Zugriff
Es war so weit. Professor Trrggn nahm die letzten Einstellungen an der Apparatur vor und wandte sich an sein Publikum. „Kollegen, Gäste“, begann er. „Seit Ka‘a‘a experimentell bestätigen konnte, dass es in der parallelen Existenz neben den stofflichen Strukturen auch aurale Muster ähnlich denen unseres Universums existieren, sind Wissenschaftler jeden Staates auf der Suche nach lebendigen, ja Intelligenz verheißenden Mustern in jener uns so fremden Dimension. Sie alle kennen die Daten von Tein und Krrn, die Bruchstücke komplexerer Auramuster zu sein scheinen. Die Kopplung eines Zugriffsfensters an eine der stofflichen Konzentrationen jener Dimension brachte anfangs sehr gute Ergebnisse, die Musterausbeute sank jedoch bei jedem Zugriff auf die parallele Existenz. Ein Effekt, der immer wieder zu beobachten war: Die Ausbeuten sanken nach unterschiedlicher Zeit. Bisher war die Schaffung eines neuen gekoppelten Fensters mit hohem Aufwand verbunden – heute präsentiere ich Ihnen eine Vorrichtung, die selbstständig eine Stoffkonzentration ermittelt, je nach Ergiebigkeit an komplexen Auren zwei bis acht oder neun Zugriffe ausführt und dann einen neue Kopplungsmatrix herstellt.“
Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Professor Trrggn hatte damit gerechnet. Er wusste auch, dass nun alle erwarteten, dass er den Algorithmus für dieses Vorgehen preisgab. Oder zumindest andeutete, wie er die bisherigen komplizieren Berechnungen umging, die viele Zufallsvariablen enthielten, deren Wahl stark von der Intuition des Rechnenden abhingen. Nun, Trrggn hatte mitnichten die Absicht, sein Geheimnis preis zu geben, mehr noch, er hatte vor, noch eines hinzuzufügen:
„Eine ebenfalls neue, speziell für diese Art Zugriff entwickelte Aufzeichnungsapparatur“, fuhr er fort, „vermerkt neben den auralen Messergebnissen auch Angaben über die örtliche Fixierung der Fenster-Masse-Kopplung und den aktuellen Entropiewert, der uns Auskunft über den Zeitzustand im Moment des Zugriffs erlaubt.“
„Wie?“, platzte nun ein junger Mann heraus. Der Professor erinnert sich, ihn einmal in seiner Vorlesung gesehen zu haben.
„Der Entropiewert folgt in der parallelen Existenz einer generellen Tendenz der Zunahme“, erklärte er. „Er bildet somit im Gegensatz zu unserem Universum einen guten Hinweis auf das Fortschreiten der Zeit.“
„Das ist noch strittig“, erwiderte der Student. „Und es ist unlogisch. Leben bedeutet doch Strukturbildung mithin also Abnahme von Chaos. Wenn einerseits also – und das ist nicht strittig – Leben in der parallelen Existenz beobachtet werden kann, wäre der…“
„Junger Mann!“, unterbrach ihn Trrggn lächelnd. „Ihr Enthusiasmus ehrt Sie und ich beantworte Ihre Fragen gern in meinem nächsten Seminar. Jetzt jedoch, so bin ich sicher, warten alle gespannt auf den Beginn des angekündigten Experimentes. Also“, er wandte sich der Apparatur zu und legte einen Schalter um, „beginnen wir.“
Der Herbst hatte die Bäume längst entlaubt, die Sonne war noch einmal mit Wärme zurückgekehrt. Michaela Brauer saß auf der Veranda des großmütterlichen Hauses und genoss mit geschlossenen Augen die milde Luft.
„Hey Schwesterchen!“, unterbrach Phil ihre Muße.
Michaela blinzelte zu ihn hoch. „Hallo. Was machst du denn hier? Ich dachte, du wolltest nach Miami.“
„Vati hat kurzfristig einem Aufritt zugesagt, er ist erst übermorgen für mich frei. Wieso kommst du nicht mal mit?“
„Zu Vera?“
„Zu Vati!“
„Nur wenn Vera nicht ist.“
„Sie ist seine Frau!“
„Ich weiß. Und ich werde es nie verstehen. Wie kann er Mutti geliebt haben und dann diese Frau heiraten?“
Phil holte zu einer Entgegnung aus, winkte dann aber.
Michaela grinste: „Hast ja Recht. Ich mag sie trotzdem nicht. Jedesmal, wenn wir uns treffen, endet unser Gespräch bei Wöltu.“
„Das ist nicht ihre Schuld …“
„Sie fängt doch immer davon an! Kein Mensch stellt in Frage, dass Mutti Aut damals erschießen musste, nur Vera behauptet steif und fest, sie hätte mit Aut verhandeln müssen. Wenn es nach Vera ginge, hätte er die Geißel ruhig töten sollen – Hauptsache die ach so weiße Weste der terranischen Raumflieger wird nicht beschmutzt! Ach was beschmutzt! Leicht angestaubt!“
„Du hast ja Recht“, gab Phil müde zu. Er ließ sich in den zweiten Korbsessel fallen.
„Du verteidigst Mutti nie, oder?“
„Wozu? Alles spricht für sie, wieso soll ich da auch noch reden? Sie ist ein Star.“
„Star? Was denn für ein Star? Die Entdeckung der Wöltu-Zivilisation…“ Ein Marienkäfer landete auf Michaelas Hand, sie stockte.
„Was ist?“
„Ein Fliehmariechen.“ Sie hob die Hand und der Käfer begann, nach oben zu klettern. „Jedenfalls“, fuhr Michaela fort, während sie den Käfer beobachtete, „… war das eine ziemlich große Sache. Bis heute haben wir keinen anderen bewohnten Planeten gefunden.“
Phil schloss demonstrativ die Augen. Offenbar führten die Geschwister dieses Gespräch nicht zum ersten Mal.
„Und Mutti hat es sich bestimmt nicht leicht gemacht, als sie auf Aut schoss. Sie musste Eik Meister retten.“
„… und so wurden Katharina Brauer, Thomas McMay und Frank Brown zu Helden“, intonierte Phil.
Der Marienkäfer war an Michaelas Fingerspitzen angekommen und dreht sich unschlüssig im Kreis. Sie ließ die Hand sinken. Der Käfer machte kehrt, um wieder aufwärts zu krabbeln.
