R
rmdp
Gast
Die Geschichte ist den Frauen dieser Welt gewidmet. Denn jede einzelne ist eine Frau fürs Leben.
Ralf
Eine Frau fürs Leben.
Niemand würde mir glauben, wie lange ich auf der Suche nach der Frau fürs Leben war. Ich selbst kann es, rückblickend, nicht im Geringsten auch nur annähernd sagen. Waren es Äonen – ein, zwei, drei oder mehr Erdenzeiten? Oder lediglich eine Sekunde - die Sekunde des Ledigen?
Was ich trotz allem mit Genauigkeit weiß ist, dass ich sie vor einem Dreivierteljahr endlich gefunden hatte. Der einzige exakte Zahlenbegriff den ich an dieser Stelle einsetzen kann. Auf die mir, dem Ungeduldigen endlos erschienene Dauer der Suche umgerechnet, eine kurze Zeitspanne. Wenn ich jetzt - in diesem Moment - zurückblicke, war es paradoxer Weise kein langwieriges Unterfangen. So denke ich jetzt – aus heutiger Sicht.
Ich fand sie also - oder sie mich, wie man will, unser beider Schicksal glich sich aus. Ich hatte sie und sie hatte mich. Es war freilich ich, der unvergleichlich helles Glück hatte. Statistisch betrachtet war ich einer unter Millionen Konkurrenten, oder potentiellen Brautwerbern - wie man es nennen will. Gemessen an der Zahl der männlichen Bevölkerung unserer Stadt, unseres Reiches, des Erdenreiches. Der Leser wird an dieser Stelle erkennen, dass ich ein klein wenig übertreibe. Ich bin bekannt dafür – wenn es für mich opportun ist - ein wenig zu übertreiben. In dieser letzten, eingangs erwähnten Sekunde war alsdann ich der Auserwählte. Der Stärkste, einfach ihr Alpha-Mann.
Unbeschreiblich, wie wunderbar die Zeit mit ihr von dieser ersten Sekunde an war. Anfangs war ich total zerstreut, noch ein richtiger Tollpatsch, und unsicher, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Mein Ichmitihr wusste in diesen ersten Momenten gar nicht in welche Richtung es gehen sollte – oder würde. Man muss auch bedenken, dass ich komplett „aus dem Häuschen“…oder vielleicht besser noch „im Häuschen“ war. Es ist so schwer dieses Ereignis für den Außenstehenden verständlich zu beschreiben. Zeitweise, vor allem in den ersten paar Wochen wusste ich regelrecht nicht einmal: bin ich Männchen oder Weibchen – bildlich gesprochen. Sie hatte mein Köpfchen – wenn ich so sagen darf - derart verdreht…dass ich buchstäblich blind war. Dieser Zustand war fast beängstigend – weil so neu und bisdavor unerlebt. Bei ihrem wunderbaren Charakter war mein Blindsein Gott sei Dank kein Risiko. Ich meine damit, dass sie mein „Halsüberkopf in ihr Aufgehen“ nie missbrauchte. Sie gab mir von der ersten Sekunde unseres mit- und ineinander an eine bemerkenswerte und schenkende Stabilität. Ich wurde dadurch buchstäblich von Tag zu Tag stärker und sicherer. Durch sie und mit ihr. Meine Kräfte schwollen an, explodierten förmlich. Mit ihr ich spürte es, könnte ich irgendwann einmal – wenn sie und ich es wollten - die Welt erobern.
Unsere Beziehung wurde inniger und fester – gedieh in eine Unermesslichkeit von Liebe und Zweiheit. Wie ich eingangs sagte, sie war schon nach wenigen Wochen für mich unersetzlich geworden – absolut unersetzlich. Ich kann nicht begründen warum, aber ich spürte, dass sie verlässlich ….bis in den Tod…sein würde. Darob war ich völlig sicher.
Sie werden jetzt vielleicht fragen, wie ich das nach so kurzer Zeit wissen konnte? Seien Sie an dieser Stelle versichert - man spürt es, wenn man sie gefunden hat. So etwas….na ja…es muss einem nicht ausdrücklich von ihr beteuert werden. Ich meine – es gibt eben nur diese eine Frau fürs Leben und die gewährt einem Mann wortlose Sicherheit. Ohne Zögern, Zaudern, Gesten oder gar Worten die einen Mann hierbei unsicher machen könnten. Ich fühlte mich einfach jede Sekunde unvergleichlich wohl in ihrer Nähe. Und Sie dürfen mir glauben - wir standen einander unsagbar nahe – mehr als hautnah mehr als sinnesnah.
Es gab nie Streit zwischen uns – das war mir manchmal fast schon verdächtig. Wenn ich unruhig oder ungeduldig war – war sie es die mich mit zärtlichen Worten beruhigte. Es gab da mal einen Tag – etwa nach einem Dreivierteljahr unserer Beziehung. Wir waren ja jede Sekunde zusammen gewesen in diesen Monaten und dann hatten wir erstmals ein wirkliches Problem miteinander. Es war an einem Morgen. An diesem Morgen tat ich ihr weh…schrecklich weh. Wir trennten uns auch an diesem Morgen…aber nur für einige Sekunden…wenige Momente. Und sie verzieh mir im selben Augenblick, nahm mich rasch wieder in ihre Arme. So war sie, die Frau meines Lebens.
Ich erinnere mich nicht an diesen Tag - nicht im Geringsten. Ich hatte ihn vollkommen und perfekt verdrängt. Später in den Jahren danach, hatte sie einige Male mit mir darüber geredet - eher mehr geschwatzt. Ich hätte nicht die geringste Schuld an der Sache gehabt…damals, versicherte sie mir bei diesen Gelegenheiten. Damit war die Schuldfrage geklärt. Ihr Großmut war grenzenlos. Somit musste ich kein schlechtes Gewissen haben.
Ein neues Heute.
