Liebe Marie!
Dass da ein Anderer ist an deiner Seite, das weiß ich längst.
Immerhin liegt dein letzter Besuch sieben Wochen zurück und schlecht geschauspielert hast du auch.
Ich akzeptiere das. Du bist jung, hübsch; was sollst du also mit einem, der seit drei Jahren im Knast sitzt und selbst bei guter Führung erst in dreizehn Monaten raus kommt.
Dass ich der Vater deines Kindes bin? Viele Kinder wachsen ohne den leiblichen Vater auf
Dass wir uns einmal sehr geliebt haben? Viele Beziehungen gehen kaputt und ich werde ein ganz anderer Mensch sein nach meiner Entlassung.
Natürlich werde ich im Rahmen meiner Möglichkeiten finanziell für unser Kind sorgen.
Versprich mir nur eins- erzähl der Kleinen nicht, ich wäre ein schlechter Mensch gewesen und vor allem kein Totschläger.
Deswegen will ich dir heute in meinem letzten Brief etwas mitteilen, was ich damals selbst dem Anwalt nicht erzählt habe. Es hätte mir eh nichts genutzt. Es sind keine Fakten und nur die haben Bestand.
Ich weiß, dass du die ganze Vorgeschichte kennst, aber ich muss beim Urschleim anfangen.
Denn jede Nacht seit dem Unfall laufen die Ereignisse als Film vor meinem inneren Auge ab.
Es war also der bewusste Samstagmorgen vor drei Jahren. Ich fuhr mit dem Lkw auf der A9 in Richtung Berlin, die Ausfahrt Köselitz lag kurz hinter mir.
Die Stunde der toten Augen- grau brachte sich der Morgen in Erinnerung, aber noch war es Nacht. Viele Unfälle passieren in dieser Zeit, es ist die biologische Uhr, welche die Lider schwer werden und die Konzentration sinken lässt. Aber ich war putzmunter, erst seit drei Stunden am Arbeiten. Noch dreißig Minuten, dann das Auto an die Rampe stellen, ab nach hause und Wochenende.
Der Verkehr tendierte gen Null, ich hätte minutenlang mit aufgeblendeten Scheinwerfern fahren können.
Im Rückspiegel sah ich ein schnell näher kommendes Auto. Das Licht sah irgendwie seltsam aus, als ob der Wagen drei Scheinwerfer hatte. Dann erkannte ich, dass es zwei Fahrzeuge waren. Sie fuhren sehr schnell auf der ganz linken Spur, der hintere Wagen etwas seitlich versetzt, dadurch die Illusion der drei Scheinwerfer. In unregelmäßigen Abständen versuchte der Fahrer des hinteren Wagens den Vorausfahrenden mittels Lichthupe zum Spurwechsel zu bewegen. Irgendein niederer Jagdinstinkt lässt die Leute immer wieder solchen Schwachsinn veranstalten.
Als die Beiden genau neben mir waren, bestimmt doppelt so schnell wie ich, also ungefähr 180, gab der Vordere mit seinem Blinker zu erkennen, dass er nun die Spur wechseln würde. Sofort verkürzte der hintere Wagen den Abstand von vielleicht drei Metern auf maximal Einen. Ein Wahnsinn bei dem Speed.
Der vordere Wagen, ein dicker, dunkler Audi mit polnischem Kennzeichen, schob sich langsam nach rechts, aber kurz bevor der Abstand links neben ihm zu einem wenn auch gefährlichen Überholen ausgereicht hätte, unterbrach er die Seitwärtsbewegung. Das brachte den Fahrer des ebenfalls dunklen BMW hinter ihm aus dem Konzept. Er verriss kurz das Lenkrad, touchierte die Mittelleitplanke, kam wieder von ihr weg, schoss nach rechts über alle drei Spuren, tauchte, da am rechten Rand keine Leitplanke war, in den flachen Straßengraben ein und verschwand ungefähr fünfhundert Meter vor mir mit einem wilden Flicflac im Kiefernwald.
Der Audi bestand nur noch aus sich schnell entfernenden roten Lichtpünktchen.
Schon als die Beiden so rasant an mir vorbei flogen, hatte ich den rechten Fuß über dem Bremspedal, die ganze Situation stank förmlich im Vorfeld und beim Touche an der Leitplanke ging ich in die Eisen. Immerhin hatte ich fünfundzwanzig Tonnen Zement geladen und dass der BMW im Wald verschwinden würde, konnte ich ja nicht voraus sehen. Eine fette Staubwolke hing in der Luft und wies mir den genauen Weg des Unfallwagens.