„Ich weiß ja, dass du Tom und Frank nicht leiden kannst, aber Mutti war längst mit Vati auseinander, als sie Tom traf.“ Sie nahm den Käfer von ihrem Arm und setzte ihn auf den Blumenstrauß, der in einer großen Bodenvase auf der Veranda stand.
„Was hat das damit zu tun?“
„Was hat womit was zu… Au!“, rief Michaela und sprang auf.
Phil schrak hoch: „Was ist?“
Sie musterte den Korbsessel. „Irgendwas hat mich gepiekt oder so.“
„Eine Mücke?“
„Das war keine Mücke, das war eher … Eigentlich war es auch kein Stich sondern eher eine Art Glutpunkt.“
Er runzelte die Stirn. „Glutpunkt.“
„Ja. Es war wie …“
Krachend fiel die Bodenvase um. Wasser ergoss sich über Michaelas Füße. „Iiiih!“
Phil stand auf. „Deshalb musst du doch nicht Omis Lieblingsvase umwerfen!“
„Ich bin nicht mal drangekommen!“
Er hob die Vase auf. Als er die Blüten neu arrangieren wollte, stutze er. „Sieh dir das an!“ er deutete auf die Blüten
Michaela trat näher. „Was ist das?“ Einige Blütenblätter waren versengt, an zwei Stengeln fehlte die gesamte Blüte. Und auf einem angekohlten Blatt klebte das zuckende Hinterteil des Marienkäfers.
„Auch dies“, so dozierte Professor Trrggn und wies auf die Daten auf dem Sichtschirm, „sind ganz offenkundig Muster eines komplexen Stoff-Aura-Verbandes. Wir haben also bei allen Zugriffen der ersten Serie untrügliche Zeichen dafür gefunden, dass Stoff mit Aura verknüpft ist. Wobei der Komplexgrad der stofflichen Struktur nur insofern mit der Komplexität der Aura in Verbindung zu stehen scheint, dass wenig strukturierter Stoff zwar komplexe oder einfache Auren tragen kann, komplexe Stoffansammlungen aber immer mit höher organisierten Aura-Komplexen verbundenen sind.“
„Und Leben mit Leben“, warf einer der Studenten ein.
„Lilmin“, bat Trrggn. „Würden Sie bitte vorsichtiger mit diesbezüglichen Bemerkungen sein? Sie haben offensichtlich noch immer einen nur oberflächlichen Eindruck der parallelen Existenzformen.“
„Aber die Daten…,“ hob Lilmin an und zeigte auf den Schirm.
„Wie oft muss ich Ihnen noch erklären, dass Komplexität in der parallelen Existenz nicht zwangsläufig Leben bedeutet?! Lesen Sie bitte endlich einmal die Ausführungen, die Tein und Krrn über ihre achte Zugriffserie angefertigt haben! Sie fanden hierbei Muster stofflich sehr komplexer Systeme, deren Statik sie jedoch als nichtlebend auswiesen, andere ähnlich vielfältige Strukturen trugen Lebenszeichen.“
„Ich habe die Ausführungen durchaus gelesen, Herr Professor. Die wichtigste Erkenntnis darin schient mir, dass Tein und Krrn nicht in der Lage waren, komplette Muster abzubilden. Krrn weist drauf hin, dass die Ergebnisse den Eindruck von Trümmern vermittelten. Meiner Meinung nach hängt dies mit dem noch immer ungeklärten Entropieverhalten…“
„Sie verlassen das Thema dieses Seminars!“, wies ihn der Professor zurecht.
Lilmin erhob sich wütend. „Mehr noch, Herr Professor“, rief er. „Ich verlasse dieses Seminar!“ Er stand auf und ging.
„Oh man, du kannst dir nicht vorstellen, wie komplex die Biosphäre da unten ist“, schwärmte Katharina Brauer, noch während sie aus dem Lander stieg.
Ricardo Thomas lächelte. Er nahm ihr einen der Probekanister ab. „Da bist du ja diesmal ganz richtig im Team.“
Sie sah Ricardo irritiert an. „Bin ich das sonst nicht?“
„Ich meinte, weil du doch Biologin bist…“
„Ach Gott, das ist schon so lange her, das ist schon fast nicht mehr wahr. Aber“, sie hievte einen weiteren Container aus dem Lander. „… es ist wirklich fast ein wenig wie nach Hause kommen.“
„Du willst dich hier doch nicht etwa häuslich niederlassen?“, scherzte er.
Sie lachte schelmisch und beugte sich zu ihm: „Warum nicht: Eine einsame Insel mitten in einem riesigen, planetaren Ozean – wir wären ganz ungestört.“ Sie küsste ihn flüchtig.
„Wetten, dass es nach zwei Wochen stinklangweilig wäre?“
„Mir nicht! Ich bin Biologe und da unten steckt ein biologisches Rätsel.“
„Ah ja?“, staunte er. „Was für eins?“
„Naja, es…“, sie suchte nach Worten. „Es ist unlogisch, dass auf einer so winzigen Insel ein so artenreiches Gefüge entstanden sein soll. Es gibt einfach alles. Insektenähnliche, kleine und große … Säuger oder was immer das ist. Von den unzähligen Pflanzen mal zu schweigen. Oder die Vögel zum Beispiel: Wo zum Geier wollten deren Vorfahren hinfliegen, dass sie solche Flugkünste entwickeln mussten?“
„Keine Ahnung. Du bist der Fachmann … Das Flottenkommando lässt übrigens ausrichten, dass deine Tochter nach dir gefragt hat.“
„Micha?“ horchte sie auf. „Ist was passiert?“
„Davon war nicht die Rede. Du kannst ja zurückrufen. Der Captain hat Kapazität für private Anrufe freigegeben.“
„Wunderbar! Ich …“ Sie sah auf die Container.
„Ich mach das schon“, bot Ricardo an. „Sollen die ins Biolabor?“
Katharina nickte. „Quarantänestufe eins.“
„Okay.“
„Bist ein Schatz!“ Sie drückte ihm einen Schmatz auf die Wange und eilte aus dem Hangar.
