Wenn schwarz kommt, statt rot, dann bist du tot

Haselblatt

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Auf den letzten einhundert Metern vor der Einfahrt zur Tiefgarage gab es einen dichten Stau. Hugo P. ließ die Limousine ausrollen und schaltete den Motor aus. Jeden Freitag um diese Zeit ist es dasselbe, schimpfte er in Gedanken. Ständig verstopft dieses Gesindel die Zufahrt und behindert unsereiner qualifiziertes Personal am Weiterkommen.
In Wirklichkeit hatte er es gar nicht eilig, aber eine ruhelose Ungeduld war ihm angeboren. Auch das Schlangestehen vor der Kassa im Supermarkt oder beim Einsteigen in den Bus war ihm verhasst bis zum Geht-Nicht-Mehr.
Diesmal, an diesem Freitag Nachmittag, hatte Hugo P. aber tatsächlich Grund zur Ungeduld. Vor wenigen Wochen hatte er es erstmals gewagt, gemeinsam mit einem Freund ein Spielcasino zu betreten. Der Freund war seit Jahren ein passionierter Spieler und bezeichnete sich selbst als Profizocker, was immer man sich darunter vorstellen wollte. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang aber, dass die Möbel und Einrichtungsgegenstände seiner Wohnstatt in einem Zustand waren, der keinen Rückschluss auf professionelle Einnahmen aus dem Glückspielbetrieb vermuten ließ. Dennoch ließ sich Hugo P. von der Aussicht auf arbeitslose und unterhaltsame Einkünfte sehr schnell vom Fieber seines Freunds anstecken und war heute schon das zehnte Mal in „geschäftlicher Mission“ auf dem Weg ins Casino. Mancherorts werden diese Zockertempel auch als Spielbank bezeichnet, was die Angelegenheit aber keineswegs weniger anrüchig macht.

Endlich begann sich der Stau da vorne aufzulösen und Hugo P., von prickelnder Vorfreude erfüllt, rollte bedächtigen Tempos in eine leere Koje der Tiefgarage. Hier angekommen veränderte sich aber sein Gemütszustand von Vorfreude in Richtung Aufregung. Hastig erklomm er die Stufen zur oberen Etage und betrat Sekunden später die Vorhalle, um sich bei der Rezeption als Besucher zu registrieren. Drei Besucher waren vor ihm an der Reihe und Hugo P. musste sich erneut in Geduld üben. Immer dieses unqualifizierte Gesindel.
Die Willkommens-Prozedur war nach wenigen Minuten endlich abgeschlossen und der Chasseur - so nennt man die Türsteher im Casino - hatte Hugo P. mit einem jovialen „schönen Abend und viel Glück“ in den Spielsaal passieren lassen.
Zunächst sog er das spannungsgeladene Flair des Raums in sich ein, mit leichtem aber freudigen Herzklopfen. Denn heute, dessen war sich Hugo P sicher, ja heute würde er gnadenlos zuschlagen und seine mitgebrachte Begeisterung mit Hilfe eines neuen, angeblich unfehlbaren Systems in klingende Münze verwandeln.
Beim Tisch Nummer drei, wo nach französischem Reglement gespielt wurde, war noch ausreichend Platz und Hugo P. setze sich auf einen der Stühle am vorderen Ende, direkt neben „Rouge“, dem Feld für die roten Zahlen. Der Platz neben ihm war von Madame Mim besetzt, eine gepflegte ältere Dame, die in jungen Jahren gewiss eine Schönheit gewesen sein musste. Hugo P. nickte ihr freundlich zu, denn sie kannten sich oberflächlich von voran gegangenen Besuchen in diesem Etablissement. „Sieh mal an, Sie auch wieder auf Streifzug?“ erwiderte Madame Mim seinen Gruß. Er grinste nur unverbindlich und schwieg. Natürlich kannte er nicht ihren richtigen Namen, aber ihre äußere Erscheinung erinnerte ihn an Walt Disneys Comicfigur aus dem Zoo von Entenhausen.