Auf der anderen Straßenseite fuhr ein Kollege vorbei, ich rief ihm über Funk zu, er solle Polizei und Krankenwagen rufen, A9 zwischen Köselitz und Klein Marzehns, Fahrtrichtung Berlin. Er rief zurück, ob ich Hilfe bräuchte, ich antwortete, ich weiß es noch nicht, aber wird schon jemand in meiner Fahrtrichtung kommen und anhalten.
Ich griff hinter den Fahrersitz, kramte die Taschenlampe hervor. Sie funktionierte sogar. Dann nahm ich meine Arbeitshandschuhe und rannte los.
Es war mir schon öfter passiert, dass ich der Erste an einer Unfallstelle bin und ich wusste, wie schmerzhaft es sein kann, wenn man jemanden aus einem Auto zieht und sich erst durch Scherben oder heiße Motorteile kämpfen muss, deswegen die Handschuhe.
Der Wald an der Unfallstelle besteht aus erwachsenen Kiefern, so dreißig bis vierzig Zentimeter dick. Sie stehen mit unterschiedlichen Abständen im kniehohen Gras und der BMW konnte nicht allzu weit gekommen sein. Dreißig Meter hatte er aber doch geschafft, denn in etwa dieser Entfernung sah ich ihn hochkant mit der Schnauze im Dreck an zwei eng stehenden Kiefern. Der Motor hatte sich selbst abgewürgt und ich hoffte, dass sich kein Benzin auf irgendwelchen Krümmern oder Strom führenden Teilen entzünden würde.
Beinahe trat ich auf etwas Buntes, das vor mir im Gras lag.
Ich erschrak.
Da lag ein kleines Mädchen.
Du weißt, ich bin nicht religiös, aber in diesem Moment sagte ich doch so was wie: ‚Lieber Gott, mach es mir nicht so schwer heute. Ich will ja helfen, aber versau mir nicht für ewige Zeiten den Spaß an der Arbeit’
In Gedanken setzte ich sogar noch ein ‚Bitte’ dazu.
Die Kleine, ungefähr vier Jahre alt, lag in einer fast exakten stabilen Seitenlage auf dem Waldboden. Helles Blau schien ihre Lieblingsfarbe zu sein. Im wirr daliegenden schwarzen Haar funkelte eine blaue Spange, das T-Shirt war himmelblau, die knielangen Radlerhosen ebenso, blaue Sandalen mit Glitzer drauf hatte sie an den Füßen, besser gesagt nur am Rechten, der Linke trug nur eine Ringelsocke in Blaugelb. Kratzer auf den dünnen Beinchen und eine tiefe Fleischwunde auf dem linken Unterarm, das waren die einzigen Verletzungen, die ich erkennen konnte.
Das Auto lag noch zehn Meter weiter als die Kleine, vermutlich hatte sie auf dem Rücksitz liegend geschlafen und wurde einfach herausgeschleudert bei einem Überschlag.
Es roch nach heißem Metall und Benzin, aber nicht brenzlig. Das Wrack knackte, ab und an unterbrochen vom Geräusch herabrieselnder Glassplitter.
Ich strich dem Mädchen die Haare zur Seite und als ich meine Hand zurückzog, sah ich viel glänzendes Blut im Schein meiner Lampe. Vorsichtig nahm ich die Locken am Hinterkopf hoch und stolperte vielleicht zwei Schritte rückwärts.
Da war kein Hinterkopf mehr.
Eine schleimige blutverschmierte Masse vermischte sich mit dem Gras und Sand und das Blut hatte schon einen beachtlichen Fleck Waldboden dunkel gefärbt.
Ich wurde panisch. Was sollte ich auch machen?
Etwa, entschuldige diese Pietätlosigkeit, alles in den Kopf schieben und die Hand schützend darüber halten bis Hilfe kommt? Alles konnte falsch und genauso richtig sein.
Dann sah ich, wie die Kleine den Mund bewegte. Nicht als ob sie sprechen wollte, mehr wie ein Suchen nach Nuckel oder Daumen.