Professor hin oder her – Lilmin hatte es satt, den trögen Ausführung Trrggns zu folgen. Der Alte war so gefangen in der Brillanz seiner Leistung, dass er jeden Schritt, der weiterführte, als persönlichen Angriff wertete. Lilmin gestand neidlos ein, welchen Durchbruch die neue Zugriffsmaschine darstellte, doch sie war doch nur der Anfang! Die Gleichungen, die dem Wirkprinzip der Maschine zugrunde lagen, boten noch viel mehr als nur die automatische Fenstersuche. Dem Alten mochte es entgangen sein, doch Lilmin hatte es sofort gesehen: Die Gleichungen ließen zu, die Größe des Zugriffsfensters zu bestimmen. Die Größe wiederum bestimmte, wie komplett das Muster war, das man scannen konnte. Lilmin hatte es berechnet. Er hatte die Gleichung modifiziert und die Maschine programmiert. Zwei, drei Versuche, um die letzten Variablen festzulegen und dann …
Lilmin sah sich um, ob er das Labor tatsächlich für sich allein hatte, und legte den Schalter um. Die Maschine begann ihre Suche. Es dauerte länger als gewohnt, ehe sie die Etablierung eines Zugriffsfensters meldete. Doch dann hatte sie es. Die erste Serie von Daten lief ein. Sie enthielt noch keine kompletten Muster, aber darauf hatte Lilmin auch noch nicht gehofft. Statt dessen beobachtete er, ob sich das Fenster wie kalkuliert an die Größe des Zielobjektes anpasste. Wie nebenbei registrierte Lilmin, dass der Entropiewert von einem Zugriff kündete, der im zeitlichen Lauf der parallelen Existenz noch vor denen von Tein und Krrn lag. Zumindest, wenn man an diesen Zusammenhang glaubte …
Katharina fuhr aus einem Alptraum auf. Atemlos suchte sie nach Orientierung, blickte sich im Dämmerlicht um. Ihre Kabine. Ihr Bett. Ricardo. Er schlief. Katharina rieb sich die Augen und versuchte, das Pochen in ihrer Brust zu ignorieren. Ihr Atem beruhigte sich.
Vorsichtig, um Rico nicht zu wecken, stand Katharina auf. Sie griff sich ihre Sachen und ging ins Wohnzimmer. „Licht!“, befahl sie und sanfte Helle erfüllte den Raum. Es war sieben Uhr morgens, Zeit für Kaffee. Katharina erinnerte sich, dass sie am Morgen zuvor den letzten Kaffee verbraucht und im Lauf des Tages keinen neuen besorgt hatte. Sie würde also in der Schiffsmesse frühstücken müssen.
Auf dem Weg dorthin begegnet sie Jon Donald. „Schon auf?“, begrüßte sie ihn. „Ihr seid doch gestern erst ziemlich spät zurück gekommen.“
„Ja, schon …“, räumte Jon ein.
„Rico sagte, Ihr wollt heute Nachmittag noch mal zu dieser Flachstelle fliegen. Ich würde gern mitkommen.“
„Es ist nur eine flache Stelle.“
„Rico meint, ihr hättet Vögel dort gesehen. Auf der Insel gibt es nur diese kleinen rattenähnlichen Viecher, und da draußen, mitten auf dem Meer … Das ist wirklich ungewöhnlich. Weißt du, es ist bizarr. Vögel sind eigentlich Landlebewesen, gewissermaßen wenigstens. Es scheint mal viel mehr Land als nur diese kleine Insel hier gegeben zu haben. Anhand der Anatomie der Vögel kann ich vielleicht sogar eine Zeitbestimmung vornehmen.“
Jon schmunzelte. „Es ist verdammt lange her, dass du so begeistert bei einer Erkundermission dabei warst.“ Er öffnete die Tür zur Messe und ließ sie eintreten.
„Vielleicht hätte ich die Biologie nie verlassen sollen.“ Sie ging zur Theke, schenkte sich Kaffee ein und schaute sich im Frühstücksangebot um.
„Dann hättest du Rico nie kennen gelernt“, gab Jon zu bedenken und bestellte bei der Bedienung Eier und Speck.
„Für mich auch“, schloss sich Katja an.
Während sie auf das Frühstück warteten, fragte Jon: „Hast du mit Rico schon über deine Pläne gesprochen?“
„Pläne?“
„Na du weißt schon. Heim und Garten und so.“
„Naja,“ wich sie aus, „das sind … eigentlich keine Pläne. Es ist nur irgendwie … ich vermisse die Kinder.“
„Kinder? Die zwei sind achtzehn!“
„… aber meine Kinder“, lächelte Katja entschuldigend. „Sie haben nie viel von mir gehabt. Sie waren zwei, als ich den Pilotenschein machte und dann … bin ich eigentlich immer unterwegs gewesen. Wenn ich wirklich länger mal zu Hause war, dann weil … ich Erholung brauchte.“
„Ja.“ Er nahm sein Frühstück in Empfang, bedankte sich. „Du hast eine Menge mitgemacht.“
Katharina nahm ihren Teller und folgte Jon an einen der Tische. „Ich denke auch, das mein Bedarf an … Abenteuern mehr als gestillt ist. Es wird wirklich Zeit, sesshaft zu werden. Nach dieser Mission hier. Vielleicht.“
Professor Trrggn tobte. Lilmin sah sich das lächelnd an. Die Maschine war beschädigt worden – na und? Der Schaden war minimal, der Erfolg aber unermesslich groß. „Wie konnten Sie es wagen?“, schäumte Trrggn und hielt Lilmin den Entropiesensor vor das Kontur-Auge. Der Leiterdefekt war deutlich sichtbar. „Sie mit Ihrer ewigen Ignoranz! Die parallele Existenz gehorcht nun mal ihren eigenen Gesetzen und diese zu ignorieren, kann verheerend wirken. Sowohl dort als auch hier. Das Gesetz steigernder Entropie ist doch nicht als Schikane für aufstrebenden Forscher formuliert worden! Viele der wesentlichsten Fehlschläge der Parellel-Welt-Foschung beruhten auf der Ignoranz dieser Vorschrift! Ich werde Sie zur Verantwortung ziehen lassen für den Schaden, den Sie an der Maschine verursacht haben!“
„Dieser sogenannte Schaden ist doch belanglos gering angesichts des Fortschrittes, den ich erzielen konnte“, erwiderte Lilmin. „Die Routinen, die ich entwickelt habe, machen aus dieser Forschung endlich mehr als ein Puzzlespiel mit unvollständigen Steinen eines Bildes, über dessen Charakter bisher niemand eine halbwegs glaubwürdige Prognose zu geben wagt.“
Der Professor ließ sich nicht beruhigen. „Sie handeln verantwortungslos!“, polterte er. „Der Schaden an der Maschine ist das sicherste Zeichen für die Kopplung der beiden Universen und solange wir über den Charakter dieses Gekoppelt-Seins nichts wissen, ist absolute Sorgfalt geboten! Genauso gut hätte das gesamte Gebäude deformiert werden können!“
„Wurde es aber nicht. Wir haben dafür Werte erhalten, die die Zielobjekte nahezu komplett abbilden! – Hören Sie, Professor!“ Langsam wurde Lilmin ungehalten. „Ihrer geliebten Maschine ist so gut wie nichts passiert. Ich komme für die Reparatur auf und dann lassen wir endlich das verbesserte Programm laufen! Die herkömmliche Entropieselektion hat auf die Effektivität meines Verfahrens keinen Einfluss, kann also so gehandhabt werden, wie Sie es für richtig halten. Also lassen Sie es uns endlich tun!“
„Nein!“
Lilmin glaubte, sich verhört zu haben: „Nein?“
„Nicht mit mir, nicht mit meiner Maschine und nicht in dieser Forschungseinrichtung!“
„Sie … werfen mich raus?“
„Ja. Das tue ich.“
Lilmin brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es Trrggn ernst war. „Das …“, stammelte er, „… das werden Sie bereuen. Das bereuen Sie noch!“
„Guten Morgen!“ Ricardo küsste Katja flüchtig auf die Stirn und setzte sich neben sie. „Alles klar?“ Er nickte Jon kurz zu.