Französische Roulettetische werden in der Regel von einem Dreimann-Team bedient: Rechts und links des Kessels sitzt je ein Croupier, von denen jeweils einer den Zylinder dreht und die Kugel setzt. Am oberen Tischende, erhöht wie auf dem Thron, sitzt Le Chef, meist ein altgedienter Casinohaudegen, dessen Aufgabe es ist, mit strengem Blick sein Team und die Spieler zu beobachten. Etwa alle halben Stunden wird das Trio von einer anderen Dreier-Garnitur abgelöst.
Hugo P. hatte im Zuge seiner Besuche die meisten der Croupiers kennen gelernt. Nicht etwa persönlich, sondern rein physiognomisch. Jeden dieser Herren versah er mit einem Spitznamen, der in Zusammenhang mit dem Erscheinungsbild der betreffenden Person stand. Im Augenblick regierte auf dem Chefsessel „Schweinchen Schlau“, ein leicht untersetzter und dicke Brillen tragender Herr im gehobenen Alter, der sicher nicht mehr lange bis zur Rente auf diesem Sessel verharren musste. Zu dessen rechter Hand, als linkshändiger Dreher, saß „Pepo Traurigmann“, stets mit ernstem, um nicht zu sagen finsterem Gesichtsausdruck. So, als säße er vor Gericht und habe eben ein vernichtendes Urteil zur Kenntnis nehmen müssen.
Ihm gegenüber - vorerst mit dem Schlichten von Jetons beschäftigt - saß „Der Würger von Boston“, ein Schrank von einem Mann, sicher an die zwei Meter groß, dunkelhaarig, mit Stoppelfrisur und dünnem Oberlippenbart nach Art von Clarc Gable.
Ringsum hatten sich an die neun Spieler beiderlei Geschlechts versammelt. Einige hatten Platz auf den Sitzen genommen, andere standen dahinter und klimperten nervös mit ihren Jetons. Das Tableau war bereits gut mit Steinen aller Größen und Farben bepflastert und es sollte nicht mehr lange dauern, bis die nächste Kugel rollen würde. Hugo P. legte ein einziges Stück mit dem kleinst möglichen Wert auf „Rouge“.
„So, jetzt geh'n wirs an!“ sprach er zu Madame Mim gewandt und lächelte geheimnisvoll. „Heute werde ich es denen zeigen“.
Madame geruhte seine Worte zu ignorieren, war sie doch zu sehr mit ihrem eigenen Einsatz beschäftigt und hatte kein Ohr für ihren Sitznachbarn. Sekunden später erklang das leise Rollgeräusch, das die Kugel auf dem Weg von der Hand des Croupiers bis zum Einfall in den Zylinder begleitet.
„Onze - noir - impair - manque, elf schwarz“ lautete das Ergebnis, das Pepo Traurigmann eben verkündete. Er zeigte mit der Spitze des Rechens, mit dem die Croupiers die Jetons vom Tisch abräumen, auf die Zahl elf, mitten im Tableau. Sein Kollege, der Würger, ergänzte mit „Transversale simple, Carré, en plein“, womit die Jetons der gewinnenden Chancen gemeint sind.
Hugo P. musste enttäuscht zusehen, wie Pepo seinen Einsatz und den anderer Spieler mit dem Rechen abzog.

Die Szenerie wiederholte sich in gleicher Weise genau drei Mal: Hugo P. beharrte auf Rouge, wobei er bei jedem Versuch die Stückzahl gegenüber dem vorigen Satz verdoppelte. Es erschienen aber bösartiger Weise die Zahlen 15, 33 und 8, alle schwarz. Endlich aber, beim fünften Versuch, gelang der ersehnte Treffer mit 16 Stück auf der roten neun. Bis dahin hatte Hugo P. insgesamt 31 Stücke eingesetzt, erhielt zu seinen 16 Stück nochmals 16 Stück als Gewinn und konnte demnach genau ein Stück als Gewinnsaldo buchen.
Niemand soll jetzt denken, dieser Verlauf habe Hugo P. in nervöse Bedrängnis gesetzt. Er trug dermaßen viel Schotter in seiner Jackentasche, dass er einen Angriff dieser Länge mit lockerer Hand wegstecken konnte.
Im weiteren Spielverlauf zeigte sich Fortuna gnädig, indem die Farbfolge der Würfe in kurzen Serien immer wieder zu Rouge zurück kehrte. Auf diese Weise schaffte er es, nach einer knappen Stunde auf einen Saldo von zwölf Stücken seines Basissatzes blicken zu können. An Madame Mim gerichtet, frohlockte Hugo P.: „Es funktioniert, sehen Sie?“
„Junger Mann,“ erwiderte sie, „Sie wissen aber schon, dass das Spiel, das Sie hier treiben, reinste Kamikaze ist, oder?“
Madame Mim wusste, wovon sie sprach. Im Spielerjargon bezeichnet man die Strategie, die Hugo P. verfolgte, als Martingale-Progression. Das ist ein französisches Wort und bezeichnet weder einen mittelalterlichen Gesang, noch einen Ganslbraten, sondern es bedeutet schlicht und einfach Rückengurt. Und den benötigt man auch dringend, wenn man sich auf diese Strategie einlässt.
„Ach was,“ erwiderte Hugo P. leichtfertig. „Sie werden sehen, das läuft wie geschmiert!“
Und siehe da: Das Schicksal meinte es gut mit ihm, denn nach einer weiteren Stunde konnte Hugo P. auf eine Zunahme seines Gewinns auf 26 Stück blicken und entschied sich für eine kurze Kaffeepause an der Bar, bevor er sein geniales Treiben fortsetzen würde.