Ich besah mir ihre Hände. Die Spuren waren eindeutig, sie nuckelte am rechten Daumen. Ihre rechte Hand lag schon in der richtigen Position, ich musste sie nur noch ein paar Zentimeter zu ihr hin schieben. Die Augenlider des Mädchens flackerten ein wenig, wurden aber sofort ruhig, als sie den Daumen gefunden hatte. Die linke Hand nahm ich mit Zeige- und Mittelfinger ein wenig hoch. Mit sanftem Druck erwiderte sie meine Geste.
Dann kam der schrecklichste Moment dieses Morgens.
Urplötzlich wurde aus der kleinen warmen Hand, die meine beiden Finger umschloss, etwas Lebloses. Die Mundbewegungen am Daumen hörten auf und zum ersten Mal in meinem Leben hörte in meinem Beisein ein Herz auf zu schlagen.
Und ich konnte nichts machen.
Ich weiß nicht, wie lange das Alles gedauert hat, und ich weiß auch nicht, wie lange ich heulend neben der Kleinen gehockt habe, aber irgendwann brachte mich ein Knacken hinter mir dazu, mich umzudrehen.
In einem regelmäßigen Kreis von vielleicht sieben, acht Metern Durchmesser saßen oder hockten seltsame Gestalten um mich herum. Große schwarze Schatten, wie Geier mit hochgezogenen Schultern. Sie knurrten und knackten mit irgendwelchen Gliedmaßen oder Kiefern, begannen unruhig den Kreis enger zu machen.
Dann ertönte ein scharfes Zischen.
‚Schhhhhhhhhhhh!’ machte es.
An der der Tiefe des Waldes zugewandten Seite des Kreises hüpften zwei der Schatten unbeholfen auseinander und schufen so eine Öffnung, durch die eine große, aus meiner Hockposition sogar riesengroße Gestalt trat. So um die zweieinhalb Meter hoch vielleicht, gekleidet in einen schwarzen oder doch zumindest sehr dunklen Umhang mit Kapuze.
‚Der Tod!’ dachte ich erschrocken. Aufstehen konnte ich nicht, überhaupt keine Bewegung war mir möglich.
Die hohe Gestalt hob ein wenig die Kapuze, aber außer zwei leuchtenden Punkten, wohl den Augen, war nichts zu erkennen. Die beiden Ärmel seines Gewandes, die ineinander verschränkt waren wie bei einem Mönch, öffneten sich und eine unendlich lange strahlendweiße Knochenhand erschien.
Zuerst hielt sie mit einer Geste, die international für „Stop“ steht, die unruhigen Gestalten um mich herum zurück. Bis auf den Zeigefinger knickten die anderen Finger ein und die Hand bewegte sich zweimal von links nach rechts und zurück, wie um zu sagen: ‚Das ist nichts für euch’.
Dann schoss der Finger auf mich zu, schwenkte dann ein wenig herum und wies auf einen Punkt etwa drei Meter neben mir. Ohne eine Lichtquelle erkannte ich dort einen handlichen Kiefernknüppel, ungefähr einen Meter lang und geformt wie einen Baseballschläger. Der Finger wanderte weiter und wies auf den Wagen, der auf seinen Kühlergrill gestützt an den beiden Bäumen stand.
Wie auf Kommando begann es in dem Wrack zu poltern, ich leuchtete hinüber, sah wie jemand versuchte, die Fahrertür von innen zu öffnen, hörte ein Fluchen und Husten, ein Schlagen gegen Glasreste und konnte dann einen Mann erkennen, der sich kopfüber aus der Frontscheibenöffnung wälzte.
Er fiel zu Boden, stütze sich an dem einen Baum ab, stand wankend auf und starrte auf sein Auto.
Von Ferne erkannte ich schon ein bläuliches Flackern aus Richtung Autobahn, Hilfe war also im Anmarsch.
Das ganze Ausmaß der Zerstörung erkennend, begann der Mann plötzlich zu brüllen.
‚Das Schwein bring ich in den Knast! Der Polacke hat mich abgedrängt! Wo ist das Scheißhandy?!’ und alles so wirres Zeug.
Nach dem kleinen Mädchen suchte er nicht.
Der große Schwarze wies erneut energisch zu dem Mann.
Ich nahm den Knüppel, ging ohne Geräusche zu verbergen hinüber, der Mann stand ja mit dem Rücken zu mir, holte weit aus und schlug zu.
Der Kerl erstarb in seinen Bewegungen.