Katja schenkte Ricardo Kaffee ein. „Du willst wirklich nicht mit runter kommen? Die Insel ist schön. Wirklich.“
„Mm“, schüttelt Rico den Kopf und sah zu Jon: „Wir müssen noch ein paar Vorbereitungen treffen für den Flug heute Mittag. Wenn wir in der Flachstelle wassern wollen, müssen wir eine Ankervorrichtung anbringen.“
„Wieso wollt ihr überhaupt hin? Ich denke, da gibt es nichts zu sehen.“
„Nur weil es keine Tiere dort gibt, heißt das nicht, dass es nicht interesant wäre. Es sind nicht alle auf dem Bio-Tripp, weißt du.“
Jon sah Ricardo groß an. „Hast du schlecht geschlafen?“
Rico schien erstaunt. „Wieso? Ich hab nur einfach diese Wassermurmel satt. Nichts als Ozean, eine Insel kaum großer als ein, zwei Fußballfelder, auf der es nur Grünzeug gibt. Ich finde das nicht sehr aufregend. Ich hoffe, der Captain dreht bald ab. Das hier ist kein Planet für Erkunder, das ist bestenfalls einer für Siedler. Wenn sie Wasser mögen.“
Es war leichter, als Lilmin gedacht hatte. Die Sicherheitsvorkehrungen waren so stümperhaft getroffen worden, dass er fast ohne Mühe in das Labor gelangte. Die Zugriffsmaschine, die er selbst zu bauen versucht hatte, war noch beim Probelauf auseinandergefallen. Es blieb nur die Anlage in Trrggns Labor. Der Alte hatte offenbar einen verbesserten Entropiesensor eingebaut – um so besser. Lilmin prüfte sorgfältig die Einstellungen, die der Professor zuletzt benutzt hatte, und veränderte sie, soweit nötig, für seine eigene Messreihe. Er hatte beschlossen, den Ort des Fensters vorzugeben, um die Suchzeit einzuschränken. Er wollte es an einem Ort versuchen, der schon ein paarmal lebendige Muster in den Scanbereich gebracht hatte. Vor allem aber war bei einer vorherigen Messreihe ein auraler Komplex am Rand des Fensters erschienen, der auf Intelligenz schließen ließ …
Der Lander stieg von der Insel auf und nahm direkten Kurs zum Schiff. Katharina Brauer schaltete auf Autopilot und lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen. Sie fühlte sich müde. Seit der Alptraum zurückgekehrt war, hatte sie kaum eine Nacht durchgeschlafen. Das Bild verfolgte sie inzwischen bis in den Tag hinein: Onio Aut, der einfach nicht glauben konnte, dass sie, ausgerechnet sie abgedrückt hatte …
„Katja?“, erreichte sie Ricardos Ruf.
„Ja?“, antwortete sie, dankbar über die Ablenkung, und schaltete den Monitor um. „Was gibt es?“
„Das wollte ich dich fragen. Hast du diese Palme gefunden?“
„Bärlapp, Rico. Es war ein Bärlapp.“
„Und? Hast du ihn gefunden?“
„Nein. Die kleineren Exemplare waren noch da, aber der große …“, sie schüttelte den Kopf. „Es sieht aus, als hätte jemand den Baum aus dem Boden gezogen.“
„Ich war’s nicht!“, beteuerte Ricardo ernsten Gesichts.
„Blödmann!“, lachte Katja. „Vielleicht gab es eine Art Wirbelsturm heute Nacht.“
„So begrenzt?“
„Wer weiß. Ich schau mir nachher mal die Ferndaten seit gestern an.“
Ein komplettes Muster – ein Lebewesen der parallelen Existenz. Während die Maschine einen neuen Zugriff vorbereitet, bewunderte Lilmin die Struktur dieses Wesens. Es war eindeutig lebendig, obwohl es genauso eindeutig ortsgebunden war. Ein kompakter Mittelteil spaltete sich an beiden Enden zunehmend zu feiner und feiner werdenden Fasern auf. Die Struktur dieser Verästelungen waren grundsätzlich verschieden, an einem Ende war die Lebensaktivität eindeutig höher als am anderen. Die Maschine meldete, ein neues Ziel erfasst zu haben. Lilmin wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu.
Ein Datenreflex verlangte Katharinas Aufmerksamkeit. „Hast du das gerade auch gesehen?“, fragte sie Ricardo.
„Was?“
„Ich bin nicht sicher. Eine Art … elektromagnetischer Wirbel?“
„Wo?“
„… auf dem Weg hierher.“
„Auf dem Weg? Von wo? Katja?“
Katharinas Finger flogen über die Tastatur. Kein Zweifel: Etwas näherte sich. Es kam aus Richtung der … Erde! „Ist ein Schiff hierher unterwegs?“, fragte sie.
„Nein. Nicht dass ich wüsste. Soll ich nachfragen?“
„Nein. Nicht im Mo… Da! Jetzt ist es … da ist ein zweiter Wirbel. Auf der Insel!“
„Zugriff“, meldete die Maschine.
„Ricardo, hast du die Da“
„Katja?“
Der Lander explodierte.
„Katjaa!!!“
Es war vollbracht. Lilmin würde in die Geschichte eingehen. Er würde vermerkt werden als der erste, der einen kompletten Mustersatz – stoffliche Parameter und Aura-Komplex – eines intelligenten Lebewesens der parallelen Existenz entrissen hatte.