Weitere 42 Jahre sind vergangen, während welchen wir uns kaum von einander trennten. Natürlich konnten wir nicht mehr so wie in den ersten Jahren jede Sekunde miteinander verbringen.
Das bracht vor allem mein Beruf mit sich. Ich war nun Wissenschaftler und da ging Einiges an Zeit und auch Freizeit drauf. Vor allem wenn ein Beruf so spannend ist, wie meiner. Das Kleinste und das noch viel Kleinere…um die Beiden drehte sich mein Berufsleben. Sie hatte für alles das Verständnis, es gab niemals auch nur ein Wort der Beschwerde, des Unmutes. Ich war mit ihr so oft als meine spärliche Restzeit das eben erlaubte. Sie war immer zufrieden. Niemals hatte ich in all diesen Jahren ein Zeichen der Unzufriedenheit an ihr entdecken können, an meiner Frau fürs Leben.
Seit ich nun meinen Beruf vor genau neun Monaten an den Nagel hängen musste, ist sie wieder jeden Tag bei mir. Hält meine Hand, jeden Tag von früh bis spät. Wir sind wieder unzertrennlich wie in unserem ersten Dreivierteljahr. Ihre Treue ist unveränderlich, ihr und mein Leben lang.
Vor neun Monaten wurde bei mir überraschend eine akute myeloische Leukämie diagnostiziert. Die Krankheit hatte sich hinterhältig und leise an mich herangeschlichen, kostümierte sich anfangs als eine kleine Grippe die mich nicht mehr verlassen wollte. Die Diagnose absolut unheilvoll. Eine der bösartigsten Sachen, die einem die ehrenwerte Genetik als Schicksal vor die Seele werfen kann. Der Krebs frisst erst das Knochenmark und dann das Blut auf – so etwa in der Reihenfolge oder umgekehrt! Es ist im Prinzip egal.
Anfangs wollten es weder ich noch - schon gar nicht - sie glauben. Man konsultierte schnell einen besseren Hämatologen nach dem vorherigen…bis man unglücklich davon überzeugt wird. Der Letzte bestätigte dann beinahe phlegmatisch seinen vorherigen und alle anderen Vorgänger. Punktum. Ein Punkt im Nichts.
Obwohl man mir etwas von einer 50-prozentigen Chance für eine langfristige Remission vorkalkulierte, kam es dann doch anders. Tatsächlich waren die Chancen unendlich gering, so gering, dass man nach den Überlebenden dieser Krankheit mit einer großen Lupe suchen müsste. Statistiken logen uns beide in elegantem, nüchternem Schwarz auf Weiß an.
In den bunt schillernden Infusionsflaschen der chemotherapeutischen Präparate spiegelten sich meine hoffenden Gesichtszüge 6 Monate lang wie Zerrbilder meines zukünftigen Ichs. So als ob Till Eulenspiegel sich nicht mit dem, was aus mir geworden war, abfinden wollte. Natürlich kam die erwartete Remission. Sie machte der Krankheit aber so schnell und großzügig Platz wie ein junger höflicher Mensch einem Alten in der Straßenbahn. Mein Kopf dröhnte von den unbetonten, leisen Worten, die meine Ärzte einander zuraunten. Langsam, fast zaghaft erklärte Begriffe sausten an mir vorbei, ohne sich an mir festhalten zu wollen. Man filterte autologene Stammzellen aus meinem Blut, fror sie ein wie Bratensaft und transplantierte diese sodann wieder hochwohldosiert zurück in meinen Kreislauf aus farblosem, lustlosem Blut. Alles um mich lief im Kreis und ich wurde für geraume Zeit zum kreiselnden Spielzeug im Mittelpunkt modernster Onkologie. Ein verlöschender Stern im Zentrum der Galaxie „Medizin“, wenn Sie so wollen.
Seit zwei Tagen bin ich nun schon in diesem gläsernen Sarg. Wie „Snow White“ im Märchen. Mit schneeweißer Haut. Mein chemisch gereinigtes Blut ausgebleicht wie die strahlend weiße Wäsche, die der „Weiße Riese“ schon seitdem ich denken kann vertrauensvollen Wäscherinnen garantiert. Und derart toxisch, es hätte jede Malariamücke unverzüglich zur Hölle geschickt.
Schluss mit der Melodramatik. Ich brauche sie hier nicht mehr. Ist für Sie, den Leser, damit Sie wissen, was auch Ihnen einmal erblühen könnte. Hoffentlich nicht!
Im Diesseits – bei Ihnen drüben - würde man meinen Zustand Koma nennen, wenn man ihn erkannt hätte. Hat man nicht, wie denn auch? Ich konnte keine Erklärung dazu abgeben, niemanden darüber informieren. Bin von einem zum anderen Moment erzwungener Maßen wortkarg geworden, in der klaren Kargheit meines gläsernen Sarges.
Das interessante an diesem Zustand ist, dass er nicht unerträglich oder gar unbequem ist. Die banalsten Notwendigkeiten sind unnotwendig geworden. Kein Rasieren , Zähneputzen, Waschen, Urinieren - nichts dergleichen. Das mag vielleicht sarkastisch klingen, aber diese erzwungene Faulheit ist nicht unangenehm. Im Gegenteil, viel angenehmer als das Vorher. Keine wie in letzter Zeit schon maßlos anstrengenden Dinge wie etwa das Aufstehen und einmal ums Bett herumschlurfen.
Wobei jede noch so geringe Bewegung mühsam war, mir bleiern schwer fiel und jede Berührung – wenn auch noch so sanft - Schmerzen verursachte.
Himmel…wo war ich denn…eigentlich…? Ja…
Die Frau meines Lebens sitzt hier tagtäglich an meinem Bett und schläft auch seit meinem leisen unerkannten Abschied ins Koma vor einigen Tagen bei mir. Wie sie diesen Zeitpunkt so genau erwischte, ist mir unerklärlich. Aber was ist schon erklärlich wenn man überlegt, dass der wohl klügste Mann in der Geschichte der Menschheit schon vor rund 2350 Jahren feststellen musste, dass er „wusste, dass er nichts wusste“.