Das Knirschen des Knüppels oder des Schädels, es war mir egal, pflanzte sich über das Holz und meinen Arm bis in mein Herz fort, es steigerte meine Wut über die Selbstsucht dieses Mannes. Er hatte, um seinen Alphamännchen-Trieb zu befriedigen, das Leben anderer, wahrscheinlich seiner eigenen Tochter aufs Spiel gesetzt und selbst jetzt interessierte ihn nur der Sachschaden. Dass der Mann unter Schock stehen konnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich hatte ja den Unfallhergang gesehen und wusste, dass er schuld war.
Als ich erneut ausholen wollte, hing der Knüppel irgendwie fest. Ich musste mehrmals rütteln um ihn los zu bekommen. Wiederum holte ich Schwung, der Mann ging währenddessen in die Knie, ließ aber die Arme wie in einer flehenden Geste hoch aufgerichtet. Im Schwungholen sah ich, dass der Knüppel an der Stelle, mit der ich den Mann getroffen hatte, einen ungefähr zehn Zentimeter langen Aststumpf besaß. Dieser Stumpf musste dem Mann tief in den Schädel gedrungen sein.
Zu einem zweiten Schlag kam es nicht mehr.
Zwei Rettungssanitäter, die inzwischen angekommen waren, drehten mir brutal die Arme auf den Rücken. Einer drückte mich dann zu Boden und der Andere lief zu dem Mann, der immer noch reglos kniete und die Arme hoch hielt.
Polizei kam dazu, riß mich weg von dem Ort.
‚Seht ihr nicht den Tod? Seht ihr nicht, was der da macht?’
Aber wahrscheinlich war mein Geschrei bar jeder menschlichen Verständigung und so blieb ich wohl alleiniger Zeuge der Szene.
Der große Schwarze war inzwischen an den Knienden herangetreten, unbemerkt von den beiden Sanitätern, die den Mann ansprachen und sich selbst medizinische Fachausdrücke zuwarfen. Mit der langen dünnen weißen Knochenhand griff der Tod dem Verletzten oben in die Kopfwunde hinein, tiefer und tiefer schob er seinen Arm in den Körper, den Blick der hohlen Augen nach oben ins Nichts gewand. Die Bewegung des Armes erstarb, er hatte wohl gefunden, was er suchte, mit einem Ruck riss er an dem Gefundenen, zog ein langes schwarzes Seil aus dem Schädel des Mannes, nahm die andere Hand zu Hilfe und verschwand mit den anderen Schattengestalten unter Gekreisch und Gewinsel im Wald.
Der Mann fiel im gleichen Augenblick zusammen wie eine Marionette, der man sämtliche Fäden mit einem Mal durchschneidet.
Wie du weißt, wollte man mich erst wegen Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls belangen, aber schnell erkannten die Ermittler, dass der BMW-Fahrer selbst Schuld gewesen sein muss. Der Vorwurf des Totschlages blieb und dafür sitze ich ja nun auch.
Jede Nacht, aber wirklich jede, versuche ich einzuschlafen, bevor die Bilder kommen. Es gelingt selten, eigentlich nur, wenn ein wenig Gras im Spiel ist. Doch selbst das mildert es nicht für mich.
Denn immer zur Zeit des Unfalles, um drei Uhr siebenunddreißig, erscheint das kleine Mädchen vor mir. Längst ist sie älter geworden, sieben oder acht jetzt, spricht aber immer noch mit der Stimme einer Vierjährigen.
Und jede Nacht fragt sie mich ununterbrochen: ‚Wo ist Papa? Wo ist Papa? Wo ist Papa?’
Ich erwache dann in einer Ecke auf dem Fußboden sitzend, die Hände schützend über den Kopf gebreitet, weil ich Angst vor den schwarzen Schatten habe.
Jede Nacht! Seit drei Jahren!
Noch einmal: Du weißt, ich bin nie ein religiöser Mensch gewesen. Hätte ich etwas ändern können, wenn ich vielleicht eine halbe Stunde später losgefahren wäre?
‚Natürlich!’ wirst Du denken.
'Nein!' werde ich dir dann antworten, es war Bestimmung.
Ich bin nämlich nicht später losgefahren, ich bin zur exakten Zeit an der Unfallstelle gewesen, ich habe diesen Kerl erschlagen und ich würde es wieder tun. Vielleicht dafür die Strafe. Weil ich das Böse gesehen habe.
Die Strafe.
Leb wohl, Marie!
Besuch mich nicht mehr!
Ich bin ein anderer Mensch!
Ich muss mich jetzt verstecken, es ist fünfundzwanzig Minuten nach Drei!
Fahr immer vorsichtig!
