Was ich lese und gelesen habe

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petrasmiles

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IV Krimis
2. Robert Galbraith, Böses Blut

Robert Galbraith ist ein Pseudonym von J. K. Rowling, die nach ihren Harry Potter Romanen und diesem grandiosen Erfolg das Schreiben nicht bleiben lassen wollte.

Böses Blut (Random House, Blanvalet 2020) ist der fünfte Band mit dem Ermittler Duo Cormoran Strike und Robin Ellacott, die von London aus Verbrechen aufklären.
Da die Ermittler eine stetige Entwicklung erfahren und auch Rückblenden aus ihrer persönlichen Geschichte gemacht werden, empfiehlt es sich, bei dem ersten Fall anzufangen.

Das sind: 1. Der Ruf des Kuckucks 2. Der Seidenspinner 3.Die Ernte des Bösen 4. Weißer Tod.

Alle Bände sind gemütlich dick, aber der fünfte Band sprengt alle Vorgänger: stolze 1189 Seiten. Eigentlich eine Zumutung für einen Krimi dachte ich zunächst, vor allem, weil meine Urlaubsbüchertasche prall gefüllt war und neben Lesen ja auch noch andere Aktivitäten den Urlaub ausmachen. Der Roman kostete mich zwei Wochen Lesezeit – aber die war er wert!

Mittlerweile ist Robin Ellacott (R.E.) Partnerin von Cormoran Strikes (C.S.) Agentur, die sich einiger Berühmtheit erfreut; sie haben eine Reihe von Mitarbeitern, die auch gut ausgelastet sind.
Eines Tages wird C.S. von einer Frau angesprochen. Als sie selbst noch ein Baby war, verschwand ihre Mutter spurlos vor fast vierzig Jahren, und die Unkenntnis über ihr Schicksal wirft immer noch einen Schatten auf ihr Leben.
Um deren Verschwinden herum gab es einen Serienmörder, der damals zwar gefasst worden war, aber als Psychopath keine Angaben dazu machte, ob neben den Frauen, die man ihm aufgrund der Spuren nachweisen konnte, noch andere von ihm ermordet worden waren. C.S. übernimmt diesen Fall und es ist faszinierend zu erfahren, wie man sich einer solchen Aufgabe quasi bei 0 nähert.

Der damalige polizeiliche Ermittler – mittlerweile verstorben – war sich sicher, dass dieser Serientäter auch für den Mord an der Mutter verantwortlich war – was seinen Ermittlungsradius eingeschränkt hatte. Zudem erkrankte er ernsthaft und steigerte sich in einen Wahn, den Fall mittels Astrologie und Tarot lösen zu können. Er wurde dann abgelöst, aber sein Nachfolger kam auch nicht weiter.
Die erste Hürde war, an die damaligen Ermittlungsakten zu kommen und die relevanten Kontakte zu ermitteln. Das Tableau an Personen ist relativ übersichtlich: Der Ehemann; eine Kinderfrau, die dann die zweite Gattin wurde; Arbeitskollegen aus einer ärztlichen Praxis nebst Hilfspersonal, teilweise deren Anhang; eine beste Freundin; ein Ex-Lover – und eben der Serienmörder.
Man erfährt von der Fährtensuche, wohnt den Interviews bei. Nebenbei wird auch noch von der Arbeit an den anderen Fällen berichtet. Das alles erscheint sehr lebensecht.

Daneben geht es auch um die Geschichte der beiden Protagonisten. C.S., der die Frucht eines Hippie-Groupies mit einem Rockstar ist, und vor dem Leben mit seiner unsteten Mutter von deren Schwester ‚gerettet’ wurde, die ihn und seine Schwester von einem anderen Vater, mit ihrem Mann in Cornwall aufnimmt und einen geregelten Schulbesuch ermöglicht. Diese Tante erkrankt in diesem Band und stirbt am Ende – was einen besonderen Schatten auf die Ermittlungen wirft.

R.E. steckt mitten in der Scheidung von ihrer Sandkastenliebe. Sie war als Studentin vergewaltigt worden und brach daraufhin ihr Studium ab und arbeitete später in London bei einer Zeitarbeitsfirma, von wo aus sie im ersten Band zur Mitarbeiterin von C.S. wurde. Zu der Zeit dümpelte die Agentur vor sich hin. C.S. war in einer zermürbenden On-Off Beziehung involviert, zudem belastete ihn eine Unterschenkelamputation, die er in Afghanistan erlitten hatte.

Über allem schwebt die Geschichte einer gegenseitigen Anziehung der beiden, die für Verwirrung sorgt, aber zu einer tiefen Freundschaft wächst.

Die Charaktere – und ihre Handlungen – sind alle glaubwürdig, man erkennt keine ‚Strickmuster’ oder andere einengende Faktoren. Es geht um den Ermittleralltag zweier versehrter, sensibler und intelligenter Menschen und einen spannenden Fall, der dann wider Erwarten gelöst werden kann.
Und es gibt keine neuen Leichen.

In diesem Jahr (2022) ist der sechste Band erschienen: Das tiefschwarze Herz.

Hierzulande kaum bemerkt sind die ersten vier Romane ab 2017 auch verfilmt worden. J. K Rowling hat sich als Produzentin eingebracht, was der Qualität gut tat. C.S. wird von Tom Burke verkörpert, R.E. von Holliday Grainger. (Sie ist hübscher als ich gedacht hätte, weil man im Buch mehr die inneren Dialoge der Selbstzweifel und der Verletzung mitbekommt und ihr Aussehen keine Rolle spielt.) Sehr sehenswert!
 

petrasmiles

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VII Sachbücher
1. The Four Agreements von Miguel Ruiz

Man mag sich wundern, wenn diese quasi esoterische Schrift bei mir als erstes Sachbuch erscheint – es gäbe deren mehrere, die mich beeindruckt – und beeinflusst – haben, aber um so komplexer die Materie desto mühevoller die Würdigung und dieses Buch hat weniger durch seine Wortlaute und Thesen auf mich gewirkt als durch das Konzept eines Menschen mit Haltung, wie es sich aus den Agreements ergibt.

Dieses Buch hat Toltekische Wurzeln und es geht dabei nur um vier Grundsätze, die aber eine wesentliche Auseinandersetzung mit sich selbst und hin zu dem, der man ist, in Gang setzen kann.

Es ist kein psychologisches Buch, sondern es geht eigentlich um unser Verhalten. Weisheit ist nicht Wissen, und es geht auch nicht darum, sich etwas zu merken, sondern eigentlich um die Kraft der Gedanken. Wenn man etwas liest, das einen beschäftigt, dann kann die Wirkung über eine lange Zeit eine tatsächliche Transformierung in Gang setzen.

Ich habe mir dieses Buch vor über 20 Jahren in Englisch gekauft und sein englischer Titel legt nahe, dass es sich um Vereinbarungen handelt, die man mit sich selbst trifft. Ich finde diese Assoziation besser als den deutschen Titel Die vier Versprechen, denn ein Versprechen ist etwas Bindendes, es macht keinen Sinn, sich etwas zu versprechen, von dem man nicht weiß, ob man es einhalten kann. Ein Agreement ist da lockerer und lässt Raum dafür, dass man sich an den Gedanken erst gewöhnen muss, dass man erst Erfahrungen machen muss mit den eigenen Gedanken und wie man sie äußert – und welche Wirkungen sie entfalten.

