Textsignale
Dear Nachtigall und interessierte Leser des Geigenspieler-Gedichtes!
Aus brennenden Augen
lächelt er leutselig.
Daneben, im stumpfen Fell,
liegt träge sein dürrer Hund.
Fast schüchtern die Schale
und ein Schild aus Pappe:
„Musik aus dem Banat“
Einzigartige Laute
streuen bittere Mandeln
zwischen die Noten.
Beinahe ungehörig
fügsam der Geigenbogen,
flüsternd wie die Gebete
frommer alter Frauen.
Vom Kirchturm glimmt golden
die versinkende Sonne.
Ich spüre seine Heimat und Temeswar
und alle Sonnenuntergänge.
Purpur legt sich auf die Blüten,
verschönt die Not der Armut
und den Ruf der Vergangenheit.
Hier noch mal zu den Textsignalen und zu den verschiedenen Lesarten. Und damit noch mal eine Beschäftigung mit dem Text, der mich - auch und gerade wegen der unterschiedlichen Leserreaktionen fasziniert.
Es ist sicher so, dass unterschiedliche Leser unterschiedlich lesen, wie Nachtigall betont. Trotzdem glaube ich, dass Textsignale einen bestimmten Spielraum für das Verstehen abstecken.
Ich probier es noch einmal:
„Musik aus dem Banat“
Daraus schließt der Leser,
a)
dass der Spieler wohl nicht im Banat seinen Auftritt hat, also im heutigen Rumänien, sondern vor deutschen Zuhörern spielt, vielleicht auch weil er damit rechnet, dass diese Tradition der Musik hier bekannt ist, bei wenigen, aber ...
b)
dass der Spieler sich von anderer, vielleicht von herkömmlicher Straßenmusik abgrenzt. Das könnte auch an einem Fremdenverkehrsort geschehen.
Das Lyrische Ich in "Ich spüre seine Heimat und Temeswar und alle Sonnenuntergänge" akzentuiert das Banatschild, es assoziiert "Heimat" und einen Städtenamen im Banat. Das ist natürlich primär die Heimat des Geigenspielers. Dass das lyrische Ich aber auch den Städtenamen kennt, weist darauf hin, dass auch der Zuhörer/das lyrische Ich eine besondere Beziehung zum Banat hat.
Der Hinweis auf "alle Sonnenuntergänge" weitet zunächst einmal die individuelle Situation aus. Wenn man den Ausdruck mit der Perspektive des lyrischen Ichs in Beziehung setzt, dann kann das die Erinnerung, auch die Beziehung an frühere Sonnenuntergänge bedeuten. Wenn das lyrische Ich eine enge Beziehung zum Banat hat, dann sind das auch Sonnenuntergänge im Banat. Es ist nicht zwingend, aber doch nicht unwahrscheinlich, dass der Zuhörer hier mit mit Musik und einem Bild seiner Erinnerung und damit seiner Vergangenheit (oder der seiner Eltern) konfrontiert wird.
Das bedeutet: im Deutungsspielraum des Textes findet eine Begegnung des lyrischen Ichs mit jemand statt, der fern von seiner Heimat ist, die vielleicht einmal die Heimat des lyrischen Ichs war. Dafür spricht dann auch der Ausdruck "Ruf der Vergangenheit".
Der "Purpur" ist zunächst einmal die rot glimmernde, untergehende Abendsonne. "Purpur" und "purpurrot" lässt Feierliches assoziieren, man denkt an einen Königsmantel, man denkt an das Purpur von Kardinälen oder Messdienern, man kann auch an "purpurrotes" Blut denken.
Hier wird im Text dem Purpur die Funktion des "Verschönerns" zugeordnet. Das kann bedeuten, dass es "Unschönes" gibt oder gab. Das mag unter anderem die Armut des Spielers sein, das mag der verwundende Verlust der Heimat sein, das mag die Art der Behandlung sein, die jemand erfahren hat.
Diese Schicht des Schlimmen - was das ist, wird nicht konkret gesagt - ist in dem Purpurbild "aufgehoben", im dreifachen Sinn:
Es ist bis zu einem bestimmten Grad beseitigt, es ist bis zu einem bestimmten Grad konserviert und es ist bis zu einem bestimmten Grad in die feierliche Aura der Abendstimmung eingeschmolzen.
Fazinierend finde ich das Bild der "Bitteren Mandeln", ein Hinweis, dass es hier nicht nur um süße Töne geht. "Ungehörig fügsam" steht in einem seltsamen Kontrast zu den "flüsternden Gebeten frommer alter Frauen". "Ungehörig fügsam" kann eine erotische Nebenbedeutung haben und dabei das Zusammenspiel von Geige und Bogen in einem Liebesbild charakterisieren. Gleichzeitig wird aber jenseits der erotischen Dimension ein kirchlicher Raum eröffnet und mit dem Bild der alten Frauen auch der wehmütige Abschied von Lebensfreude und Lust ins Spiel gebracht.
Fazit: Es kann gut sein, dass solche Gedanken vom Autor gar nicht mitgedacht wurden, es kann aber auch sein, dass sie in seinem Unterbewusstsein schlummern und in die Strophen eingeflossen sind. Es kann aber auf jeden Fall so sein, dass der Text mit seinen Wortfolgen und Bildfügungen solche Stimmungen und Gesamtbilder heraufbeschwört, ob das nun vom Autor beabsichtigt war oder nicht.
Danke nochmal an den Autor für seinen Text.