Es war so weit. Professor Trrggn nahm die letzten Einstellungen an der Apparatur vor und wandte sich an sein Publikum. „Kollegen, Gäste“, begann er. „Seit Ka‘a‘a experimentell bestätigen konnte, dass es in der parallelen Existenz neben den stofflichen Strukturen auch aurale Muster ähnlich denen unseres Universums existieren, sind Wissenschaftler jeden Staates auf der Suche nach lebendigen, ja Intelligenz verheißenden Mustern in jener uns so fremden Dimension. Sie alle kennen die Daten von Tein und Krrn, die Bruchstücke komplexerer Auramuster zu sein scheinen. Die Kopplung eines Zugriffsfensters an eine der stofflichen Konzentrationen jener Dimension brachte anfangs sehr gute Ergebnisse, die Musterausbeute sank jedoch bei jedem Zugriff auf die parallele Existenz. Ein Effekt, der immer wieder zu beobachten war: Die Ausbeuten sanken nach unterschiedlicher Zeit. Bisher war die Schaffung eines neuen gekoppelten Fensters mit hohem Aufwand verbunden – heute präsentiere ich Ihnen eine Vorrichtung, die selbstständig eine Stoffkonzentration ermittelt, je nach Ergiebigkeit an komplexen Auren zwei bis acht oder neun Zugriffe ausführt und dann einen neue Kopplungsmatrix herstellt.“
Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Professor Trrggn hatte damit gerechnet. Er wusste auch, dass nun alle erwarteten, dass er den Algorithmus für dieses Vorgehen preisgab. Oder zumindest andeutete, wie er die bisherigen komplizieren Berechnungen umging, die viele Zufallsvariablen enthielten, deren Wahl stark von der Intuition des Rechnenden abhingen. Nun, Trrggn hatte mitnichten die Absicht, sein Geheimnis preis zu geben, mehr noch, er hatte vor, noch eines hinzuzufügen:
„Eine ebenfalls neue, speziell für diese Art Zugriff entwickelte Aufzeichnungsapparatur“, fuhr er fort, „vermerkt neben den auralen Messergebnissen auch Angaben über die örtliche Fixierung der Fenster-Masse-Kopplung und den aktuellen Entropiewert, der uns Auskunft über den Zeitzustand im Moment des Zugriffs erlaubt.“
„Wie?“, platzte nun ein junger Mann heraus. Der Professor erinnert sich, ihn einmal in seiner Vorlesung gesehen zu haben.
„Der Entropiewert folgt in der parallelen Existenz einer generellen Tendenz der Zunahme“, erklärte er. „Er bildet somit im Gegensatz zu unserem Universum einen guten Hinweis auf das Fortschreiten der Zeit.“
„Das ist noch strittig“, erwiderte der Student. „Und es ist unlogisch. Leben bedeutet doch Strukturbildung mithin also Abnahme von Chaos. Wenn einerseits also – und das ist nicht strittig – Leben in der parallelen Existenz beobachtet werden kann, wäre der…“
„Junger Mann!“, unterbrach ihn Trrggn lächelnd. „Ihr Enthusiasmus ehrt Sie und ich beantworte Ihre Fragen gern in meinem nächsten Seminar. Jetzt jedoch, so bin ich sicher, warten alle gespannt auf den Beginn des angekündigten Experimentes. Also“, er wandte sich der Apparatur zu und legte einen Schalter um, „beginnen wir.“
Der Herbst hatte die Bäume längst entlaubt, die Sonne war noch einmal mit Wärme zurückgekehrt. Michaela Brauer saß auf der Veranda des großmütterlichen Hauses und genoss mit geschlossenen Augen die milde Luft.
„Hey Schwesterchen!“, unterbrach Phil ihre Muße.
Michaela blinzelte zu ihn hoch. „Hallo. Was machst du denn hier? Ich dachte, du wolltest nach Miami.“
„Vati hat kurzfristig einem Aufritt zugesagt, er ist erst übermorgen für mich frei. Wieso kommst du nicht mal mit?“
„Zu Vera?“
„Zu Vati!“
„Nur wenn Vera nicht ist.“
„Sie ist seine Frau!“
„Ich weiß. Und ich werde es nie verstehen. Wie kann er Mutti geliebt haben und dann diese Frau heiraten?“
Phil holte zu einer Entgegnung aus, winkte dann aber.
Michaela grinste: „Hast ja Recht. Ich mag sie trotzdem nicht. Jedesmal, wenn wir uns treffen, endet unser Gespräch bei Wöltu.“
„Das ist nicht ihre Schuld …“
„Sie fängt doch immer davon an! Kein Mensch stellt in Frage, dass Mutti Aut damals erschießen musste, nur Vera behauptet steif und fest, sie hätte mit Aut verhandeln müssen. Wenn es nach Vera ginge, hätte er die Geißel ruhig töten sollen – Hauptsache die ach so weiße Weste der terranischen Raumflieger wird nicht beschmutzt! Ach was beschmutzt! Leicht angestaubt!“
„Du hast ja Recht“, gab Phil müde zu. Er ließ sich in den zweiten Korbsessel fallen.
„Du verteidigst Mutti nie, oder?“
„Wozu? Alles spricht für sie, wieso soll ich da auch noch reden? Sie ist ein Star.“
„Star? Was denn für ein Star? Die Entdeckung der Wöltu-Zivilisation…“ Ein Marienkäfer landete auf Michaelas Hand, sie stockte.
„Was ist?“
„Ein Fliehmariechen.“ Sie hob die Hand und der Käfer begann, nach oben zu klettern. „Jedenfalls“, fuhr Michaela fort, während sie den Käfer beobachtete, „… war das eine ziemlich große Sache. Bis heute haben wir keinen anderen bewohnten Planeten gefunden.“
Phil schloss demonstrativ die Augen. Offenbar führten die Geschwister dieses Gespräch nicht zum ersten Mal.
„Und Mutti hat es sich bestimmt nicht leicht gemacht, als sie auf Aut schoss. Sie musste Eik Meister retten.“
„… und so wurden Katharina Brauer, Thomas McMay und Frank Brown zu Helden“, intonierte Phil.
Der Marienkäfer war an Michaelas Fingerspitzen angekommen und dreht sich unschlüssig im Kreis. Sie ließ die Hand sinken. Der Käfer machte kehrt, um wieder aufwärts zu krabbeln.