Man erlaubt ihr das hier im Haus: rund um die Uhr bei mir zu sein, Gnaden halber. Alles in Allem kein übler, aber auch kein wunderbarer Platz zum Sterben, dieses Spital. Sie spricht immer wieder mit mir, berührt meine Hand, mein Gesicht - ich kann sie hören und fühlen. Kann den Duft ihres altmodischen Lavendel-Cologne riechen wie ein Tier eine Witterung. Meine Augenlider sind schwer wie zwei Visiere aus Eisen, ich werde sie nie mehr öffnen. Ich weiß es und auch meine (warum eigentlich meine?) Ärzte scheinen das zu wissen. Oder reimen es sich wissenschaftlich zusammen.
Sie scheint nicht daran zu glauben, entnehme ich den Worten die sie mir zuflüstert. Sie glaubt nicht daran, sondern glaubt an mich.
Die Sache ist nämlich die: Eine Frau fürs Leben kann nicht an die Vergänglichkeit jenes Lebens glauben, das sie über alle Massen liebt.
Meine Möglichkeiten mit ihr zu kommunizieren sind auf ein maximales Minimum beschränkt. Ich würde vermuten, auf ein unmerkliches Vibrieren meiner Finger. Sie scheint das zu spüren, während sie verzweifelt auf der Suche nach ein bisschen Leben in mir ist. Man verabreichte…nein… reduzierte meine Schmerzen während der letzten 2 Wochen mit dem Gnadenspender Fentanyl. Na, das ist ein gutes Tröpferl…huiii! Ein Fluglehrer „par excellence“. Niemand von denen da drüben außerhalb weiß oder ahnt, dass ich den Likör jetzt eigentlich nicht mehr brauche. Sie wissen so wenig da drübendraussen. Es gibt keinen Schmerz im gläsernen Sarg. Interessanterweise hat dieses schwere Morphin nicht den geringsten Einfluss auf mein Bewusstsein.
Ich kann meiner Geliebten nur nichts mehr mitteilen. Mich, wie gesagt, nicht mehr bemerkbar machen. Keine Signale, nicht einmal die winzigste Zeichensprache. Kaumstens, wenn ich mir in meinem Zustand diese Steigerung gestatten darf. Als Passagier im gläsernen Sarg, jenem kleinen Vorraum zu einem anderen wahrscheinlich viel größeren Raum, ist Sprache überflüssig. In diesem einen Raum, den niemand kennt. Schon gar nicht die Erfinder des lieben Gottes. Das ärgert die schon seit ein paar tausend Jahren. Faseln uns philosophisch, metaphysisch seicht dämmernden Quatsch ins Psycho. Um uns lebzeitensweise einzulullen, in eine trügerische Sicherheit für ein fiktives, belohnendes Danach. Was für eine abgrundtiefe Scheiße, die der Mensch sich in seiner Gutgläubigkeit schon Jahrtausende lang vorsetzen lässt.
Ja - aber wenn du erst mal auf dem Weg dorthin bist…ist es aufheiternd einfach. Wie ich eingangs schon sagte – es tut einem dank formidabler Chemie zuallerallererst einmal nichts mehr weh. Man kann nur nicht mehr…“ich liebe dich“ und „leb wohl“ sagen. Dafür ist es leider zu spät. Und das wird einem heutzutage nicht rechtzeitig gesagt…klar doch, man muss das verstehen. Niemand soll Angst haben. Früher durfte man mit und in Würde sterben im Kreise seiner Familie.
Meine Frau fürs Leben hatte immer zum lieben Gott gebetet, dass ich ein gesunder junger Mann bleibe. In der Folge dann ein ebensolcher gesunder reifer Mann. Und dann, wenn sie – Gott behüte - vielleicht einmal nicht mehr da wäre, ein ebensolcher gesunder alter Mann.
Es ist alles anders gekommen…Wir sind eben nicht die Dompteure unserer Gene. Noch nicht jedenfalls. Bis dato sind sie unsere Dompteure. Aber das wird sich ändern. Man hastet forschend, experimentierend auf dem Weg dorthin, für mich rückspiegelnd betrachtet leider zu langsam.
Aber dort wo ich jetzt dämmere spielen diese Fragen, Hoffnungen und Sehnsüchte nach Unsterblichkeit keine Rolle mehr. Sie haben nur mehr für die auf der anderen Seite Bedeutung.
Das ganze Leben ist von Anfang an mit geradezu unmenschlicher Angst gepaart, und erst diese Angst, die nebenbei gesagt das beste Geschäft ist, macht alles erst wirklich sinn – und bedeutungsvoll.
Nicht mehr so im gläsernen Sarg…in Ermangelung einer anderen buchstäblichen Beschreibung.
Weil ich noch nicht dort bin, wo alle Worte zu einem Wort verschmelzen. Ich kann keine bessere Metapher dafür finden.
Obwohl ich für die Frau meines Lebens in ihrem Drüben unhörbar bin, spreche ich trotzdem mit ihr. Ich sage lautlose Worte…in der völlig lautlosen Hoffnung, sie würde doch dieses oder jenes vielleicht mit ihrer Seele hören können. Weil mein verblassendes Leben…also das Kleinwenig, dass davon im Moment noch übrig ist, schon nicht mehr meines ist. Kommuniziert nur noch vorübergehend mit den grün, gelb und blau oszillierenden Apparaten mit den vielen Ziffern, um mich, sozusagen um meine Wenigstkeit herum. Aber auch dieses „Kommunizieren“ ist im Grunde genommen nur mehr scheinbar. In dieser letzten Phase werde ich schlicht und einfach nur mehr von bunt auf und ab blinkenden ablesbaren Werten repräsentiert, Signalen, die mein immer schwächer werdender Biomotor kläglich pulsierenden aussendet. Wie ein sich in den interstellaren Raum entfernender Forschungs-Satellit, dessen Signale zaghafter werden und immer mehr Zeit zurück benötigen. Nun gut, für mich nicht mehr lange.