Im Englischen heißt das erste AgreementBe impeccable with your word’. Impeccable ist ein nicht so häufig benutztes Wort und ich musste auch lange darüber nachdenken. In der Suchmaschine ‚Leo’ gibt es heutzutage nur eine begrenzte Auswahl an Übersetzungen, die auf ‚makellos, fehlerlos, einwandfrei, unfehlbar’ hinauslaufen. Aber ich fand eine viel treffendere Übersetzung damals, nämlich eine Art von ‚unmissverständlich’. Es ist eine Aufforderung, zu sagen, was man wirklich meint – und dass die Worte dem entsprechen, wer man ist. Dass man also nicht leichtfertig drauflos quasselt, sondern sich Gedanken macht, bevor man spricht und im wahrsten Sinne sich selbst ausdrückt. Das führt zu dem Gedanken, dass leichtfertiges Reden einen leichtfertigen Umgang mit sich selbst beinhaltet.

Die anderen drei Agreements sind in Deutsch und Englisch nicht so divergierend.

Das zweite lautet: „Don’t take anything personally“. Für diese Erkenntnis habe ich lange leben müssen und ich wünschte, jemand hätte es mir vorher erklärt. Dadurch, dass wir als Mensch immer nur aus unseren eigenen Zusammenhängen her denken und handeln können, hat das Handeln der anderen sehr wenig mit uns zu tun, selbst, wenn wir Adressat oder sogar das Opfer einer Handlung sind. Jeder Mensch folgt seinem eigenen Sinnzusammenhang und verrät mit jeder Äußerung etwas über sich selbst – nur, dass wir das nicht immer entschlüsseln können. Wir sind daran gewöhnt, dass wir Worte und Handlungen anderer aufgrund der Wirkung beurteilen, die sie auf uns hat. Aber das ist ein Weg, der uns passiv macht und unser Verhalten negativ beeinflussen kann.
Umso aufgeräumter man im Kopf ist (also umso unmissverständlicher wir mit uns selbst kommunizieren), desto klarer sind uns unsere Ziele und umso weniger können uns die Worte und Taten anderer davon abhalten, das zu tun, was wir für uns selbst als richtig erkannt haben.

Das dritte Agreement: ‚Don’t make assumptions’ ist eine weitere Möglichkeit, Ordnung in den Kopf zu bekommen. In Deutsch heißt es, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Das ist nicht genau dasselbe. Assumptions sind Vermutungen. Man soll also keine Vermutungen anstellen; Vermutungen sind immer ein Wirrwarr von Halbausgegorenem; wenn man erfahren ist, kann man vielleicht belastbarere Vermutungen anstellen, aber als Denkprozess führt es nur wieder dazu, dass man sich an Dingen orientiert, die außerhalb von einem sind. Es geht aber darum, sich damit auseinanderzusetzen, was wir wissen, und wissen können wir nur, was in unserem eigenen Kopf stattfindet. Wenn etwas ‚ausgegoren’ ist, wird es schon zu uns kommen.

Das vierte Agreement lautet: „Always Do Your Best“. Im Deutschen meint dasselbe: „Tun Sie immer Ihr Bestmögliches“. Dieses Agreement war für mich das leichteste, weil ich so gestrickt bin, dass man alles, was man tut, ‚richtig’ machen kann. Bis heute mache ich gerne Sachen richtig, oder gar nicht. Dieses ‚richtig machen’ ist hier aber nicht gemeint. Es ergibt sich eigentlich daraus, dass man ‚unmissverständlich’ mit seinen Worten ist – dann ist man es auch mit seinen Taten, die ja nur eine andere Form des Selbstausdrucks sind. ‚Sein Bestes’ geben führt auch dazu, dass man in Einklang mit sich sein kann. Man hat etwas so gut getan, wie man es vermochte. Daraus folgt das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Und es hat auch etwas mit Selbstachtung zu tun: Unmissverständlich in Worten und Taten zu sein, ist etwas, das man sich selbst schuldet. Wir sind der Anfang und von uns geht alles aus, was in unserem Leben von Bedeutung ist – im Guten wie im Schlechten.
Leider sind wir als Gesellschaft immer ‚bequemer’ geworden. Gerade Mal im Sport hat man davon gehört, dass bei Anstrengung Glückshormone ausgeschüttet werden. Aber im Alltag werden uns alle Mühen abgenommen und ‚Chillen’ scheint der einzige konsensfähige Wert zu sein, auf den sich alle verständigen können. Aber damit werden wir nur faul im Kopf und sich Mühe geben tut uns gut.

Das Lesen dieses Buches ist nichts, was über Nacht einen anderen Menschen aus uns macht, sondern es wird ein Prozess in Gang gesetzt, der anfangs zögerlich, später öfter uns unser eigenes Handeln hinterfragen lässt. Ich habe mich nie weiter um Toltekische Weisheiten gekümmert, oder irgendeine Lehre angenommen oder befolgt. Der Messbecher ist die eigene Wahrnehmung. Entweder, die Worte machen etwas mit einem, oder nicht. Im Grunde ist es nur ein Erklärungsversuch unter vielen – selbst die Wissenschaft kann nur aus Fakten Schlüsse ziehen und ist damit ‚esoterischer’ als ihr lieb sein kann.

Spiritualität ist kein Hokuspokus, sondern die andere Hälfte der Welt.
 

petrasmiles

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IV. Krimis
3. Donna Leon und ihr Commissario Brunetti

Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Lupianer diese Krimireihe nur aus dem Fernsehen kennen und mit dieser Familien-Abendunterhaltung wenig anfangen können – zumal, wenn sie keine besondere Vorliebe für Venedig haben.
Das ist immer so eine Sache mit Verfilmungen.

Die Bücher sind richtig gut – sieht man mal davon ab, dass es schon um das Klischee eines aufrechten Kommissars in einem korrupten Land geht, der ein idealtypisches Familienleben zu pflegen weiß und eine Ehefrau hat, die – im Gegensatz zu ihm - auch noch aus einer sehr reichen, angesehenen Familie stammt, wodurch er auch an Informationen aus den oberen Rängen der Gesellschaft kommt. Seine Frau ist als Englisch-Dozentin tätig und hat genug Zeit, oft zweimal täglich ihre Lieben zu bekochen, so dass man gerne mit am Tisch säße.

Brunetti ist ein stiller Mann, ein Beobachter, ein kluger und belesener Mann (gerne antike Klassiker), für den seine Familie das Wichtigste im Leben ist. Er hat aber auch eine sehr realistische, fast pessimistische Seite, die ihn auch Rollen einnehmen lässt, die ihm der Wahrheitsfindung näher bringen könnten. Eigen ist ihm sein innerer Kompass, der auch nicht schweigt, wenn er sich bei etwas ertappt, was nicht in Ordnung ist. Bedeutsam ist auch, dass er aus ganzem Herzen Venezianer ist und ihn das immer wieder neue Erstaunen der Pracht seiner Heimatstadt erden kann.

Es geht in den Krimis nicht in erster Linie um den klassischen whodunit, aber immer um Abgründe hinter Fassaden, das Allzumenschliche, das sich auch in der Gemengelage der Questura zeigt, indem sein Chef das klassische Abbild eines Karrieristen ist, dem im Zweifelsfalle die Schonung der Touristen wichtiger ist als das, was man gemeinhin unter Recht oder Gerechtigkeit versteht.

Donna Leon zeichnet ein düsteres Bild der politischen Kaste Italiens, die hauptsächlich von Habgier motiviert sei und das Rechtssystem derart ausgehöhlt habe, dass die Kriminalität der ‚weißen Kragen’ kaum noch erfolgreich verfolgt werden kann. Und darum siegt in diesen Romanen mangels Anwendung der Gesetze nicht oft die Gerechtigkeit und manchmal muss Brunetti ein wenig nachhelfen.

Bei den Verfilmungen hat man sich sehr stark Unterhaltungskriterien unterworfen. Es sind keine Verfilmungen im eigentlichen Sinne, sondern die Bücher sind ein Steinbruch für neue visuelle Umsetzungen. Da werden beliebig Opfer und Täter getauscht und andere Personen erfunden oder Handlungsfäden drangestrickt bzw. weggelassen.