„Ich weiß ja, dass du Tom und Frank nicht leiden kannst, aber Mutti war längst mit Vati auseinander, als sie Tom traf.“ Sie nahm den Käfer von ihrem Arm und setzte ihn auf den Blumenstrauß, der in einer großen Bodenvase auf der Veranda stand.
„Was hat das damit zu tun?“
„Was hat womit was zu… Au!“, rief Michaela und sprang auf.
Phil schrak hoch: „Was ist?“
Sie musterte den Korbsessel. „Irgendwas hat mich gepiekt oder so.“
„Eine Mücke?“
„Das war keine Mücke, das war eher … Eigentlich war es auch kein Stich sondern eher eine Art Glutpunkt.“
Er runzelte die Stirn. „Glutpunkt.“
„Ja. Es war wie …“
Krachend fiel die Bodenvase um. Wasser ergoss sich über Michaelas Füße. „Iiiih!“
Phil stand auf. „Deshalb musst du doch nicht Omis Lieblingsvase umwerfen!“
„Ich bin nicht mal drangekommen!“
Er hob die Vase auf. Als er die Blüten neu arrangieren wollte, stutze er. „Sieh dir das an!“ er deutete auf die Blüten
Michaela trat näher. „Was ist das?“ Einige Blütenblätter waren versengt, an zwei Stengeln fehlte die gesamte Blüte. Und auf einem angekohlten Blatt klebte das zuckende Hinterteil des Marienkäfers.
„Auch dies“, so dozierte Professor Trrggn und wies auf die Daten auf dem Sichtschirm, „sind ganz offenkundig Muster eines komplexen Stoff-Aura-Verbandes. Wir haben also bei allen Zugriffen der ersten Serie untrügliche Zeichen dafür gefunden, dass Stoff mit Aura verknüpft ist. Wobei der Komplexgrad der stofflichen Struktur nur insofern mit der Komplexität der Aura in Verbindung zu stehen scheint, dass wenig strukturierter Stoff zwar komplexe oder einfache Auren tragen kann, komplexe Stoffansammlungen aber immer mit höher organisierten Aura-Komplexen verbundenen sind.“
„Und Leben mit Leben“, warf einer der Studenten ein.
„Lilmin“, bat Trrggn. „Würden Sie bitte vorsichtiger mit diesbezüglichen Bemerkungen sein? Sie haben offensichtlich noch immer einen nur oberflächlichen Eindruck der parallelen Existenzformen.“
„Aber die Daten…,“ hob Lilmin an und zeigte auf den Schirm.
„Wie oft muss ich Ihnen noch erklären, dass Komplexität in der parallelen Existenz nicht zwangsläufig Leben bedeutet?! Lesen Sie bitte endlich einmal die Ausführungen, die Tein und Krrn über ihre achte Zugriffserie angefertigt haben! Sie fanden hierbei Muster stofflich sehr komplexer Systeme, deren Statik sie jedoch als nichtlebend auswiesen, andere ähnlich vielfältige Strukturen trugen Lebenszeichen.“
„Ich habe die Ausführungen durchaus gelesen, Herr Professor. Die wichtigste Erkenntnis darin schient mir, dass Tein und Krrn nicht in der Lage waren, komplette Muster abzubilden. Krrn weist drauf hin, dass die Ergebnisse den Eindruck von Trümmern vermittelten. Meiner Meinung nach hängt dies mit dem noch immer ungeklärten Entropieverhalten…“
„Sie verlassen das Thema dieses Seminars!“, wies ihn der Professor zurecht.
Lilmin erhob sich wütend. „Mehr noch, Herr Professor“, rief er. „Ich verlasse dieses Seminar!“ Er stand auf und ging.
„Oh man, du kannst dir nicht vorstellen, wie komplex die Biosphäre da unten ist“, schwärmte Katharina Brauer, noch während sie aus dem Lander stieg.
Ricardo Thomas lächelte. Er nahm ihr einen der Probekanister ab. „Da bist du ja diesmal ganz richtig im Team.“
Sie sah Ricardo irritiert an. „Bin ich das sonst nicht?“
„Ich meinte, weil du doch Biologin bist…“
„Ach Gott, das ist schon so lange her, das ist schon fast nicht mehr wahr. Aber“, sie hievte einen weiteren Container aus dem Lander. „… es ist wirklich fast ein wenig wie nach Hause kommen.“
„Du willst dich hier doch nicht etwa häuslich niederlassen?“, scherzte er.
Sie lachte schelmisch und beugte sich zu ihm: „Warum nicht: Eine einsame Insel mitten in einem riesigen, planetaren Ozean – wir wären ganz ungestört.“ Sie küsste ihn flüchtig.
„Wetten, dass es nach zwei Wochen stinklangweilig wäre?“
„Mir nicht! Ich bin Biologe und da unten steckt ein biologisches Rätsel.“
„Ah ja?“, staunte er. „Was für eins?“
„Naja, es…“, sie suchte nach Worten. „Es ist unlogisch, dass auf einer so winzigen Insel ein so artenreiches Gefüge entstanden sein soll. Es gibt einfach alles. Insektenähnliche, kleine und große … Säuger oder was immer das ist. Von den unzähligen Pflanzen mal zu schweigen. Oder die Vögel zum Beispiel: Wo zum Geier wollten deren Vorfahren hinfliegen, dass sie solche Flugkünste entwickeln mussten?“
„Keine Ahnung. Du bist der Fachmann … Das Flottenkommando lässt übrigens ausrichten, dass deine Tochter nach dir gefragt hat.“
„Micha?“ horchte sie auf. „Ist was passiert?“
„Davon war nicht die Rede. Du kannst ja zurückrufen. Der Captain hat Kapazität für private Anrufe freigegeben.“
„Wunderbar! Ich …“ Sie sah auf die Container.
„Ich mach das schon“, bot Ricardo an. „Sollen die ins Biolabor?“
Katharina nickte. „Quarantänestufe eins.“
„Okay.“
„Bist ein Schatz!“ Sie drückte ihm einen Schmatz auf die Wange und eilte aus dem Hangar.