Ich bin innerlich freier denn je und auch physisch federleicht. Auch für die Schwestern die mich jeden Tag waschen und dabei auch heben müssen. Ich spüre sie noch feinfaserig - ihre jetzt schmerzlosen gewordenen Berührungen - jeden Tag noch ein wenig flüchtiger. Mein „Nochlebendgewicht“ hatte sich in den letzten Wochen dramatisch reduziert. Ein Fliegengewicht…heute nur mehr ein Eintagsfliegengewicht.
Ich spüre – nein, sehen kann ich ihn nicht mehr - deinen liebvollen Blick du Frau meines Lebens.
Ein paar Tränen wie vereinzelte Tropfen eines lauwarmen Regens auf meinem Gesicht, wenn du dich über mich beugst und mich mit deinen trockenen weichen Lippen sachte küsst, mich streichelst.
Ich würde mit Leichtigkeit mein Leben dafür geben, könnte ich dich jetzt noch einmal in meine Arme nehmen. Kein hoher Preis mehr, ich muss es ohnehin geben. Leider für Nichts! Es gibt jetzt eine Kraft, die zwar nicht größer, aber stärker ist als meine Liebe zu dir…Die unbezwingbare Kraft des Abschieds von dieser Welt. Die stärkste unter den bekannten Kräften im Kosmos.
Wir suchten seit Jahren nach der so genannten „Grand Unified Theorie“, der alles vereinenden Kraft des Kosmos, Mikro und Makro. Ich war so gerne mit und in Demut einer von und mit ihnen.
Habe erfolglos und auch -reich mitgedacht, gerechnet und hypothetisiert. Kratzende Kreiden formten endlos aneinander gereihte Formeln auf grünen Schiefertafeln. In unserem Forschungszentrum drehte sich seit Jahren alles nur mehr um noch kleinere Teilchen und zuletzt Schlingen und Superschlingen. Um abstrakt virtuelle symmetrische Schönheiten, in zahlreichen fast unmessbar, unendlich kleinen, wie auch unerreichbaren Dimensionen. Als ob Schlingen nicht genug wären.
Ich fließe jetzt schon dahin auf den leichten Schwingen nach Nirgendwo. Den gordischen Schlingen des Lebens fast entwoben. Zugleich mit dir und ohne dich, du Frau meines Lebens. Du hast mich von der ersten Sekunde unseres Zusammenseins an behütet. Und behütest mich auch jetzt in der letzen Sekunde.
Es ist nicht dunkel in diesem eigenartigen Korridor, in dem ich jetzt bin, habe den gläsernen Sarg verlassen, bin schon in der nächsten Raumheit. Es ist diffuse hier und mild. Schwer, aus dieser unfühlbaren Dimension Fühlbares zu beschreiben.
Ich erahne, wie mir ein Verschmelzen von Sein und Nichtsein geschieht. Das Ende einer 42 Jahre und neun Monate dauernden Sekunde. Ich bin glücklich, weil du bei mir bist. Du weißt das doch? Traurig nur, dass wieder einmal ich derjenige bin, der dich nicht belohnt, der dir wehtut. Obzwar du früher beharrlich das Gegenteil behauptet und mir dies auch immer wieder versichert hattest.
Du verzeihst mir sogar meinen zu frühen Tod.
In diesem Moment empfinde ich Deine Nähe wie eine weit – sehr weit entfernte und doch nahe Wärmequelle - wie jemand einen warmen Windhauch deutlich spürt. Von einer Beschaffenheit die nicht so ungleich jener ist, die mich damals in deinem Körper umhüllte und mir Schutz gab. Die Vergleichbarkeit dieser Beiden ist jetzt in diesem allerletzten Moment Eins.
Mutter Du Mein Haus.
Epilog
Glaube mir, Mutter, das Verlassen des Deinerseits war leicht, weil ich es in deinem Schatten tun durfte. Den Schatten, den du für mich behütend auf dieses Deinerseits warfst. Es war ein schützender Schatten gegen das grelle Licht, von dem ich mich trennen musste.
Jetzt nimmst du meine Hand und drückst sie sanft und doch voll Stärke an deine Lippen.
Das hattest du unzählige Male gemacht, als ich noch ein winziges Menschlein war. Hast es mir später oft mit vor Glück strahlenden Augen erzählt, wie schön die Zeit mit mir war. Jetzt ist Niezeit. Nur mehr schön für mich.
Jetzt da ich dorthin bin, nehme ich deine letzte Berührung mit mir. Als vergessene Realität, oder nur als Traum von Deinerseits. Ich würde dir so gerne sagen, dass es da, wo immer ich jetzt entlanghinfließe, kein Berühren, kein Bewegen mehr gibt. Ich bin…zwischen keiner Tür ohne Angel, es ist alles Eins, alles jemals von Menschen Geträumte und Gedachte - Eins.
Nun plötzlich nehme ich dich noch einmal wahr - durch die, schon ewig nicht mehr meinen Augenlider, so als ob das Es mit einer alles erhellenden Lichtquelle mir letztmals leuchten würde. Auf dich geliebte Mutter, strahlt alles Licht aus meiner neuen Seinheit. Ich sehe dich deutlich, wie du damals warst und heute bist - dein irdisch feines Gesicht verschmilzt zu ewiger zeitloser Schönheit. Und ich fühle mich wieder an deiner Brust - die ersten Tropfen des Lebens aus deinem Körper trinkend. Den letzen Tropfen meines Lebens aus deiner Seele trinkend.
Mutter, Du Mein Gral.