Das fängt damit an, dass der Vize-Questore, der von dem wunderbaren Michael Degen gespielt wurde – im Buch ein schlimmer Fatzke ist, ein eitler, egozentrischer Abwiegler. Diesen Ansatz verfolgen die Drehbücher oder der Regisseur auch, denn er ist ja der Widerpart zum braven Brunetti, aber bei Degen bekommt er ein sehr viel tieferes Antlitz, manchmal sogar Wärme oder aufblitzende Größe – und konterkariert damit das Wertegefüge, oder auch das moralische ‚Gefälle’. Und Signorina Elettra, die Sekretärin des Vize-Questore, die immer und auf allen Wegen mit ihrem Computer an benötigte Informationen kommt, ist eine vielschichtigere Person, als sie Annett Renneberg auf den Bildschirm bekommt – oder bekommen darf. Die Rollen der Kinder sind in den Filmen sehr aufgeplustert; mit Freunden und Freundinnen werden sie in Fälle verwoben; gleiches gilt für Brunettis Mutter, die im Gegensatz dazu im Buch anfangs stark dement im Pflegeheim liegt und ohne großes Aufsehen in einem Roman stirbt und allenfalls die Grundstimmung dieses Falles vorgibt.

In den ersten vier Fernsehkrimis haben Joachim Król und Barbara Auer Guido und Paola Brunetti verkörpert, die mir sehr gut gefallen haben, aber doch so ein bisschen in einer anderen Liga spielen. Ich mag Uwe Kockisch sehr gern und Julia Jäger halte ich für eine unterschätzte Künstlerin. Ihre Figuren sind zwischen Buch und Verfilmung noch am deckungsgleichsten – mal abgesehen von Sergente Vianello, wobei ich Karl Fischer nur aus seichten Filmchen kenne und als Typ auch nicht sympathisch finde. Dumm nur, dass man beim Lesen dann die entsprechende Figur vor Augen hat.

Ansonsten wird jeder Fall mit ein paar Nebenfiguren aufgepeppt, was dann verdienten Mimen eine nette Rolle zuschustert – so mein Eindruck. (Das empfinde ich bei Michael Degen und Karl Fischer schon so; Monica Bleibtreu und Thomas Thieme spielen in „Feine Freunde" ein Wuchererpärchen 2003; Gottfried John durfte in ‚Acqua Alta’ 2004 einen wahnsinnigen Kriminellen geben und Suzanne von Borsody eine Nonne und Thomas Sarbacher einen undurchsichtigen Padre in „Sanft entschlafen’ – die Liste ließe sich umfangreich erweitern.)

Oft genug haben die Fälle im Vergleich wenig miteinander zu tun. Ein besonders krasses Beispiel ist der Fall ‚Tierische Profite’, in der im Film Brunettis Tochter in einer Clique von Tierschützern aktiv ist, von der ein Mitglied in einem Schlachthaus einen Handyfilm drehte. Ursache für den Kriminalfall ist der Leichenfund eines Mannes, der in eben diesem Schlachthaus eine Art Begutachter war, obwohl er aus einer anderen Stadt stammend ein angesehener Professor gewesen war. Seit er an einer entstellenden Krankheit litt, hatte er sich nach Venedig zurück gezogen und wurde dargestellt als jemand, der den Tierschützern quasi zuarbeitet. Im weiteren Verlauf spielen noch der Besitzer dieses und anderer Schlachthöfe eine Rolle, sein Schwiegersohn, der den aktuellen Schlachthof betreibt und dessen Assistentin. Durch den Einbruch der Tierschützer geraten diese in Verdacht, etwas mit dem Tod zu tun zu haben. Durch die Indiskretion Pattas an den Schlachthauskönig erfährt dieser die Personalien des Tierschützers und lässt ihn zusammenschlagen bei dem Versuch, das Handy mit dem kompromittierenden Film zu bekommen. Groß und breit werden diese Aufnahmen, die durch eine List an Brunetti gehen, von gequälten Tieren gezeigt. Am Ende gesteht die Assistentin (sehr gut gespielt von Alice Dwyer), die (natürlich) die Geliebte des Schwiegersohns ist, den Mord, obwohl alle Indizien auf den Schwiegersohn hindeuten.
Im Roman spielt die Tochter oder etwaige Aufnahmen keine Rolle; der Tote steckt im Bunde (bzw. unter der Bettdecke) mit der Assistentin, die auch kein Verhältnis mit dem Schwiegersohn hat, die mit dem Verkauf geschlachteter kranker Kühe, die eigentlich als Ergebnis der Fleischbeschau nicht in den Handel geraten dürften, beachtliche Nebeneinkünfte hat und über ihre neu gekauften Wohnungen auffällt.
Es sind immer die kleinen Dramen, die bei Donna Leon berühren: Der verführte Tierfreund, dessen verletzte Ehefrau, die Bewusstwerdung, womit wir unser Wohlleben erkaufen.
Im Buch stehen viele dieser traurigen Tatsachen nebeneinander, in der deutschen Verfilmung wird ein Umweltschocker daraus.

Ein weniger krasser, aber umso traurigerer Fall: In ‚Reiches Erbe’ ist der Mord kein Mord, aus Figuren, die (kriminell) handelnde bereits Verstorbene sind, werden im Film Handelnde mit Habgier-Motiv, wo es aber im Buch um Liebe geht und ihre Kraft. Viel langweiliger natürlich, wenn ein Achtzigjähriger sich die Unterbringung seiner bettlägerigen Liebsten im Pflegeheim aus alten Untaten heraus ergaunert. Die Geschichte um eine Hilfsorganisation, die geschlagenen Frauen hilft, spielt im Buch am Rande eine Rolle für die Einschätzung des Opfers, es deutet sich sogar an, dass eine der verfolgten Frauen eine Betrügerin ist - im Film ist es das tragende Motiv.
Auf diese Weise können der Geist des Buches und die Aufgaben eines Filmes nicht zum gleichen Ergebnis führen.

Bei den ersten vier Folgen war mir der Unterschied noch nicht so aufgefallen. Bei den späteren ist eine der wenigen Ausnahmen ‚Das goldene Ei’; die Geschichte eines als taubstumm und zurückgeblieben angesehen Mannes, der an einer Überdosis Schlaftabletten stirbt. Hier entwickelt sich eine Kaspar Hauser Geschichte, die an ruhig vorgetragener Niedertracht dem Buch ebenbürtig ist, was vor allem der Leistung von Imogen Kogge geschuldet ist und auch der übrigen Besetzung mit glaubwürdigen Darstellern.

Es lohnt sich, Donna Leon zu lesen, auch wenn sie keine nervenzerfetzende Spannung bietet, oder komplexe Charaktere auslotet.

Sie hat sich mit Brunetti in Venedig einen schönen Winkel gesucht, aus dem heraus man einen guten Blick auf die Menschen hat und was sie bewegt, zum Nutzen und Schaden ihrer Mitmenschen.

Nur in einem ist die mittlerweile geschlossene Filmreihe den Büchern voraus: Den Bildern von Venedig.
 

petrasmiles

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VIII Biographien
1. Albrecht Dürer (1471-1528)

Neulich in Berlin waren wir auf der Albrecht Dürer Ausstellung 'Dürer für Berlin', in der es hauptsächlich um die Geschichte der Sammlung ging.
Schon sehr interessant, aber der Mensch blieb doch ein wenig verborgen hinter den kunsthistorischen Erwägungen.
Also kaufte ich mir vor Ort eine kleine Biographie aus der Reihe C.H.BECK Wissen von Thomas Schauerte (2020), der immerhin von 2009 bis 2019 das Dürer-Haus in Nürnberg leitete und mit einer Vielzahl von Publikationen aufwarten kann.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die Person 'Dürer' bleibt blass, trotz vorhandener Selbstzeugnisse; es scheint, als könne man nicht viel mehr über ihn sagen als Archäologen aus Scherben ableiten könnten.