Als Hugo P. zu Tisch Nummer drei zurück kehrte, war Madame Mim nicht mehr zugegen. Auch sein vorheriger Sitzplatz war von einer dicken, nach Veilchen duftenden Mumie in Beschlag genommen worden und alle übrigen Sessel waren besetzt. Hugo P. knurrte leise in sich gekehrt und nahm den Stehplatz in der zweiten Reihe ein.
„Rot bis zum Tod“ lautete weiterhin seine Devise, und er begann seinen Angriff mit dem einen Stück zum Basiswert. Der Chefsessel war mittlerweile mit Jonas Bleyfrey besetzt, und als Kesseldreher fungierte Josche Mesawetz, ein Jungspund mit dem Gesicht von Brandon Stark aus dem Phantasy-Epos Game Of Thrones.
Drei Mal funktionierte alles wie gewohnt und in Hugo P.s Hosentasche klimperten mittlerweile 29 Jetons, die er als Nettogewinn vom übrigen Spielkapital getrennt hatte. Längstens eine halbe Stunde hatte er noch vor sich, dann wollte er das begnadete Kapitel seines Erfolgs beendet haben. Immerhin ist ein Stehplatz in Verbindung mit Casinostress kein reines Honigschlecken, und Hugo P.s Füße begannen langsam zu schmerzen.

Der aktuelle Angriff war soeben mit dem sechsen Fehlsatz zu Ende gegangen. Hugo P. musste erstmals an diesem Tag den Gegenwert von 64 Jetons auf das Rouge-Feld desTableaus legen. Fortuna schien immer noch zu schlafen, denn es erschien die schwarze 22. Hugo P. spürte, wie das Volumen seiner Jackentasche erheblich abzunehmen im Begriff war - aber, alles kein Problem: einmal geht's sicher noch, mit dem Gegenwert von 128 Stücken, für die er erstmals wahres Bares nachschießen musste.
Josche Mesawetz blickte Hugo P. schräg von unten ins Gesicht, sodass er das Weiße unter den Augen deutlich erkennen konnte, schnappte mit gelerntem Griff die Kugel und drehte den Zylinder an. Es vergingen keine 15 Sekunden, dann war die Kugel in der schwarzen sechs gelandet.
Hugo P. griff sich an den Hals und löste die Krawatte. Es war auf einmal ziemlich heiß hier drin.
Dann holte er ein dickes Bündel Banknoten der dreistelligen Sorte aus dem Sakko, das letzte an Barem, das er noch besaß und knallte es auf Rouge. Der zweite Croupier, für den Hugo P. noch keinen Spitznamen parat hatte, zog die Scheine mit dem Rechen zu sich, zählte sie und schob den Wechselwert in Jetons zurück auf das rote Feld.
Es dauerte diesmal mehrere Minuten, bis alle anderen Spieler ihre Einsätze platziert hatten. In der Zwischenzeit war auch der Saalinspektor an den Platz neben dem Chef getreten und beide tuschelten mit vorgehaltener Hand.
„Messieurs, faites vos jeux“, tönte Jonas Bleyfrei schließlich in die Runde und blickte kurz auf seine Armbanduhr. Wahrscheinlich ist bald Ablöse, oder gar Feierabend, und Josche, der Messerwetzer, setzte die Kugel. Diese war bei diesem Wurf extrem schnell unterwegs und es dauerte endlose 22 Sekunden, ehe ein leises Klickern im Kessel das Fallen der Kugel verkündete. Hugo P. stand da mit geschlossenen Augen und zitterte.
„Vingt huit - noir - n'impair - passe, achtundzwanzig schwarz“ lautete die Verkündung des Todesurteils.


Es war inzwischen schon dunkel geworden und regnete ein wenig, als Hugo P. seinen Boliden aus der Tiefgarage ins Freie lenkte. Die Wischerblätter kratzen ekelhaft an der Windschutzscheibe und nach wenigen hundert Metern steckten beide, er und sein Bolide, wieder im Stau. Frustration pur, ihm war zum heulen.
Jeden Freitag um diese Zeit ist es dasselbe, schimpfte er in Gedanken. Ständig verstopft dieses Gesindel die Ausfahrt und behindert unsereiner qualifiziertes Personal am Weiterkommen.
 
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John Wein

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Hallo Haselblatt,
In dieser Liga kann ich nicht mitspielen, ja nicht einmal im Lotto mache ich Kreuzchen! Aber ein nach und nach einsetzendes Kribbeln, das sich im Verlauf der Geschichte mehr und mehr einstellte, hat mir einen spannungsgeladenen Blick in die Welt der Glücksritter und Spielsüchtigen offenbart. Charaktere und Handlungen finde ich gut und verständlich illustriert. Bist wohl selbst ein Zocker! ...oder? :cool:
LG, John
 

Haselblatt

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Spieler... Gambler... Zocker... - alles Ausdrücke mit anrüchigem Hintergrund. Zurecht - wie ich behaupte, denn der regelmäßige Konsum dieser Art von Unterhaltung markiert ein durchaus gefährliches Suchtverhalten.
Und ja, du hast recht: Seinerzeit zählte i ch mich tatsächlich zum erlauchten Kreis der erfahrenen Spieler. Seinerzeit, weil mein letzte Casinogang datiert im Jahr 2007. Ergo bin ich seit 15 Jahren clean.
 



 
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