Karl
Dass da ein Anderer ist an deiner Seite, das weiß ich längst.
Immerhin liegt dein letzter Besuch sieben Wochen zurück und schlecht geschauspielert hast du auch.
Ich akzeptiere das. Du bist jung, hübsch; was sollst du also mit einem, der seit drei Jahren im Knast sitzt und selbst bei guter Führung erst in dreizehn Monaten raus kommt.
Dass ich der Vater deines Kindes bin? Viele Kinder wachsen ohne den leiblichen Vater auf
Dass wir uns einmal sehr geliebt haben? Viele Beziehungen gehen kaputt und ich werde ein ganz anderer Mensch sein nach meiner Entlassung.
Natürlich werde ich im Rahmen meiner Möglichkeiten finanziell für unser Kind sorgen.
Versprich mir nur eins- erzähl der Kleinen nicht, ich wäre ein schlechter Mensch gewesen und vor allem kein Totschläger.
Deswegen will ich dir heute in meinem letzten Brief etwas mitteilen, was ich damals selbst dem Anwalt nicht erzählt habe. Es hätte mir eh nichts genutzt. Es sind keine Fakten und nur die haben Bestand.
Ich weiß, dass du die ganze Vorgeschichte kennst, aber ich muss beim Urschleim anfangen.
Denn jede Nacht seit dem Unfall laufen die Ereignisse als Film vor meinem inneren Auge ab.
Es war also der bewusste Samstagmorgen vor drei Jahren. Ich fuhr mit dem Lkw auf der A9 in Richtung Berlin, die Ausfahrt Köselitz lag kurz hinter mir.
Die Stunde der toten Augen- grau brachte sich der Morgen in Erinnerung, aber noch war es Nacht. Viele Unfälle passieren in dieser Zeit, es ist die biologische Uhr, welche die Lider schwer werden und die Konzentration sinken lässt. Aber ich war putzmunter, erst seit drei Stunden am Arbeiten. Noch dreißig Minuten, dann das Auto an die Rampe stellen, ab nach hause und Wochenende.
Der Verkehr tendierte gen Null, ich hätte minutenlang mit aufgeblendeten Scheinwerfern fahren können.
Im Rückspiegel sah ich ein schnell näher kommendes Auto. Das Licht sah irgendwie seltsam aus, als ob der Wagen drei Scheinwerfer hatte. Dann erkannte ich, dass es zwei Fahrzeuge waren. Sie fuhren sehr schnell auf der ganz linken Spur, der hintere Wagen etwas seitlich versetzt, dadurch die Illusion der drei Scheinwerfer. In unregelmäßigen Abständen versuchte der Fahrer des hinteren Wagens den Vorausfahrenden mittels Lichthupe zum Spurwechsel zu bewegen. Irgendein niederer Jagdinstinkt lässt die Leute immer wieder solchen Schwachsinn veranstalten.
Als die Beiden genau neben mir waren, bestimmt doppelt so schnell wie ich, also ungefähr 180, gab der Vordere mit seinem Blinker zu erkennen, dass er nun die Spur wechseln würde. Sofort verkürzte der hintere Wagen den Abstand von vielleicht drei Metern auf maximal Einen. Ein Wahnsinn bei dem Speed.
Der vordere Wagen, ein dicker, dunkler Audi mit polnischem Kennzeichen, schob sich langsam nach rechts, aber kurz bevor der Abstand links neben ihm zu einem wenn auch gefährlichen Überholen ausgereicht hätte, unterbrach er die Seitwärtsbewegung. Das brachte den Fahrer des ebenfalls dunklen BMW hinter ihm aus dem Konzept. Er verriss kurz das Lenkrad, touchierte die Mittelleitplanke, kam wieder von ihr weg, schoss nach rechts über alle drei Spuren, tauchte, da am rechten Rand keine Leitplanke war, in den flachen Straßengraben ein und verschwand ungefähr fünfhundert Meter vor mir mit einem wilden Flicflac im Kiefernwald.
Der Audi bestand nur noch aus sich schnell entfernenden roten Lichtpünktchen.
Schon als die Beiden so rasant an mir vorbei flogen, hatte ich den rechten Fuß über dem Bremspedal, die ganze Situation stank förmlich im Vorfeld und beim Touche an der Leitplanke ging ich in die Eisen. Immerhin hatte ich fünfundzwanzig Tonnen Zement geladen und dass der BMW im Wald verschwinden würde, konnte ich ja nicht voraus sehen. Eine fette Staubwolke hing in der Luft und wies mir den genauen Weg des Unfallwagens.