Geboren als Sohn eines Goldschmieds - ein Handwerk, dessen Lehre er nach fünf Jahren nicht beenden wird und eine Malerlehre macht - ohne akademische Bildung bleibend, sein Talent im druckgraphischen Gewerbe entwickelnd. Da steht diese Person als herausragendes Universalgenie der deutschen Renaissance, und man weiß nicht, wie er das schaffte, nicht die Werkstatt seines Vaters zu übernehmen. Warum er heiratete, um dann gleich eine Italienreise anzutreten - ohne sein Frau. Die Ehe bleibt kinderlos. Sie sei nicht glücklich gewesen, mutmaßt der Biograph.

Er hatte keine Vorbilder, aber er begründete auch keine 'Schule'.
Am auffälligsten dieses selbstbewusste Monogramm, seine Signatur zu einer Zeit, als Handwerk und Kunsthandwerk die Kunst nach heutigem Maßstab noch hervorbringen sollten und der Künstler der Handwerker blieb.

Eingebettet ist diese wißbegierige Existenz in ein vorhandenes Netzwerk an Humanisten, beginnend mit Konrad Celtis (1459-1508). Wobei Humanismus hier gelesen wird als der Versuch der Verbindung der antiken Traditonen und Tugenden mit dem christlichen Glauben - oder doch eher der christlichen Kirche.
Celtis "vertrat die These, dass Deutschland als das vermeintlich älteste und vornehmste unter den christlichen Reichen politisch-militärisch, vor allem aber kulturell weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbliebe ..." Mittels der Literatur der Theologie, Philosophie, Natur- und Geschichtswissenschaften und der Philologie selbst sollten nun "all die alten, verschollenen Texte wieder ans Tageslicht [be] fördert (werden), die die vermutete einstige Größe des Reiches klar belegen sollten. Hier ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass der - historisch unhaltbare - direkte Übergang des römisch-antiken Weltreichs auf die Deutschen im übrigen Europa zwar vielfach bezweifelt, im Wesentlichen aber doch wiederwillig akzeptiert wurde. Diese 'deutsche Antike' galt es nun also wiederzuentdecken und regelrecht zu rekonstruieren, und dass die einstige Größe auch äußerlich ihre angemessene Form erhielt, wurde nun Aufgabe der Bildenden Künste" (S. 22)
Schon interessant festzustellen, dass diese deutsche Hybris keine Erfindung des 21., 20. oder 19. Jahrhunderts gewesen ist, sonder eher eine Konstante darstellt.

Sein späterer Bruder im Geiste Willibald Pirckheimer war gleichfalls Humanist, Übersetzer, Jurist, Ratsmitglied der Stadt Nürnberg, Berater Maximilian I. 'Adam und Eva' (1504) soll auf den Einfluss Pirckheimers zurück zu führen sein - die neue Formensprache der Abbildung eines nackten Körpers bei gleichzeitger Anwendung antikischer Proportionen.

Und das alles - die Versöhnung der Antike mit dem Christentum - am "Vorabend" der Reformation.
Es wird angenommen, dass Dürer Luther kennengelernt hatte; es ist auch belegt, dass er seine Schriften kannte. Er soll der Reformation gegenüber aufgeschlossen gewesen sein, aber an eine Reformierung der katholischen Kirche geglaubt haben. Aber was soll man von einem humanistischen 'Handwerker' verlangen, der sein Auskommen über eine kaiserliche Leibrente und den Vertrieb von Marienbildern sicherte und der den von Luther angefeindeten Albrecht von Brandenburg zu seinen Kunden zählte.

Also wer war Albrecht Dürer? Sicher geschäftstüchtig und willensstark. Selbstbewusst. Von immensem Talent und Wißbegier erfüllt - mit einem ordnenden Verstand und großem Fleiß.
Manchmal weiß man nicht, was es interessanter macht, den historischen Schleier anzuheben, das, was immer verborgen bleiben wird, oder das, was sich immer gleich bleiben wird.
 
Dürer, ach ja ... Für keinen anderen Großen der Kunstgeschichte empfinde ich angesichts seines Werks diese Mischung aus großem Respekt und tiefem Staunen. Letzteres bezieht sich vor allem auf die Stellung innerhalb der nationalen Kultur. Daran ist etwas Singuläres, Eruptives. So als ob sich untergründig lange etwas vorbereitet hätte und dann trat dieses Phänomen plötzlich ans Licht: Dürer und seine Kunst. Bisher galt mein Interesse im Wesentlichen nur dem Werk. Aufgrund deiner Leseeindrücke, Petra, verspüre ich nun Lust, mehr über den Künstler und Menschen zu erfahren. Vielleicht gibt es noch detailliertere Darstellungen als das von dir gelesene Buch.

In Nürnberg war ich mal auf dem Friedhof St. Johannis und stand auch an Dürers Grab. Der Friedhof als Ganzes hat mir stärkeren Eindruck gemacht als dieses einzelne Grab, das sich so gut einfügt, dass es kaum auffällt, sehr im Unterschied zum Werk des Künstlers.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

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Vielen Dank, Otto.
Habe ich mir angesehen und habe großen Nutzen daraus gezogen.
Im Film klingt an ein paar Stellen an, was man in der von mir gelesenen Biographie offen lässt - das 'saftige' Leben, die mitunter derbe Sprache - zumindest für unsere heutigen Ohren. Aber aus dieser Art von Selbstzeugnissen oder der anderer entsteht doch erst ein realistisches Bild der Zeit und Umstände.

Und mir fällt (wieder einmal) auf, wie sehr die Wissenschaft interpretiert und Zeugnisse bewertet, die zu ihrer Lesart passen.
Mein erster Gedanke u.a. bei der ausbleibenden Kinderschar - und der Tatsache, dass die Ehefrau vom Vater ausgesucht worden war - war doch der, dass er homosexuell gewesen sein könnte. Wir tun uns immer noch schwer damit, dies als eine bloße Tatsache zur Kenntnis zu nehmen (wo es so ist). Es ist auch immer noch so eine Scheu zu spüren, das Genie in einen Alltagskontext zu setzen, als habe es keinen Peter Shaffer gegeben, der dem Genie sein Menschsein zurück gab. Vielleicht sind die Kunsthistoriker besonders prüde? Ich muss doch mal schauen, ob Dürers Selbstzeugnisse publiziert worden sind.

Die Aussage hier zu Luther ist wieder so eine Interpretationssache. Auf der Grundlage der Bildunterschrift der vier Apostel klingt es für mich sehr nachvollziehbar, dass Dürer Luther nicht nur gekannt, sondern auch geschätzt hatte. So weit wollte 'mein' Biograph nicht gehen - vielleicht, weil sich Dürer nicht ähnlich Pro-Luther positioniert hatte wie Cranach? Da wird es dann für mich ein bisschen 'L'art pour l'art' mäßig ... man muss also immer mehr wissen, um solche Aussagen der Fachleute einordnen zu können.