Ich bin nur mehr Seele. Das Licht darf jetzt verlöschen oder auch nicht. Ich habe keine Angst mehr vor der Dunkelheit. Es gibt in meiner neuen Seinheit keine Angst, Traurigkeit oder gar Tränen. Alle Tränen bleiben bei dir zurück, geweint als deine letzten Geschenke an mich…ich sehe sie glitzernd auf deinen Wangen wie feinst geschliffene und doch fließende Diamanten. Weine sie an meiner Statt und für mich.
Mutter .
Ralf
Eine Frau fürs Leben.
Niemand würde mir glauben, wie lange ich auf der Suche nach der Frau fürs Leben war. Ich selbst kann es, rückblickend, nicht im Geringsten auch nur annähernd sagen. Waren es Äonen – ein, zwei, drei oder mehr Erdenzeiten? Oder lediglich eine Sekunde - die Sekunde des Ledigen?
Was ich trotz allem mit Genauigkeit weiß ist, dass ich sie vor einem Dreivierteljahr endlich gefunden hatte. Der einzige exakte Zahlenbegriff den ich an dieser Stelle einsetzen kann. Auf die mir, dem Ungeduldigen endlos erschienene Dauer der Suche umgerechnet, eine kurze Zeitspanne. Wenn ich jetzt - in diesem Moment - zurückblicke, war es paradoxer Weise kein langwieriges Unterfangen. So denke ich jetzt – aus heutiger Sicht.
Ich fand sie also - oder sie mich, wie man will, unser beider Schicksal glich sich aus. Ich hatte sie und sie hatte mich. Es war freilich ich, der unvergleichlich helles Glück hatte. Statistisch betrachtet war ich einer unter Millionen Konkurrenten, oder potentiellen Brautwerbern - wie man es nennen will. Gemessen an der Zahl der männlichen Bevölkerung unserer Stadt, unseres Reiches, des Erdenreiches. Der Leser wird an dieser Stelle erkennen, dass ich ein klein wenig übertreibe. Ich bin bekannt dafür – wenn es für mich opportun ist - ein wenig zu übertreiben. In dieser letzten, eingangs erwähnten Sekunde war alsdann ich der Auserwählte. Der Stärkste, einfach ihr Alpha-Mann.
Unbeschreiblich, wie wunderbar die Zeit mit ihr von dieser ersten Sekunde an war. Anfangs war ich total zerstreut, noch ein richtiger Tollpatsch, und unsicher, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Mein Ichmitihr wusste in diesen ersten Momenten gar nicht in welche Richtung es gehen sollte – oder würde. Man muss auch bedenken, dass ich komplett „aus dem Häuschen“…oder vielleicht besser noch „im Häuschen“ war. Es ist so schwer dieses Ereignis für den Außenstehenden verständlich zu beschreiben. Zeitweise, vor allem in den ersten paar Wochen wusste ich regelrecht nicht einmal: bin ich Männchen oder Weibchen – bildlich gesprochen. Sie hatte mein Köpfchen – wenn ich so sagen darf - derart verdreht…dass ich buchstäblich blind war. Dieser Zustand war fast beängstigend – weil so neu und bisdavor unerlebt. Bei ihrem wunderbaren Charakter war mein Blindsein Gott sei Dank kein Risiko. Ich meine damit, dass sie mein „Halsüberkopf in ihr Aufgehen“ nie missbrauchte. Sie gab mir von der ersten Sekunde unseres mit- und ineinander an eine bemerkenswerte und schenkende Stabilität. Ich wurde dadurch buchstäblich von Tag zu Tag stärker und sicherer. Durch sie und mit ihr. Meine Kräfte schwollen an, explodierten förmlich. Mit ihr ich spürte es, könnte ich irgendwann einmal – wenn sie und ich es wollten - die Welt erobern.
Unsere Beziehung wurde inniger und fester – gedieh in eine Unermesslichkeit von Liebe und Zweiheit. Wie ich eingangs sagte, sie war schon nach wenigen Wochen für mich unersetzlich geworden – absolut unersetzlich. Ich kann nicht begründen warum, aber ich spürte, dass sie verlässlich ….bis in den Tod…sein würde. Darob war ich völlig sicher.
Sie werden jetzt vielleicht fragen, wie ich das nach so kurzer Zeit wissen konnte? Seien Sie an dieser Stelle versichert - man spürt es, wenn man sie gefunden hat. So etwas….na ja…es muss einem nicht ausdrücklich von ihr beteuert werden. Ich meine – es gibt eben nur diese eine Frau fürs Leben und die gewährt einem Mann wortlose Sicherheit. Ohne Zögern, Zaudern, Gesten oder gar Worten die einen Mann hierbei unsicher machen könnten. Ich fühlte mich einfach jede Sekunde unvergleichlich wohl in ihrer Nähe. Und Sie dürfen mir glauben - wir standen einander unsagbar nahe – mehr als hautnah mehr als sinnesnah.
Es gab nie Streit zwischen uns – das war mir manchmal fast schon verdächtig. Wenn ich unruhig oder ungeduldig war – war sie es die mich mit zärtlichen Worten beruhigte. Es gab da mal einen Tag – etwa nach einem Dreivierteljahr unserer Beziehung. Wir waren ja jede Sekunde zusammen gewesen in diesen Monaten und dann hatten wir erstmals ein wirkliches Problem miteinander. Es war an einem Morgen. An diesem Morgen tat ich ihr weh…schrecklich weh. Wir trennten uns auch an diesem Morgen…aber nur für einige Sekunden…wenige Momente. Und sie verzieh mir im selben Augenblick, nahm mich rasch wieder in ihre Arme. So war sie, die Frau meines Lebens.
Ich erinnere mich nicht an diesen Tag - nicht im Geringsten. Ich hatte ihn vollkommen und perfekt verdrängt. Später in den Jahren danach, hatte sie einige Male mit mir darüber geredet - eher mehr geschwatzt. Ich hätte nicht die geringste Schuld an der Sache gehabt…damals, versicherte sie mir bei diesen Gelegenheiten. Damit war die Schuldfrage geklärt. Ihr Großmut war grenzenlos. Somit musste ich kein schlechtes Gewissen haben.