Auf der anderen Straßenseite fuhr ein Kollege vorbei, ich rief ihm über Funk zu, er solle Polizei und Krankenwagen rufen, A9 zwischen Köselitz und Klein Marzehns, Fahrtrichtung Berlin. Er rief zurück, ob ich Hilfe bräuchte, ich antwortete, ich weiß es noch nicht, aber wird schon jemand in meiner Fahrtrichtung kommen und anhalten.
Ich griff hinter den Fahrersitz, kramte die Taschenlampe hervor. Sie funktionierte sogar. Dann nahm ich meine Arbeitshandschuhe und rannte los.
Es war mir schon öfter passiert, dass ich der Erste an einer Unfallstelle bin und ich wusste, wie schmerzhaft es sein kann, wenn man jemanden aus einem Auto zieht und sich erst durch Scherben oder heiße Motorteile kämpfen muss, deswegen die Handschuhe.
Der Wald an der Unfallstelle besteht aus erwachsenen Kiefern, so dreißig bis vierzig Zentimeter dick. Sie stehen mit unterschiedlichen Abständen im kniehohen Gras und der BMW konnte nicht allzu weit gekommen sein. Dreißig Meter hatte er aber doch geschafft, denn in etwa dieser Entfernung sah ich ihn hochkant mit der Schnauze im Dreck an zwei eng stehenden Kiefern. Der Motor hatte sich selbst abgewürgt und ich hoffte, dass sich kein Benzin auf irgendwelchen Krümmern oder Strom führenden Teilen entzünden würde.
Beinahe trat ich auf etwas Buntes, das vor mir im Gras lag.
Ich erschrak.
Da lag ein kleines Mädchen.
Du weißt, ich bin nicht religiös, aber in diesem Moment sagte ich doch so was wie: ‚Lieber Gott, mach es mir nicht so schwer heute. Ich will ja helfen, aber versau mir nicht für ewige Zeiten den Spaß an der Arbeit’
In Gedanken setzte ich sogar noch ein ‚Bitte’ dazu.
Die Kleine, ungefähr vier Jahre alt, lag in einer fast exakten stabilen Seitenlage auf dem Waldboden. Helles Blau schien ihre Lieblingsfarbe zu sein. Im wirr daliegenden schwarzen Haar funkelte eine blaue Spange, das T-Shirt war himmelblau, die knielangen Radlerhosen ebenso, blaue Sandalen mit Glitzer drauf hatte sie an den Füßen, besser gesagt nur am Rechten, der Linke trug nur eine Ringelsocke in Blaugelb. Kratzer auf den dünnen Beinchen und eine tiefe Fleischwunde auf dem linken Unterarm, das waren die einzigen Verletzungen, die ich erkennen konnte.
Das Auto lag noch zehn Meter weiter als die Kleine, vermutlich hatte sie auf dem Rücksitz liegend geschlafen und wurde einfach herausgeschleudert bei einem Überschlag.
Es roch nach heißem Metall und Benzin, aber nicht brenzlig. Das Wrack knackte, ab und an unterbrochen vom Geräusch herabrieselnder Glassplitter.
Ich strich dem Mädchen die Haare zur Seite und als ich meine Hand zurückzog, sah ich viel glänzendes Blut im Schein meiner Lampe. Vorsichtig nahm ich die Locken am Hinterkopf hoch und stolperte vielleicht zwei Schritte rückwärts.
Da war kein Hinterkopf mehr.
Eine schleimige blutverschmierte Masse vermischte sich mit dem Gras und Sand und das Blut hatte schon einen beachtlichen Fleck Waldboden dunkel gefärbt.
Ich wurde panisch. Was sollte ich auch machen?
Etwa, entschuldige diese Pietätlosigkeit, alles in den Kopf schieben und die Hand schützend darüber halten bis Hilfe kommt? Alles konnte falsch und genauso richtig sein.
Dann sah ich, wie die Kleine den Mund bewegte. Nicht als ob sie sprechen wollte, mehr wie ein Suchen nach Nuckel oder Daumen.
Ich besah mir ihre Hände. Die Spuren waren eindeutig, sie nuckelte am rechten Daumen. Ihre rechte Hand lag schon in der richtigen Position, ich musste sie nur noch ein paar Zentimeter zu ihr hin schieben. Die Augenlider des Mädchens flackerten ein wenig, wurden aber sofort ruhig, als sie den Daumen gefunden hatte. Die linke Hand nahm ich mit Zeige- und Mittelfinger ein wenig hoch. Mit sanftem Druck erwiderte sie meine Geste.