Dir noch einmal lieben Dank und liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

danke für Deine Gedanken.
Wenn Du fündig geworden bist, dann gebe doch bitte Bescheid. Ich bin mal wieder auf dem Sprung in den Urlaub - dieses Zeit des Jahres ist mal wieder die des 'Kofferspiels' ... auspacken, einpacken. Ich melde mich ab Samstag für drei Wochen ab. Aber dann ist Ruhe.
Ottos link ist wirklich eine gute Einführung - an einer Stelle wird seinem 'Adam und Eva'-Bild eine Version seiner Lehrers ca. zehn Jahre zuvor entstanden gegenüber gestellt - anschaulicher geht es kaum zu verdeutlichen, was für Welten dazwischen liegen - und damit Dürers Talent erfassbar macht.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

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IV. Krimis
4. Sara Paretsky, V.I. Warshawski


Bei dieser Detektivin, mit den schönen Vornamen Victoria Iphigenia, von ihren Freunden Vic genannt, muss man unterscheiden zwischen dem Bild, das Kathleen Turner in der Verfilmung des ersten Falls 1991 in die Köpfe projiziert hat, der das Kostüm und die Stöckelschuhe besser zu Gesicht standen als die körperlichen Aspekte von Vics, im Krimigenre ‚hard boiled‘ genannten, Aktivitäten. Kathleen Turner ist zu nahe am Vamp, ich habe eher das Bild einer Figur, die Sara Paretsky selbst ähnelt, vor Augen: Ein sehniger, schlanker, sehr sportlicher Körper, elegant, ohne Schnickschnack; vielleicht ein wenig ‚hübscher‘ als die Autorin.

Vics Herkunft, ihr Vater war ein polenstämmiger Polizist und ihre Mutter eine italienischstämmige klassische Sängerin, zeigen ganz gut die Sphären, in denen sich Sara Paretskys Protagonistin in Chicago bewegt. Ausgestattet mit einer überdurchschnittlichen kulturellen Bildung ist es doch die Jugend in sozialen Brennpunkten Chicagos und das Vorbild ihres Vaters, was sie mit einem unverrückbaren inneren Kompass ausgestattet hat. Und dafür geht sie an ihre Grenzen und darüber hinaus. Auf der Basis eines Jurastudiums und mehreren Jahren Arbeit als Pflichtverteidigerin macht sie sich als Privatdetektivin selbständig.

In den frühen Romanen ist es immer auch ihr Existenzkampf, der thematisiert wird, denn oft genug ergeben sich ihre Fälle aufgrund von Ungerechtigkeiten, die sie eher nebenbei bemerkt und denen sie auf den Grund gehen will und dabei meist in ein Wespennetz sticht, wenn Politik oder Gewerkschaften, Kapital oder Wirtschaft schädliche – und kriminelle - Allianzen schmieden.

Diese Art der Fälle sind die Regel; Sara Paretsky weiß, dass der größte Schaden von diesen Machtzentren ausgeht, die immer das Geld – oder die Ressourcen - der Allgemeinheit ausbeuten. Kleinkriminelle kommen bei ihr allenfalls als Handlanger vor.

In den frühen 80 Jahren, in der sie ihren ersten Fall löst, nahezu unvorstellbarerweise ohne Handy und sonstigem digitalen Schnickschnack, geht es um den Mord an ihrem Cousin, gleichzeitig ihr engster Jugendfreund, der nach einer verletzungsbedingt frühzeitig beendeten Sportlerkarriere sich in Business-Aktivitäten verheddert, in die auch seine Frau verwickelt ist.

Vics Fälle machen immer etwas mit ihr – das Elend, das ihr begegnet, geht sie etwas an. Sie hat sich keinen Schutzwall aus Schnoddrigkeit zurechtgelegt, oder zelebriert eine Pose der einsamen Wölfin. Im Grunde ist sie eine normale, starke Frau, die einen eigenen Weg geht und sich oftmals wider besseres Wissen in Schwierigkeiten bringt. Nicht immer macht sie es ihren Lesern leicht. Und es hat mich immer amüsiert wie eine Frau, die freiwillig so viel Prügel einsteckt, so ein Gesundheitsapostel sein kann.

Aber es ist diese Figur, die die Reihe über die Jahrzehnte trägt. Bis heute sind 21 Romane mit Vic erschienen. Zuletzt las ich Dead Land von 2020, deutsch Landnahme 2021.

In den 80er und 90er Jahren wurde Sara Paretsky von Piper in Deutschland verlegt – bis der Senior seinem designierten Nachfolger und Sohn den Verlag 1995 unter dem Hintern weg verkaufte. 2002 erschien der letzte Band bei Piper, danach zwei bei Goldmann (2004 und 2007) und ein weiterer 2011 bei Dumont, die ich schon nicht mehr mitbekam. Dann klafft eine Lücke nicht übersetzter Titel (Bodywork von 2010 und Breakdown von 2012) bis der Ariadne Verlag den Faden aufnahm und 2019 den Fall Criticall Mass von 2013 veröffentlichte. Brushback von 2015 ist gleichfalls nicht in Deutsch erschienen, aber seit 2018 folgten alle V.I. Warshawski Romane, wenn auch nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge.

Nachdem ich sie aus den Augen verloren hatte – wie eine Heldin aus der ‚Kindheit‘ - war es ein Abenteuer, ob sie die erwachsene Frau auch würde mitreißen können. Sie hat es. Vor Jahren hatte ich schon die drei Piper-Nachfolger Ausgaben gelesen und stellte fest, dass sie die neuen Medien und technischen und digitale Möglichkeiten gut eingebaut hat in ihre Ermittlungen. Aber mittlerweile bin ich noch älter geworden und Sara Paretsky – Jahrgang 1947 – ist auch nicht mehr die jüngste. Vic ist nicht mehr ganz so körperlich unterwegs, wenn sie auch in Landnahme in einem Canyon eine Steilwand hochkraxelt und nach einem Abrutschen zwar mühevoll aber wieder auf die Beine kommt. Ich halte es dennoch für glaubwürdig, dass eine Frau, die immer auf sich geachtet hat und lebenslang ihre morgendlichen Joggingrunden um den See gedreht hat, fitter ist als ich. Dass sie außerdem ihren Körper gut kennt und seine Signale zu deuten weiß – sie macht sehr häufig Dehnübungen – lässt bei mir kein Gefühl der Unglaubwürdigkeit aufkommen.

Aber ich bin mir auch darüber im Klaren, dass es diese moralische Komponente ist, die mich die Treue halten lässt. Sie ist eine Figur aus meiner Vergangenheit, die einen ähnlichen moralischen Kompass hat, weiß, was Solidarität ist, ehrlich ist, zu sich und anderen.

Die Übersetzerin und Herausgeberin der Reihe Else Laudan hat in ihrem Vorwort zu Landnahme sehr schön auf den Punkt gebracht, was das Besondere an diesen Krimis ist: „Ich lese Landnahme als eine Ode an die Aufklärung, bin erinnert an das Geschichtswerkstätten-Motto ‚Grabe, wo Du stehst‘, ab den 1980ern weltweit Methode gesellschaftspolitischer Geschichtsaufarbeitung. Das Ziel: demokratische Selbstermächtigung durch Zutagefördern der Geschichte der eigenen Lebensbedingungen, um die Deutungsmacht nicht herrschenden Eliten zu überlassen (…) Für mich verkörpert V. I. Warshawski diese Maxime so konsequent und zeitgemäß wie kaum eine Gestalt in der Kriminalliteratur. (…) Unabhängig und unermüdlich gräbt sie, wo sie geht und steht, buddelt verdrängte und verschwiegene Wahrheiten aus, kassiert Belehrungen und Blessuren, ohne klein beizugeben, auch, wenn sie nicht siegen kann. Möge ihr rechtschaffen forschender Geist einige von uns anstecken. Unsere Welt braucht dringend viele Warshawskis.“*



*Sara Paretsky, Landnahme, ariadne 1249 Argument Verlag, Hamburg 2021
 

John Wein

Mitglied
Werte Petra,

Ach, ich kann eigentlich gar nicht so alt werden, um in meinen Jahren noch alle die Bücher, die in meinen Regalen gilben, lesen und lieben zu können. Und nun machst du mir auch noch Vorschläge, was ich mit 80 und darüber hinaus noch konsumieren sollte, dürfte, könnte. Spaß beiseite!