Ein neues Heute.
Weitere 42 Jahre sind vergangen, während welchen wir uns kaum von einander trennten. Natürlich konnten wir nicht mehr so wie in den ersten Jahren jede Sekunde miteinander verbringen.
Das bracht vor allem mein Beruf mit sich. Ich war nun Wissenschaftler und da ging Einiges an Zeit und auch Freizeit drauf. Vor allem wenn ein Beruf so spannend ist, wie meiner. Das Kleinste und das noch viel Kleinere…um die Beiden drehte sich mein Berufsleben. Sie hatte für alles das Verständnis, es gab niemals auch nur ein Wort der Beschwerde, des Unmutes. Ich war mit ihr so oft als meine spärliche Restzeit das eben erlaubte. Sie war immer zufrieden. Niemals hatte ich in all diesen Jahren ein Zeichen der Unzufriedenheit an ihr entdecken können, an meiner Frau fürs Leben.
Seit ich nun meinen Beruf vor genau neun Monaten an den Nagel hängen musste, ist sie wieder jeden Tag bei mir. Hält meine Hand, jeden Tag von früh bis spät. Wir sind wieder unzertrennlich wie in unserem ersten Dreivierteljahr. Ihre Treue ist unveränderlich, ihr und mein Leben lang.
Vor neun Monaten wurde bei mir überraschend eine akute myeloische Leukämie diagnostiziert. Die Krankheit hatte sich hinterhältig und leise an mich herangeschlichen, kostümierte sich anfangs als eine kleine Grippe die mich nicht mehr verlassen wollte. Die Diagnose absolut unheilvoll. Eine der bösartigsten Sachen, die einem die ehrenwerte Genetik als Schicksal vor die Seele werfen kann. Der Krebs frisst erst das Knochenmark und dann das Blut auf – so etwa in der Reihenfolge oder umgekehrt! Es ist im Prinzip egal.
Anfangs wollten es weder ich noch - schon gar nicht - sie glauben. Man konsultierte schnell einen besseren Hämatologen nach dem vorherigen…bis man unglücklich davon überzeugt wird. Der Letzte bestätigte dann beinahe phlegmatisch seinen vorherigen und alle anderen Vorgänger. Punktum. Ein Punkt im Nichts.
Obwohl man mir etwas von einer 50-prozentigen Chance für eine langfristige Remission vorkalkulierte, kam es dann doch anders. Tatsächlich waren die Chancen unendlich gering, so gering, dass man nach den Überlebenden dieser Krankheit mit einer großen Lupe suchen müsste. Statistiken logen uns beide in elegantem, nüchternem Schwarz auf Weiß an.
In den bunt schillernden Infusionsflaschen der chemotherapeutischen Präparate spiegelten sich meine hoffenden Gesichtszüge 6 Monate lang wie Zerrbilder meines zukünftigen Ichs. So als ob Till Eulenspiegel sich nicht mit dem, was aus mir geworden war, abfinden wollte. Natürlich kam die erwartete Remission. Sie machte der Krankheit aber so schnell und großzügig Platz wie ein junger höflicher Mensch einem Alten in der Straßenbahn. Mein Kopf dröhnte von den unbetonten, leisen Worten, die meine Ärzte einander zuraunten. Langsam, fast zaghaft erklärte Begriffe sausten an mir vorbei, ohne sich an mir festhalten zu wollen. Man filterte autologene Stammzellen aus meinem Blut, fror sie ein wie Bratensaft und transplantierte diese sodann wieder hochwohldosiert zurück in meinen Kreislauf aus farblosem, lustlosem Blut. Alles um mich lief im Kreis und ich wurde für geraume Zeit zum kreiselnden Spielzeug im Mittelpunkt modernster Onkologie. Ein verlöschender Stern im Zentrum der Galaxie „Medizin“, wenn Sie so wollen.
Seit zwei Tagen bin ich nun schon in diesem gläsernen Sarg. Wie „Snow White“ im Märchen. Mit schneeweißer Haut. Mein chemisch gereinigtes Blut ausgebleicht wie die strahlend weiße Wäsche, die der „Weiße Riese“ schon seitdem ich denken kann vertrauensvollen Wäscherinnen garantiert. Und derart toxisch, es hätte jede Malariamücke unverzüglich zur Hölle geschickt.
Schluss mit der Melodramatik. Ich brauche sie hier nicht mehr. Ist für Sie, den Leser, damit Sie wissen, was auch Ihnen einmal erblühen könnte. Hoffentlich nicht!
Im Diesseits – bei Ihnen drüben - würde man meinen Zustand Koma nennen, wenn man ihn erkannt hätte. Hat man nicht, wie denn auch? Ich konnte keine Erklärung dazu abgeben, niemanden darüber informieren. Bin von einem zum anderen Moment erzwungener Maßen wortkarg geworden, in der klaren Kargheit meines gläsernen Sarges.
Das interessante an diesem Zustand ist, dass er nicht unerträglich oder gar unbequem ist. Die banalsten Notwendigkeiten sind unnotwendig geworden. Kein Rasieren , Zähneputzen, Waschen, Urinieren - nichts dergleichen. Das mag vielleicht sarkastisch klingen, aber diese erzwungene Faulheit ist nicht unangenehm. Im Gegenteil, viel angenehmer als das Vorher. Keine wie in letzter Zeit schon maßlos anstrengenden Dinge wie etwa das Aufstehen und einmal ums Bett herumschlurfen.
Wobei jede noch so geringe Bewegung mühsam war, mir bleiern schwer fiel und jede Berührung – wenn auch noch so sanft - Schmerzen verursachte.