Dann kam der schrecklichste Moment dieses Morgens.
Urplötzlich wurde aus der kleinen warmen Hand, die meine beiden Finger umschloss, etwas Lebloses. Die Mundbewegungen am Daumen hörten auf und zum ersten Mal in meinem Leben hörte in meinem Beisein ein Herz auf zu schlagen.
Und ich konnte nichts machen.
Ich weiß nicht, wie lange das Alles gedauert hat, und ich weiß auch nicht, wie lange ich heulend neben der Kleinen gehockt habe, aber irgendwann brachte mich ein Knacken hinter mir dazu, mich umzudrehen.
In einem regelmäßigen Kreis von vielleicht sieben, acht Metern Durchmesser saßen oder hockten seltsame Gestalten um mich herum. Große schwarze Schatten, wie Geier mit hochgezogenen Schultern. Sie knurrten und knackten mit irgendwelchen Gliedmaßen oder Kiefern, begannen unruhig den Kreis enger zu machen.
Dann ertönte ein scharfes Zischen.
‚Schhhhhhhhhhhh!’ machte es.
An der der Tiefe des Waldes zugewandten Seite des Kreises hüpften zwei der Schatten unbeholfen auseinander und schufen so eine Öffnung, durch die eine große, aus meiner Hockposition sogar riesengroße Gestalt trat. So um die zweieinhalb Meter hoch vielleicht, gekleidet in einen schwarzen oder doch zumindest sehr dunklen Umhang mit Kapuze.
‚Der Tod!’ dachte ich erschrocken. Aufstehen konnte ich nicht, überhaupt keine Bewegung war mir möglich.
Die hohe Gestalt hob ein wenig die Kapuze, aber außer zwei leuchtenden Punkten, wohl den Augen, war nichts zu erkennen. Die beiden Ärmel seines Gewandes, die ineinander verschränkt waren wie bei einem Mönch, öffneten sich und eine unendlich lange strahlendweiße Knochenhand erschien.
Zuerst hielt sie mit einer Geste, die international für „Stop“ steht, die unruhigen Gestalten um mich herum zurück. Bis auf den Zeigefinger knickten die anderen Finger ein und die Hand bewegte sich zweimal von links nach rechts und zurück, wie um zu sagen: ‚Das ist nichts für euch’.
Dann schoss der Finger auf mich zu, schwenkte dann ein wenig herum und wies auf einen Punkt etwa drei Meter neben mir. Ohne eine Lichtquelle erkannte ich dort einen handlichen Kiefernknüppel, ungefähr einen Meter lang und geformt wie einen Baseballschläger. Der Finger wanderte weiter und wies auf den Wagen, der auf seinen Kühlergrill gestützt an den beiden Bäumen stand.
Wie auf Kommando begann es in dem Wrack zu poltern, ich leuchtete hinüber, sah wie jemand versuchte, die Fahrertür von innen zu öffnen, hörte ein Fluchen und Husten, ein Schlagen gegen Glasreste und konnte dann einen Mann erkennen, der sich kopfüber aus der Frontscheibenöffnung wälzte.
Er fiel zu Boden, stütze sich an dem einen Baum ab, stand wankend auf und starrte auf sein Auto.
Von Ferne erkannte ich schon ein bläuliches Flackern aus Richtung Autobahn, Hilfe war also im Anmarsch.
Das ganze Ausmaß der Zerstörung erkennend, begann der Mann plötzlich zu brüllen.
‚Das Schwein bring ich in den Knast! Der Polacke hat mich abgedrängt! Wo ist das Scheißhandy?!’ und alles so wirres Zeug.
Nach dem kleinen Mädchen suchte er nicht.
Der große Schwarze wies erneut energisch zu dem Mann.
Ich nahm den Knüppel, ging ohne Geräusche zu verbergen hinüber, der Mann stand ja mit dem Rücken zu mir, holte weit aus und schlug zu.
Der Kerl erstarb in seinen Bewegungen.