Ich sehe in deinen Worten Leselust und -Leidenschaft. Und das muss man heutzutage, bei allem was einem täglich einprasselt und um die Ohren fliegt, erst einmal filtern und nach Gusto einsortieren.

Du hast nun deine Krimileidenschaftphase, da bist du, obschon jünger, ein bisschen weiter als ich alter Haudegen. Für mich gibt es in dieser Liga keine Ambitionen, noch nicht! Aber, wer weiß das schon und will das schon wissen! Es ist der Feingeist in meinem Kopf, der ist nicht totzukriegen und der will immer noch nur Schöngeistiges, ist ja auch so gut verdaulich. Ich hab‘mal während einer Kur am Bodensee aus seinem Haus in Gaienhofen 3 Kilo Hesse abgeschleppt (u.a. Rosshalde). Der Kerl hat mich dann nachhaltig über mehrere Jahre infiziert, sogar sein Briefwechsel mit T. Mann habe ich dabei verschlungen. Kann das einer noch nachvollziehen?! Verdaut hab‘ ich es später mit Hilfe von Jonathan Franzens‘ Wälzern (Corrections, Freedom). Mühsam, aber erfolgreich. Empfehlenswert!

Natürlich gab es in meinem Leben auch noch andere Phasen persönlicher Vorlieben (nein, nicht erotisch). Aber ich will das jetzt und hier nicht breittreten, es geht ja um deine liebgemeinten Vorschläge für alte und junge Leseratten.

Hab‘ ich eigentlich schon erzählt, dass ich neulich abends, es war am Großen Hirschgraben, ach du meine Güthe!: „Was um alles in der Welt beschert mir die Ehre Euch hier unten auf dem Pflaster der vergangenen Jahrhunderte zu erblicken, hat es denn kein Ende mit Ihrer ewigen Rastlosigkeit, dem ständigen hin und her auf diesem Planeten?“

Oh, mein Gott, der Dichterfürst persönlich! „Herr Johann, wie ich sehe! Ach, ich bin zu klein und unbedeutend in der Welt, wie könnt‘ ich mich mit Wortgewalt und Erlesenheit mit ihnen auf diesem noblen Gelände der Dichtkunst messen!?“

„Ach mein lieber Herr Wein, mich schmerzt der Anblick Ihres Jammers. Seien sie versichert, wir sind nicht klein, wenn Umstände uns zu schaffen machen, sondern nur wenn sie uns überwältigen.“

Es entstand danach ein längerer Dialog, den ich hier wegen der Länge und Komplexität niemand zumuten mag. Er verabschiedete mich mit einem kleinen Vers:

„Was ich gesollt, hab ich vollendet;
Durch mich sei dir von nun an nichts verwehrt;
Allein, verzeih dem Freund, der sich nun von dir wendet
Und still in sich zurücke kehrt.“

Sagt’s und verschwindet’ hinter den Vorhängen im Dunkel seines Zimmers.

Und nun, werte Petra, mache auch ich das Licht aus!

LG, John
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John,

da kann man nur sagen - jedem das Seine. Das, was uns zum 'Brennen' bringt, ist das Richtige!

Ich bin gestern durch Zufall (?) mit drei Büchern nach Hause gekommen - jeweils biographische Skizzen - von Donna Leon, Sting und Bob Dylan. Donna habe ich heute gleich 'weggelesen', bei Sting bin ich halb durch und Jonathan Franzen (und viele andere 'Gelegenheitskäufe') werden im Neuerwerbungsregal regelmäßig abgestaubt - aber ihre Stunde wird sicher auch kommen.

Als der Gedanke, dass ich nun alt werde und nur noch beschränkte Lebens-, Seh- und Lesezeit habe, noch neu für mich war, dachte ich für eine Weile, jetzt müsste ich erst einmal lesen, was ich da habe und sollte besser keine neuen Bücher mehr kaufen. Das hielt glücklicherweise nicht lange vor. Was wäre mir entgangen!

Irgendwann platzte der Knoten und ich schrieb in mein Tagebuch: Ich bin noch nicht tot! Und diese Lust, sich inspirieren zu lassen, und eher ein Buch mehr als weniger mit nach Hause zu nehmen, ist mir so eigen, dass ich mich lebendig begraben fühlte, ließe ich es bleiben. Was ich aber mache: Ich sortiere aus. Als junge Frau war ich begeistert von René Schickele, und als ich ihn mir jüngst wieder vornahm, fand ich die gestelzte Sprache unerträglich und seine Bücher kamen auf den Buchspendestapel; da landen auch Neuerwerbungen, die mir nicht zusagten. Momentan hadere ich noch beim Anblick der Bücher einer Autorin, deren Erstling in den 80ern wunderbar war, und die danach noch zwei Fortsetzungen schrieb, die erste so na ja, die zweite unerträglich, weil die Autorin mit ihrer Protagonistin quasi in Dialog trat wie eine Mutter zu ihrer Tochter. Das erste war wirklich wichtig - es erzählt die Geschichte einer sogen. bildungsfernen Jugend und der Kampf in die höhere Bildung. Das Buch öffnete die Augen, dass man zum Fremden in der eigenen Familie wird, Sprache verbindet - und trennt. Soll ich nun nur die beiden Nachfolger weggeben, oder dann doch alle? Werde ich den guten Erstling nochmals lesen? Ich weiß es nicht.
Aber alle diese Gedanken sind Zeichen meiner inneren Lebendigkeit und Teilhabe - vielleicht nicht mehr an 'der Welt', aber an meiner.

Und jetzt gehe ich mit P.D. James zu Bett - der große Showdown, ich weiß noch immer nicht, wer der Mörder ist, und morgen muss ich wieder arbeiten.
Gute Nacht! - und danke fürs Vorbeischauen :)
Petra
 

John Wein

Mitglied
Liebe Petra,
Es gibt einen Krankheit, die nennt man Lesevergnügen. Das Medikament, das hier der Arzt empfiehlt, heißt Buch. Ich denke, du weißt auch, dass Medikamente süchtig machen können tun. Manche wirken nur einschläfernd, aber es sollen schon Menschen Büchern erlegen sein und das gilt sowohl bei süffigen Rosamunde Pilcher Formaten, als auch bei Shakespeare in Originalfassung und bitte nicht verschlingen. Bücher kann man nicht essen! Deshalb auch immer gut den Beipackzettel lesen und an die Empfehlungen des Klappentextes halten: morgens, mittags und abends mit einem Schluck Wasser (vor dem Zubettgehen ist auch ein Helles durchaus geeignet) und natürlich nicht im Straßenverkehr oder jeglichem anderen. Das klingt zwar sehr angsteinflößend, muss aber in der Härte durchaus einmal erwähnt werden. Ich weiß, wovon ich rede!
Einen schönen Gruß,
Der therapeutischer Ratgeber und Lesearzt
Dr. John Wein
 

petrasmiles

Mitglied
III Werke
6. Dave Eggers, Der Circle, 2014

Man könnte es für eine Ente halten, aber es gab auch einmal eine Zeit, in der man sich mit Aspekten der amerikanischen Kultur kritisch auseinandersetze – zumindest Bücher des Inhalts übersetzt wurden.

Dave Eggers hat seinerzeit einen viel beachteten und gut besprochenen Roman geschrieben über die Verwicklungen einer jungen Frau in die Mechanismen eines weltumspannenden Technologiekonzerns, der sich anschickte, alle privaten Lebensbereiche seiner Mitarbeiter und Nutzer mit den wirtschaftlichen Interessen in Form von Services digital zu verknüpfen.

Wirksam werden da die klassischen Belohnungssysteme und positiven Verstärkungen bei erwünschtem Verhalten, die man auch aus anderen Totalitarismen kennt, die nur mithilfe der IT eine Ausschließlichkeit bekommen kann, die das Ganze zu einer Orwellschen Dystopie werden lässt.