Himmel…wo war ich denn…eigentlich…? Ja…
Die Frau meines Lebens sitzt hier tagtäglich an meinem Bett und schläft auch seit meinem leisen unerkannten Abschied ins Koma vor einigen Tagen bei mir. Wie sie diesen Zeitpunkt so genau erwischte, ist mir unerklärlich. Aber was ist schon erklärlich wenn man überlegt, dass der wohl klügste Mann in der Geschichte der Menschheit schon vor rund 2350 Jahren feststellen musste, dass er „wusste, dass er nichts wusste“.
Man erlaubt ihr das hier im Haus: rund um die Uhr bei mir zu sein, Gnaden halber. Alles in Allem kein übler, aber auch kein wunderbarer Platz zum Sterben, dieses Spital. Sie spricht immer wieder mit mir, berührt meine Hand, mein Gesicht - ich kann sie hören und fühlen. Kann den Duft ihres altmodischen Lavendel-Cologne riechen wie ein Tier eine Witterung. Meine Augenlider sind schwer wie zwei Visiere aus Eisen, ich werde sie nie mehr öffnen. Ich weiß es und auch meine (warum eigentlich meine?) Ärzte scheinen das zu wissen. Oder reimen es sich wissenschaftlich zusammen.
Sie scheint nicht daran zu glauben, entnehme ich den Worten die sie mir zuflüstert. Sie glaubt nicht daran, sondern glaubt an mich.
Die Sache ist nämlich die: Eine Frau fürs Leben kann nicht an die Vergänglichkeit jenes Lebens glauben, das sie über alle Massen liebt.
Meine Möglichkeiten mit ihr zu kommunizieren sind auf ein maximales Minimum beschränkt. Ich würde vermuten, auf ein unmerkliches Vibrieren meiner Finger. Sie scheint das zu spüren, während sie verzweifelt auf der Suche nach ein bisschen Leben in mir ist. Man verabreichte…nein… reduzierte meine Schmerzen während der letzten 2 Wochen mit dem Gnadenspender Fentanyl. Na, das ist ein gutes Tröpferl…huiii! Ein Fluglehrer „par excellence“. Niemand von denen da drüben außerhalb weiß oder ahnt, dass ich den Likör jetzt eigentlich nicht mehr brauche. Sie wissen so wenig da drübendraussen. Es gibt keinen Schmerz im gläsernen Sarg. Interessanterweise hat dieses schwere Morphin nicht den geringsten Einfluss auf mein Bewusstsein.
Ich kann meiner Geliebten nur nichts mehr mitteilen. Mich, wie gesagt, nicht mehr bemerkbar machen. Keine Signale, nicht einmal die winzigste Zeichensprache. Kaumstens, wenn ich mir in meinem Zustand diese Steigerung gestatten darf. Als Passagier im gläsernen Sarg, jenem kleinen Vorraum zu einem anderen wahrscheinlich viel größeren Raum, ist Sprache überflüssig. In diesem einen Raum, den niemand kennt. Schon gar nicht die Erfinder des lieben Gottes. Das ärgert die schon seit ein paar tausend Jahren. Faseln uns philosophisch, metaphysisch seicht dämmernden Quatsch ins Psycho. Um uns lebzeitensweise einzulullen, in eine trügerische Sicherheit für ein fiktives, belohnendes Danach. Was für eine abgrundtiefe Scheiße, die der Mensch sich in seiner Gutgläubigkeit schon Jahrtausende lang vorsetzen lässt.
Ja - aber wenn du erst mal auf dem Weg dorthin bist…ist es aufheiternd einfach. Wie ich eingangs schon sagte – es tut einem dank formidabler Chemie zuallerallererst einmal nichts mehr weh. Man kann nur nicht mehr…“ich liebe dich“ und „leb wohl“ sagen. Dafür ist es leider zu spät. Und das wird einem heutzutage nicht rechtzeitig gesagt…klar doch, man muss das verstehen. Niemand soll Angst haben. Früher durfte man mit und in Würde sterben im Kreise seiner Familie.
Meine Frau fürs Leben hatte immer zum lieben Gott gebetet, dass ich ein gesunder junger Mann bleibe. In der Folge dann ein ebensolcher gesunder reifer Mann. Und dann, wenn sie – Gott behüte - vielleicht einmal nicht mehr da wäre, ein ebensolcher gesunder alter Mann.
Es ist alles anders gekommen…Wir sind eben nicht die Dompteure unserer Gene. Noch nicht jedenfalls. Bis dato sind sie unsere Dompteure. Aber das wird sich ändern. Man hastet forschend, experimentierend auf dem Weg dorthin, für mich rückspiegelnd betrachtet leider zu langsam.
Aber dort wo ich jetzt dämmere spielen diese Fragen, Hoffnungen und Sehnsüchte nach Unsterblichkeit keine Rolle mehr. Sie haben nur mehr für die auf der anderen Seite Bedeutung.
Das ganze Leben ist von Anfang an mit geradezu unmenschlicher Angst gepaart, und erst diese Angst, die nebenbei gesagt das beste Geschäft ist, macht alles erst wirklich sinn – und bedeutungsvoll.
Nicht mehr so im gläsernen Sarg…in Ermangelung einer anderen buchstäblichen Beschreibung.
Weil ich noch nicht dort bin, wo alle Worte zu einem Wort verschmelzen. Ich kann keine bessere Metapher dafür finden.
Obwohl ich für die Frau meines Lebens in ihrem Drüben unhörbar bin, spreche ich trotzdem mit ihr. Ich sage lautlose Worte…in der völlig lautlosen Hoffnung, sie würde doch dieses oder jenes vielleicht mit ihrer Seele hören können. Weil mein verblassendes Leben…also das Kleinwenig, dass davon im Moment noch übrig ist, schon nicht mehr meines ist. Kommuniziert nur noch vorübergehend mit den grün, gelb und blau oszillierenden Apparaten mit den vielen Ziffern, um mich, sozusagen um meine Wenigstkeit herum. Aber auch dieses „Kommunizieren“ ist im Grunde genommen nur mehr scheinbar. In dieser letzten Phase werde ich schlicht und einfach nur mehr von bunt auf und ab blinkenden ablesbaren Werten repräsentiert, Signalen, die mein immer schwächer werdender Biomotor kläglich pulsierenden aussendet. Wie ein sich in den interstellaren Raum entfernender Forschungs-Satellit, dessen Signale zaghafter werden und immer mehr Zeit zurück benötigen. Nun gut, für mich nicht mehr lange.