Professor hin oder her – Lilmin hatte es satt, den trögen Ausführung Trrggns zu folgen. Der Alte war so gefangen in der Brillanz seiner Leistung, dass er jeden Schritt, der weiterführte, als persönlichen Angriff wertete. Lilmin gestand neidlos ein, welchen Durchbruch die neue Zugriffsmaschine darstellte, doch sie war doch nur der Anfang! Die Gleichungen, die dem Wirkprinzip der Maschine zugrunde lagen, boten noch viel mehr als nur die automatische Fenstersuche. Dem Alten mochte es entgangen sein, doch Lilmin hatte es sofort gesehen: Die Gleichungen ließen zu, die Größe des Zugriffsfensters zu bestimmen. Die Größe wiederum bestimmte, wie komplett das Muster war, das man scannen konnte. Lilmin hatte es berechnet. Er hatte die Gleichung modifiziert und die Maschine programmiert. Zwei, drei Versuche, um die letzten Variablen festzulegen und dann …
Lilmin sah sich um, ob er das Labor tatsächlich für sich allein hatte, und legte den Schalter um. Die Maschine begann ihre Suche. Es dauerte länger als gewohnt, ehe sie die Etablierung eines Zugriffsfensters meldete. Doch dann hatte sie es. Die erste Serie von Daten lief ein. Sie enthielt noch keine kompletten Muster, aber darauf hatte Lilmin auch noch nicht gehofft. Statt dessen beobachtete er, ob sich das Fenster wie kalkuliert an die Größe des Zielobjektes anpasste. Wie nebenbei registrierte Lilmin, dass der Entropiewert von einem Zugriff kündete, der im zeitlichen Lauf der parallelen Existenz noch vor denen von Tein und Krrn lag. Zumindest, wenn man an diesen Zusammenhang glaubte …
Katharina fuhr aus einem Alptraum auf. Atemlos suchte sie nach Orientierung, blickte sich im Dämmerlicht um. Ihre Kabine. Ihr Bett. Ricardo. Er schlief. Katharina rieb sich die Augen und versuchte, das Pochen in ihrer Brust zu ignorieren. Ihr Atem beruhigte sich.
Vorsichtig, um Rico nicht zu wecken, stand Katharina auf. Sie griff sich ihre Sachen und ging ins Wohnzimmer. „Licht!“, befahl sie und sanfte Helle erfüllte den Raum. Es war sieben Uhr morgens, Zeit für Kaffee. Katharina erinnerte sich, dass sie am Morgen zuvor den letzten Kaffee verbraucht und im Lauf des Tages keinen neuen besorgt hatte. Sie würde also in der Schiffsmesse frühstücken müssen.
Auf dem Weg dorthin begegnet sie Jon Donald. „Schon auf?“, begrüßte sie ihn. „Ihr seid doch gestern erst ziemlich spät zurück gekommen.“
„Ja, schon …“, räumte Jon ein.
„Rico sagte, Ihr wollt heute Nachmittag noch mal zu dieser Flachstelle fliegen. Ich würde gern mitkommen.“
„Es ist nur eine flache Stelle.“
„Rico meint, ihr hättet Vögel dort gesehen. Auf der Insel gibt es nur diese kleinen rattenähnlichen Viecher, und da draußen, mitten auf dem Meer … Das ist wirklich ungewöhnlich. Weißt du, es ist bizarr. Vögel sind eigentlich Landlebewesen, gewissermaßen wenigstens. Es scheint mal viel mehr Land als nur diese kleine Insel hier gegeben zu haben. Anhand der Anatomie der Vögel kann ich vielleicht sogar eine Zeitbestimmung vornehmen.“
Jon schmunzelte. „Es ist verdammt lange her, dass du so begeistert bei einer Erkundermission dabei warst.“ Er öffnete die Tür zur Messe und ließ sie eintreten.
„Vielleicht hätte ich die Biologie nie verlassen sollen.“ Sie ging zur Theke, schenkte sich Kaffee ein und schaute sich im Frühstücksangebot um.
„Dann hättest du Rico nie kennen gelernt“, gab Jon zu bedenken und bestellte bei der Bedienung Eier und Speck.
„Für mich auch“, schloss sich Katja an.
Während sie auf das Frühstück warteten, fragte Jon: „Hast du mit Rico schon über deine Pläne gesprochen?“
„Pläne?“
„Na du weißt schon. Heim und Garten und so.“
„Naja,“ wich sie aus, „das sind … eigentlich keine Pläne. Es ist nur irgendwie … ich vermisse die Kinder.“
„Kinder? Die zwei sind achtzehn!“
„… aber meine Kinder“, lächelte Katja entschuldigend. „Sie haben nie viel von mir gehabt. Sie waren zwei, als ich den Pilotenschein machte und dann … bin ich eigentlich immer unterwegs gewesen. Wenn ich wirklich länger mal zu Hause war, dann weil … ich Erholung brauchte.“
„Ja.“ Er nahm sein Frühstück in Empfang, bedankte sich. „Du hast eine Menge mitgemacht.“
Katharina nahm ihren Teller und folgte Jon an einen der Tische. „Ich denke auch, das mein Bedarf an … Abenteuern mehr als gestillt ist. Es wird wirklich Zeit, sesshaft zu werden. Nach dieser Mission hier. Vielleicht.“
Professor Trrggn tobte. Lilmin sah sich das lächelnd an. Die Maschine war beschädigt worden – na und? Der Schaden war minimal, der Erfolg aber unermesslich groß. „Wie konnten Sie es wagen?“, schäumte Trrggn und hielt Lilmin den Entropiesensor vor das Kontur-Auge. Der Leiterdefekt war deutlich sichtbar. „Sie mit Ihrer ewigen Ignoranz! Die parallele Existenz gehorcht nun mal ihren eigenen Gesetzen und diese zu ignorieren, kann verheerend wirken. Sowohl dort als auch hier. Das Gesetz steigernder Entropie ist doch nicht als Schikane für aufstrebenden Forscher formuliert worden! Viele der wesentlichsten Fehlschläge der Parellel-Welt-Foschung beruhten auf der Ignoranz dieser Vorschrift! Ich werde Sie zur Verantwortung ziehen lassen für den Schaden, den Sie an der Maschine verursacht haben!“
„Dieser sogenannte Schaden ist doch belanglos gering angesichts des Fortschrittes, den ich erzielen konnte“, erwiderte Lilmin. „Die Routinen, die ich entwickelt habe, machen aus dieser Forschung endlich mehr als ein Puzzlespiel mit unvollständigen Steinen eines Bildes, über dessen Charakter bisher niemand eine halbwegs glaubwürdige Prognose zu geben wagt.“
Der Professor ließ sich nicht beruhigen. „Sie handeln verantwortungslos!“, polterte er. „Der Schaden an der Maschine ist das sicherste Zeichen für die Kopplung der beiden Universen und solange wir über den Charakter dieses Gekoppelt-Seins nichts wissen, ist absolute Sorgfalt geboten! Genauso gut hätte das gesamte Gebäude deformiert werden können!“
„Wurde es aber nicht. Wir haben dafür Werte erhalten, die die Zielobjekte nahezu komplett abbilden! – Hören Sie, Professor!“ Langsam wurde Lilmin ungehalten. „Ihrer geliebten Maschine ist so gut wie nichts passiert. Ich komme für die Reparatur auf und dann lassen wir endlich das verbesserte Programm laufen! Die herkömmliche Entropieselektion hat auf die Effektivität meines Verfahrens keinen Einfluss, kann also so gehandhabt werden, wie Sie es für richtig halten. Also lassen Sie es uns endlich tun!“
„Nein!“
Lilmin glaubte, sich verhört zu haben: „Nein?“
„Nicht mit mir, nicht mit meiner Maschine und nicht in dieser Forschungseinrichtung!“
„Sie … werfen mich raus?“
„Ja. Das tue ich.“
Lilmin brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es Trrggn ernst war. „Das …“, stammelte er, „… das werden Sie bereuen. Das bereuen Sie noch!“
„Guten Morgen!“ Ricardo küsste Katja flüchtig auf die Stirn und setzte sich neben sie. „Alles klar?“ Er nickte Jon kurz zu.