Die junge Frau wird über ihren ungestillten Ehrgeiz eingefangen, und dann ihre Aufmerksamkeit systematisch in den Konzernrahmen gepresst. Über die Zeit bewertet sie ihre anderen sozialen Kontakte neu und geht in dessen Glaubensgrundsätzen zunächst auf und distanziert sich von Freunden und Familie.

Der Roman folgt ihrer Spur von der Erweckung und dem Höhepunkt ihres Wohlfühlens in der neuen ‚Familie’ über die sich häufenden Irritationen bis hin zu der Erkenntnis der totalen Kontrolle seitens einer abstrakten Macht, als sie noch immer nicht wirklich ‚abtrünnig’ auf die Schattenseite des Systems gerät.

Es ist eine kluge Perspektive, sich auf eine handelnde Person zu fokussieren, die das erlebt, was der Roman aussagen will.

Der Prozess, in dem die Protagonistin beginnt, sich von einem ‚normalen’ Menschen in einen Jünger zu verwandeln, ist nachvollziehbar und glaubwürdig geschildert – der moderne Mensch wird keine anderen Beweggründe und Einfalltore für Manipulation haben, als er sie heute schon hat.

Ein befreundeter Mann, der das Buch las, fand es unglaubwürdig, weil die junge Frau so dumm gewesen sei. Ich fand im Gegenteil, dass ich ohne dieses Buch weniger von den Mechanismen verstehen würde, wie man aus emotionalen Gründen in Verbindung mit einem Sog an Ansprüchen des Manipulators einer Gehirnwäsche unterzogen werden kann, an dessen Ende man nicht mehr rational die Gegenwart beurteilen kann.

Es wurde seinerzeit viel Wirbel darum gemacht, dass es um Facebook ginge, so etwas ist ja auch ein Werbeargument. Und tatsächlich steht am Anfang der Spirale das Liken von Services, verkleidet als eine ‚nette Geste’, die in einen Bewertungswirbel mündet, und so auch die Grundlage der Ausschließlichkeit des Systems bildet. Ich fand das eher nicht überzeugend, aber vielleicht liegt es daran, dass ich Liken albern finde, und es nie gemacht habe. Vielleicht gerät man in einen Sog, wenn man einmal damit angefangen hat.

Das Verstörende an dem Buch ist nicht sein Inhalt, sondern die herstellbaren Parallelen zur Gegenwart.

Aus heutiger Perspektive scheint der Roman schon so ein bisschen gestrig zu sein und aus einer Zeit zu stammen, als man sich noch über so etwas Gedanken machte, während man heute von einer „Katastrophe“ in die nächste taumelt – Irakkrieg, Flüchtlingswellen, Corona, Ukraine, Hamas – während im Hintergrund sicher die Fäden weiter gesponnen werden, um über die Digitalisierung Vertriebswege, Geldströme und Konsumentenansprachen einseitig zu optimieren. Unsere Aufmerksamkeit wird immer in Bewegung gehalten.
 

John Wein

Mitglied
die Verwicklungen einer jungen Frau in die Mechanismen eines weltumspannenden Technologiekonzerns,
Werte petrasmiles,
Ich bewundere deinen Lesefleiß! Um solche Romane zu mögen, bedarf es sicher großer Passion und einer Menge an Zeit. Das ehrt dich und noch mehr ehrt dich, es uns auf dem Rezensionsteller mundgerecht zu servieren! Ich gestehe unumwunden doch mit einer gewissen Betrübtheit, dass mich solche Themen überfordern. Ich stöbere lieber in anderen Abteilungen und bei Büchern, die auf der Gefühlsklaviatur ein paar schöne Moll-Akkorde spielen. Da kann es dann durchaus sein, daß ich ein Werk zweimal lese, oder z. B. eine englische Originalfassung, falls.
Ich bin eben ein alter, weißer Mann mit einem langen Bart und einer gewissen geistigen Bequemlichkeit.
Ich grüße Dich,
John Wein
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo John Wein,

Grüße zurück - das ist ein bisschen viel der Ehre - dieses Buch habe ich 2016 gelesen und es hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sodass es mir wert schien, in meine 'Liste' zu kommen.
Ich bin allerdings sehr interessiert daran, was um mich herum vorgeht - und stelle auch mit schaudernder Befriedigung fest, dass ich nicht spinne, sondern auch andere bemerken, wie sich diese Gesellschaft rasant verändert. Da ist es keine Frage des Mögens, Interesse folgt nicht unbedingt dem Lustprinzip.
Das muss man aber auch wollen, und wenn Du Dich lieber dem Schöngeistigen hingibst, ist das vollkommen in Ordnung. Es wird schon zuviel 'Gutes' aus den falschen Gründen getan - und als 'Alter weißer Mann' hast Du Dir jedes Recht erarbeitet, mit Deinem Kopf zu machen, was Du willst - und wenn es ein Bart ist :D

Liebe Grüße
Petra
 
Zum Teil geht es mir ähnlich wie John Wein, Petra. Dazu kommt noch, dass es meinem persönlichen Geschmack nicht entspricht, in einem literarischen Werk aktuelle Sach- und Zeitfragen verarbeitet zu wissen. Ich möchte diese beiden Sphären lieber auf Abstand halten: das Ästhetische und das Politisch-Gesellschaftliche. Das ist wohl auch ein Grund, warum ich Belletristik fast nur von toten Autoren oder von solchen aus weit entfernten Gesellschaften lese. Ich finde, dass sich diese beiden Bereiche nicht gut vertragen. Falls ich mich nicht täusche, leidet häufig einer der beiden (oder sogar beide). Mal sinkt das ästhetische Niveau, mal die Glaubwürdigkeit in der Sachfrage. Was ich auch gar nicht schätze, sind romanhafte Biografien, z.B. über das Leben toter Schriftsteller.

Nun kann man mir gewiss das Interesse an Zeitfragen nicht absprechen, früher habe ich insofern auch manches Buch gelesen, manchmal sogar rezensiert. Inzwischen aber bin ich durch die Lektüre von Zeitungsartikeln derart ausgelastet, dass ich keine Aufnahmefähigkeit für solche Bücher mehr habe. Ich habe auch festgestellt, dass ich zu Sachbüchern aktuellen Inhalts nach erstmaliger Lektüre kaum noch einmal greife. Ich habe ihren Inhalt in mich aufgenommen (oder auch nicht) und interessiere mich danach eher für neue Entwicklungen. Dafür bieten sich dann vor allem grundlegende Aufsätze, im Internet lesbar, an.

Gewiss macht in diesen Dingen jeder seine eigenen Erfahrungen. Es liegt mir fern, allgemeine Maßstäbe zu entwickeln. Wollte nur Gründe für meine seltenen Reaktionen vorbringen.

Liebe Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Was ich auch gar nicht schätze, sind romanhafte Biografien, z.B. über das Leben toter Schriftsteller.
Lieber Arno,

ich finde, dass es Menschen geben muss, die Ordnung schaffen, und die, die sich gerne von Gedankenwelten überwältigen lassen - und ich gehöre zu letzteren. Bei mir ist alles eins - ich verstehe viel mit dem Gefühl, aber ich gehe auch manchmal in die Irre wegen des Gefühls. Es ist meine Art, unseren Kosmos zu begreifen und vereinnahme jeden Bissen Erkenntnis und baue ihn da ein, wo er in meinem Kopf hinpasst.