Das Knirschen des Knüppels oder des Schädels, es war mir egal, pflanzte sich über das Holz und meinen Arm bis in mein Herz fort, es steigerte meine Wut über die Selbstsucht dieses Mannes. Er hatte, um seinen Alphamännchen-Trieb zu befriedigen, das Leben anderer, wahrscheinlich seiner eigenen Tochter aufs Spiel gesetzt und selbst jetzt interessierte ihn nur der Sachschaden. Dass der Mann unter Schock stehen konnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich hatte ja den Unfallhergang gesehen und wusste, dass er schuld war.
Als ich erneut ausholen wollte, hing der Knüppel irgendwie fest. Ich musste mehrmals rütteln um ihn los zu bekommen. Wiederum holte ich Schwung, der Mann ging währenddessen in die Knie, ließ aber die Arme wie in einer flehenden Geste hoch aufgerichtet. Im Schwungholen sah ich, dass der Knüppel an der Stelle, mit der ich den Mann getroffen hatte, einen ungefähr zehn Zentimeter langen Aststumpf besaß. Dieser Stumpf musste dem Mann tief in den Schädel gedrungen sein.
Zu einem zweiten Schlag kam es nicht mehr.
Zwei Rettungssanitäter, die inzwischen angekommen waren, drehten mir brutal die Arme auf den Rücken. Einer drückte mich dann zu Boden und der Andere lief zu dem Mann, der immer noch reglos kniete und die Arme hoch hielt.
Polizei kam dazu, riß mich weg von dem Ort.
‚Seht ihr nicht den Tod? Seht ihr nicht, was der da macht?’
Aber wahrscheinlich war mein Geschrei bar jeder menschlichen Verständigung und so blieb ich wohl alleiniger Zeuge der Szene.
Der große Schwarze war inzwischen an den Knienden herangetreten, unbemerkt von den beiden Sanitätern, die den Mann ansprachen und sich selbst medizinische Fachausdrücke zuwarfen. Mit der langen dünnen weißen Knochenhand griff der Tod dem Verletzten oben in die Kopfwunde hinein, tiefer und tiefer schob er seinen Arm in den Körper, den Blick der hohlen Augen nach oben ins Nichts gewand. Die Bewegung des Armes erstarb, er hatte wohl gefunden, was er suchte, mit einem Ruck riss er an dem Gefundenen, zog ein langes schwarzes Seil aus dem Schädel des Mannes, nahm die andere Hand zu Hilfe und verschwand mit den anderen Schattengestalten unter Gekreisch und Gewinsel im Wald.
Der Mann fiel im gleichen Augenblick zusammen wie eine Marionette, der man sämtliche Fäden mit einem Mal durchschneidet.
Wie du weißt, wollte man mich erst wegen Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls belangen, aber schnell erkannten die Ermittler, dass der BMW-Fahrer selbst Schuld gewesen sein muss. Der Vorwurf des Totschlages blieb und dafür sitze ich ja nun auch.
Jede Nacht, aber wirklich jede, versuche ich einzuschlafen, bevor die Bilder kommen. Es gelingt selten, eigentlich nur, wenn ein wenig Gras im Spiel ist. Doch selbst das mildert es nicht für mich.
Denn immer zur Zeit des Unfalles, um drei Uhr siebenunddreißig, erscheint das kleine Mädchen vor mir. Längst ist sie älter geworden, sieben oder acht jetzt, spricht aber immer noch mit der Stimme einer Vierjährigen.
Und jede Nacht fragt sie mich ununterbrochen: ‚Wo ist Papa? Wo ist Papa? Wo ist Papa?’
Ich erwache dann in einer Ecke auf dem Fußboden sitzend, die Hände schützend über den Kopf gebreitet, weil ich Angst vor den schwarzen Schatten habe.
Jede Nacht! Seit drei Jahren!
Noch einmal: Du weißt, ich bin nie ein religiöser Mensch gewesen. Hätte ich etwas ändern können, wenn ich vielleicht eine halbe Stunde später losgefahren wäre?
‚Natürlich!’ wirst Du denken.
'Nein!' werde ich dir dann antworten, es war Bestimmung.
Ich bin nämlich nicht später losgefahren, ich bin zur exakten Zeit an der Unfallstelle gewesen, ich habe diesen Kerl erschlagen und ich würde es wieder tun. Vielleicht dafür die Strafe. Weil ich das Böse gesehen habe.
Die Strafe.
Leb wohl, Marie!
Besuch mich nicht mehr!
Ich bin ein anderer Mensch!
Ich muss mich jetzt verstecken, es ist fünfundzwanzig Minuten nach Drei!
Fahr immer vorsichtig!
Karl