Katja schenkte Ricardo Kaffee ein. „Du willst wirklich nicht mit runter kommen? Die Insel ist schön. Wirklich.“
„Mm“, schüttelt Rico den Kopf und sah zu Jon: „Wir müssen noch ein paar Vorbereitungen treffen für den Flug heute Mittag. Wenn wir in der Flachstelle wassern wollen, müssen wir eine Ankervorrichtung anbringen.“
„Wieso wollt ihr überhaupt hin? Ich denke, da gibt es nichts zu sehen.“
„Nur weil es keine Tiere dort gibt, heißt das nicht, dass es nicht interesant wäre. Es sind nicht alle auf dem Bio-Tripp, weißt du.“
Jon sah Ricardo groß an. „Hast du schlecht geschlafen?“
Rico schien erstaunt. „Wieso? Ich hab nur einfach diese Wassermurmel satt. Nichts als Ozean, eine Insel kaum großer als ein, zwei Fußballfelder, auf der es nur Grünzeug gibt. Ich finde das nicht sehr aufregend. Ich hoffe, der Captain dreht bald ab. Das hier ist kein Planet für Erkunder, das ist bestenfalls einer für Siedler. Wenn sie Wasser mögen.“
Es war leichter, als Lilmin gedacht hatte. Die Sicherheitsvorkehrungen waren so stümperhaft getroffen worden, dass er fast ohne Mühe in das Labor gelangte. Die Zugriffsmaschine, die er selbst zu bauen versucht hatte, war noch beim Probelauf auseinandergefallen. Es blieb nur die Anlage in Trrggns Labor. Der Alte hatte offenbar einen verbesserten Entropiesensor eingebaut – um so besser. Lilmin prüfte sorgfältig die Einstellungen, die der Professor zuletzt benutzt hatte, und veränderte sie, soweit nötig, für seine eigene Messreihe. Er hatte beschlossen, den Ort des Fensters vorzugeben, um die Suchzeit einzuschränken. Er wollte es an einem Ort versuchen, der schon ein paarmal lebendige Muster in den Scanbereich gebracht hatte. Vor allem aber war bei einer vorherigen Messreihe ein auraler Komplex am Rand des Fensters erschienen, der auf Intelligenz schließen ließ …
Der Lander stieg von der Insel auf und nahm direkten Kurs zum Schiff. Katharina Brauer schaltete auf Autopilot und lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen. Sie fühlte sich müde. Seit der Alptraum zurückgekehrt war, hatte sie kaum eine Nacht durchgeschlafen. Das Bild verfolgte sie inzwischen bis in den Tag hinein: Onio Aut, der einfach nicht glauben konnte, dass sie, ausgerechnet sie abgedrückt hatte …
„Katja?“, erreichte sie Ricardos Ruf.
„Ja?“, antwortete sie, dankbar über die Ablenkung, und schaltete den Monitor um. „Was gibt es?“
„Das wollte ich dich fragen. Hast du diese Palme gefunden?“
„Bärlapp, Rico. Es war ein Bärlapp.“
„Und? Hast du ihn gefunden?“
„Nein. Die kleineren Exemplare waren noch da, aber der große …“, sie schüttelte den Kopf. „Es sieht aus, als hätte jemand den Baum aus dem Boden gezogen.“
„Ich war’s nicht!“, beteuerte Ricardo ernsten Gesichts.
„Blödmann!“, lachte Katja. „Vielleicht gab es eine Art Wirbelsturm heute Nacht.“
„So begrenzt?“
„Wer weiß. Ich schau mir nachher mal die Ferndaten seit gestern an.“
Ein komplettes Muster – ein Lebewesen der parallelen Existenz. Während die Maschine einen neuen Zugriff vorbereitet, bewunderte Lilmin die Struktur dieses Wesens. Es war eindeutig lebendig, obwohl es genauso eindeutig ortsgebunden war. Ein kompakter Mittelteil spaltete sich an beiden Enden zunehmend zu feiner und feiner werdenden Fasern auf. Die Struktur dieser Verästelungen waren grundsätzlich verschieden, an einem Ende war die Lebensaktivität eindeutig höher als am anderen. Die Maschine meldete, ein neues Ziel erfasst zu haben. Lilmin wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu.
Ein Datenreflex verlangte Katharinas Aufmerksamkeit. „Hast du das gerade auch gesehen?“, fragte sie Ricardo.
„Was?“
„Ich bin nicht sicher. Eine Art … elektromagnetischer Wirbel?“
„Wo?“
„… auf dem Weg hierher.“
„Auf dem Weg? Von wo? Katja?“
Katharinas Finger flogen über die Tastatur. Kein Zweifel: Etwas näherte sich. Es kam aus Richtung der … Erde! „Ist ein Schiff hierher unterwegs?“, fragte sie.
„Nein. Nicht dass ich wüsste. Soll ich nachfragen?“
„Nein. Nicht im Mo… Da! Jetzt ist es … da ist ein zweiter Wirbel. Auf der Insel!“
„Zugriff“, meldete die Maschine.
„Ricardo, hast du die Da“
„Katja?“
Der Lander explodierte.
„Katjaa!!!“
Es war vollbracht. Lilmin würde in die Geschichte eingehen. Er würde vermerkt werden als der erste, der einen kompletten Mustersatz – stoffliche Parameter und Aura-Komplex – eines intelligenten Lebewesens der parallelen Existenz entrissen hatte.