Wegen der zitierten Abneigung wird Dir wohl auch mein nächstes Leseerlebnis nichts sagen: Es ist von Steven Price Der letzte Prinz über Lampedusa, der den Leopard schrieb. Ich lese es mit großem Gewinn, verstehe einiges besser. Im Grunde fasziniert mich dieser professionelle Müßiggang, der ja als das Erstrebenswerteste Ziel unserer Gesellschaft gilt - nicht mehr arbeiten müssen, viel Geld haben und nur noch Dinge tun, die man möchte. Natürlich weiß ich, dass dies eine Chimäre ist. Dem Menschen geht es nur gut, wenn er eine Aufgabe hat, die er bewältigen kann, aber auch anspornt; wenn er die nicht hat, nützt ihm auch kein Geld.

Mich hatte seinerzeit schon der Leopard faziniert und die Fragen, die er aufwarf von den sich ändernden Verhältnissen und ob man sich ihnen entgegenstellt oder mitgeht. Und das alles aus der Perspektive eines Menschen, der auf eine Ahnenreihe zurück blickt, die seit Jahrhunderten die Geschicke eines Landstrichs beeinflusst hat. Was macht das mit einem Menschen, der sich in so einer Reihe sieht? Es macht das Leben nicht leichter, so viel ist klar. Aber als zutiefst republikanisches Wesen, dass zu früheren Zeiten gerade mal Magd hätte werden können, sind das für mich blinde Flecke auf der Landkarte.
Aber ich möchte nicht vorgreifen und noch lese ich ja.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
III Werke
7. Steven Price, Der letzte Prinz, Diogenes, Zürich 2020

Im englischen (kanadischen) Original von 2019 heißt das Buch Lampedusa, und damit wird gleich offenbar, worum es geht: Um den Autor des Leopard.

Mich hatte das Buch seinerzeit (als historisch interessierten Menschen) fasziniert – und ich bekam Antworten auf Fragen, warum Menschen handeln, obwohl es ihnen selbst nicht zuträglich ist. Und auch die Verfilmung mit Burt Lancaster hatte ich gerne gesehen – weil er diesen Typus sehr gut verkörpern konnte.

Aber bevor ich abschweife.

Der Autor hat sich lange Zeit mit Lampedusa beschäftigt und hat am Ende einen biographischen Roman verfasst, und wenn man ihn liest, versteht man auch, warum. Es gibt keine gewaltigen Taten oder Äußerungen, die einem diesen Autor näherbringen könnten, das Bild erscheint durch die Verdichtung im Kopf eines Betrachters.

Das Buch setzt an dem Tag ein, an dem Lampedusa die Diagnose Lungenemphysem bekommt. Und wie er mit der Nachricht umgeht, eigentlich eher nicht umgeht, ist schon der erste Hinweis, was für ein Mensch er ist. Immer wieder erfährt der Leser detailliert, warum er etwas nicht tut. Auf dem Weg vom Arzt trifft er befreundete junge Leute, und weil diese ihn nur rauchend kennen, greift er dann doch zur Zigarette, damit sie nicht argwöhnen, etwas könne nicht mit ihm stimmen – obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, dem Rat des Arztes zu folgen und mit dem Rauchen aufzuhören.
Ständig misst er sein Handeln anhand der Wirkung, die es auf seine Umgebung hat und richtet sich danach, vollkommen unabhängig davon, was er würde wollen oder was ihm nützte. Auf dem Weg nach Hause überlegt er, wie er es seiner Frau sagen soll. Die ist nun gerade beschäftigt und der Vorsatz, es ihr gleich zu sagen – lange hat er darum gerungen – verpufft. Als er es ihr dann später sagt, hängt der sprichwörtliche Haussegen schief - die Art der Ehe der beiden wäre ein Kapitel für sich: Innige Verbundenheit bei extremer Distanz.

Lampedusa ist der letzte Spross einer einstmals mächtigen Fürstenfamilie auf der Insel Lampedusa vor Sizilien. Doch diese Zeiten sind schon lange vorbei; nicht nur die faktische Macht ist verloren, auch die Mittel sind versickert. Die Liegenschaften werfen kaum noch etwas ab, die Gebäude sind verfallen und nichts mehr wert. Er selbst lebt mittlerweile in Palermo; im Zweiten Weltkrieg wurde der Palast der Familie in der Stadt zerstört. Seine Mutter verbrachte ihre letzten Jahre in der Ruine als eine Art Stament, darauf hoffend, dass ihr Sohn sich zu ihr gesellt. Dem kommt er nicht nach, aber seine Schuldgefühle bedrücken ihn sehr. Wie er überhaupt den Eindruck eines Menschen macht, der niedergedrückt wird von großen Erwartungen in ihn, ohne dass er sie erfüllen könnte oder je die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Gleichzeitig ist er ein verwöhnter, bequemer Mensch. Sein Tagesablauf wird bestimmt durch regelmäßige Spaziergänge zu Buchhändlern, Caféhausbesuche, den Gang zum Bäcker.

Seine Frau ist Psychoanalytikerin mit überschaubarem Zulauf; bei beiden bekommt man den Eindruck, sie machen l’art pour l’art. Als jüngerer Mann tat er sich durch literaturwissenschaftliche Schriften hervor, er ist extrem belesen und gebildet und hält für einen Kreis befreundeter junger Leute Literaturvorlesungen. Der Umgang mit den jungen Leuten scheint sein einziges Glück zu sein.

Seit dreißig Jahren will er diese wirtschaftlichen Probleme angehen, aber es scheint doch irgendwie immer weiterzugehen und sie müssen sich nichts wirklich versagen. Man sagt, auf Sizilien ändere sich nie etwas.

Nach der Diagnose setzt er sich ernsthaft mit seinem Leben auseinander. Wie er aufwuchs – und sich gerne schon als Kind absonderte. Wie er seine Frau kennenlernte, die aus Estland stammte und dort auf ihrem Gut lebte und erst zu ihm zog, als am Ende des Krieges die Russen ins Land kamen. Wie er selbst in den Krieg musste und wie er aus den Wirren wieder nach Hause fand. Und er stellte sich die Frage, was er hinterlassen würde. Und so schrieb er die Geschichte des Fürsten zwischen 1860 und 1910 auf, zu dessen Zeit sich das Schicksal seiner Familie und sein eigenes entschieden hatte, ein Mann, der ihn zeitlebens beschäftigt hatte und der sinnbildlich eine zu Ende gehende Epoche markiert. Diese Tätigkeit wird die bisherigen Aktivitäten ergänzen und fast verdrängen. Im Caféhaus liest er nicht mehr, sondern er schreibt. Dieser Fluss, dieses erst langsam wachsende Vertrauen in das eigene Vermögen, wie er erst die eine Gelegenheit beschreibt und aus ihr wieder eine andere erwächst und die Notwendigkeit, noch andere Begebenheiten zu schildern und an den Anfang zu setzen. Es ist sehr schön, diesen Schaffensprozess beobachten zu dürfen, den man nur im Kopf Lampedusas erlebt.
Er wird dieses Buch zu Ende schreiben, und er erlebt noch, wie zwei namhafte Verlage es ablehnen.

Gegen Ende seines Lebens wird er einen der jungen Männer adoptieren, der ihm am liebsten ist, damit einer der Titel erhalten bleibt, der ihm am Herzen liegt und den er vererben kann. Der Fürstentitel ist es nicht.

Ein Jahr nach seinem Tod 1958 wird ‚der Leopard‘ veröffentlicht und zum meistgelesenen italienischen Buch des 20. Jahrhunderts weltweit und 1963 verfilmt.

Man kann geteilter Meinung sein über eine Lebensdarstellung als Roman, aber im vorliegenden Fall scheint dieses Leben eine Fortsetzung oder ein Nachhall der Ereignisse zu sein, die Lampedusa in seinem Buch beschreibt. Es brauchte Generationen, bis der Niedergang sich vollendete und mit Lampedusas Tod war er vollendet.
Wenn ich mir den Mann anschaue, dessen Bild man in Wikipedia findet, dann ist er genau so gewesen, wie ihn Price beschreibt.
 
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