste Ahnung. Aber prädestinierte mich nicht gerade das? Ich würde ohne Kenntnisse der Farblehre, Perspektive oder Firnis vollkommen unvoreingenommen die Werke des Künstlers auf mich wirken lassen.
So, in leichte Selbstzweifel verstrickt, betrat ich den diffus beleuchteten Raum. Hier und da hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die mehr oder weniger laut in Gesprächen vertieft waren. Vor den Bildern, die akkurat ausgerichtet an den Wänden hingen, standen Menschen, die still in Betrachtung versunken waren. Gerade wurde einer der Anschauplätze frei und ich traute mich vor das, wie mir schien, größte Machwerk des Malers. Doch ich sah, in güldenen Rahmen gepackt … nichts! Wie ich mich auch bog, bückte, auf die Zehen stieg, es wollte sich mir nichts zeigen außer eine allumfassende Leere. Ich nahm die Brille ab, rieb sie blank, aber auch ein Blick durchs geputzte Glas brachte mir keine neue Erkenntnis. Hatte mein Sehvermögen gelitten oder war sogar meine Wahrnehmung gestört?
Ich überlegte. Sollte die sich mir zeigende Körperlosigkeit mit einem Duft versehen sein? Ein Seitenblick nach rechts und einer nach links, ich schien unbeobachtet, also nah an das Ausstellungsstück und unauffällig aber intensiv geschnüffelt. Aber auch da, nichts! Hm ... meine Verzweiflung wuchs. Sollte? Nein, das war zu verwegen … oder doch? Mittlerweile war mir das restliche Publikum egal, ich beugte mich vor und zog meine Zunge schwungvoll einmal quer über die weiße Front. Irgendwie musste diesem Kunstwerk doch eine Aussage zu entlocken sein. Ich schmeckte weiße Wandfarbe, die sich unangenehm krümelnd in meinem Mund breitmachte, und spürte gleichzeitig einen heftigen Schlag zwischen den Schulterblättern. Der Blick des Künstlers hatte mich getroffen.
Schmerzgekrümmt drehte ich mich um und da ... sah ich ihn.
Er stand hochgereckt und blondgelockt auf einem Podest in der Mitte des Raumes, unter gleißendem Spot, umringt von zwei, drei Personen, die ihm zu Füßen lagen und seinen Sätzen folgten, die wohl strukturiert, mal scharf, mal schmeichelnd seinen Mund verließen. Er unterbrach kurz seine blumige Rede, indem er mir quer durch den Saal zurief: „Du bist wohl blind?“
Nein, dachte ich schweigend, mich darüber wundernd, dass die Schar seiner Anhänger den Jetpack auf seinem Rücken offensichtlich nicht bemerkten.

Das ist eine Persiflage, den Originaltext findet ihr hier:
http://www.leselupe.de/lw/titel-Kunst-begreifen-119117.htm
 

Paloma

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Guten Morgen Zeder,

deine Anregung habe ich gerne aufgenommen, einen kleinen blonden Satz eingefügt und den Link zum Original gesetzt.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass der Autor Humor beweist, und über diese kleine Geschichte zumindest lächeln kann. Immerhin kann man eine Persiflage nur schreiben, wenn der Originaltext das zulässt/hergibt.

Ich werde den Text sowieso demnächst löschen, wollte das aber nicht tun, solange der Balken rot war, das sieht so nach „kneifen“ aus. ;)

Liebe Grüße
Paloma
 

Charybdis

Mitglied
Wenn eine Kunstgalerie teure grau bemalte Leinwände aufkauft und dies zu Kunst erklärt, so heißt das noch lange nicht, dass jeder, der dies als Unsinn empfindet, nicht kunstsinnig ist.

Manchmal ist es überaus heilsam, Schrott auch als solchen zu bezeichnen, selbst wenn er viel Geld wert ist.

Es ist wie mit dem Orgelkonzert nach John Cage in Halberstadt, wo ein armes Gebäude sage und schreibe 639 Jahre mit monate- oder sogar jahrelang anhaltenden Tönen malträtiert wird. Anhänger dieser Performance mögen mir Ignoranz vorwerfen: Ich finde es einfach bescheuert (wie so manches von John Cage).

Muss ich also graue Leinwände gut finden? Nein, muss ich nicht. Und deshalb finde ich es witzig, wenn sich hier jemand über derartig "kunstsinnige" Leute in einer Geschichte über ein leeres Bild lustig macht.
 



 
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