Ich bin innerlich freier denn je und auch physisch federleicht. Auch für die Schwestern die mich jeden Tag waschen und dabei auch heben müssen. Ich spüre sie noch feinfaserig - ihre jetzt schmerzlosen gewordenen Berührungen - jeden Tag noch ein wenig flüchtiger. Mein „Nochlebendgewicht“ hatte sich in den letzten Wochen dramatisch reduziert. Ein Fliegengewicht…heute nur mehr ein Eintagsfliegengewicht.
Ich spüre – nein, sehen kann ich ihn nicht mehr - deinen liebvollen Blick du Frau meines Lebens.
Ein paar Tränen wie vereinzelte Tropfen eines lauwarmen Regens auf meinem Gesicht, wenn du dich über mich beugst und mich mit deinen trockenen weichen Lippen sachte küsst, mich streichelst.
Ich würde mit Leichtigkeit mein Leben dafür geben, könnte ich dich jetzt noch einmal in meine Arme nehmen. Kein hoher Preis mehr, ich muss es ohnehin geben. Leider für Nichts! Es gibt jetzt eine Kraft, die zwar nicht größer, aber stärker ist als meine Liebe zu dir…Die unbezwingbare Kraft des Abschieds von dieser Welt. Die stärkste unter den bekannten Kräften im Kosmos.
Wir suchten seit Jahren nach der so genannten „Grand Unified Theorie“, der alles vereinenden Kraft des Kosmos, Mikro und Makro. Ich war so gerne mit und in Demut einer von und mit ihnen.
Habe erfolglos und auch -reich mitgedacht, gerechnet und hypothetisiert. Kratzende Kreiden formten endlos aneinander gereihte Formeln auf grünen Schiefertafeln. In unserem Forschungszentrum drehte sich seit Jahren alles nur mehr um noch kleinere Teilchen und zuletzt Schlingen und Superschlingen. Um abstrakt virtuelle symmetrische Schönheiten, in zahlreichen fast unmessbar, unendlich kleinen, wie auch unerreichbaren Dimensionen. Als ob Schlingen nicht genug wären.
Ich fließe jetzt schon dahin auf den leichten Schwingen nach Nirgendwo. Den gordischen Schlingen des Lebens fast entwoben. Zugleich mit dir und ohne dich, du Frau meines Lebens. Du hast mich von der ersten Sekunde unseres Zusammenseins an behütet. Und behütest mich auch jetzt in der letzen Sekunde.
Es ist nicht dunkel in diesem eigenartigen Korridor, in dem ich jetzt bin, habe den gläsernen Sarg verlassen, bin schon in der nächsten Raumheit. Es ist diffuse hier und mild. Schwer, aus dieser unfühlbaren Dimension Fühlbares zu beschreiben.
Ich erahne, wie mir ein Verschmelzen von Sein und Nichtsein geschieht. Das Ende einer 42 Jahre und neun Monate dauernden Sekunde. Ich bin glücklich, weil du bei mir bist. Du weißt das doch? Traurig nur, dass wieder einmal ich derjenige bin, der dich nicht belohnt, der dir wehtut. Obzwar du früher beharrlich das Gegenteil behauptet und mir dies auch immer wieder versichert hattest.
Du verzeihst mir sogar meinen zu frühen Tod.
In diesem Moment empfinde ich Deine Nähe wie eine weit – sehr weit entfernte und doch nahe Wärmequelle - wie jemand einen warmen Windhauch deutlich spürt. Von einer Beschaffenheit die nicht so ungleich jener ist, die mich damals in deinem Körper umhüllte und mir Schutz gab. Die Vergleichbarkeit dieser Beiden ist jetzt in diesem allerletzten Moment Eins.
Mutter Du Mein Haus.
Epilog
Glaube mir, Mutter, das Verlassen des Deinerseits war leicht, weil ich es in deinem Schatten tun durfte. Den Schatten, den du für mich behütend auf dieses Deinerseits warfst. Es war ein schützender Schatten gegen das grelle Licht, von dem ich mich trennen musste.
Jetzt nimmst du meine Hand und drückst sie sanft und doch voll Stärke an deine Lippen.
Das hattest du unzählige Male gemacht, als ich noch ein winziges Menschlein war. Hast es mir später oft mit vor Glück strahlenden Augen erzählt, wie schön die Zeit mit mir war. Jetzt ist Niezeit. Nur mehr schön für mich.
Jetzt da ich dorthin bin, nehme ich deine letzte Berührung mit mir. Als vergessene Realität, oder nur als Traum von Deinerseits. Ich würde dir so gerne sagen, dass es da, wo immer ich jetzt entlanghinfließe, kein Berühren, kein Bewegen mehr gibt. Ich bin…zwischen keiner Tür ohne Angel, es ist alles Eins, alles jemals von Menschen Geträumte und Gedachte - Eins.
Nun plötzlich nehme ich dich noch einmal wahr - durch die, schon ewig nicht mehr meinen Augenlider, so als ob das Es mit einer alles erhellenden Lichtquelle mir letztmals leuchten würde. Auf dich geliebte Mutter, strahlt alles Licht aus meiner neuen Seinheit. Ich sehe dich deutlich, wie du damals warst und heute bist - dein irdisch feines Gesicht verschmilzt zu ewiger zeitloser Schönheit. Und ich fühle mich wieder an deiner Brust - die ersten Tropfen des Lebens aus deinem Körper trinkend. Den letzen Tropfen meines Lebens aus deiner Seele trinkend.
Mutter, Du Mein Gral.
Ich bin nur mehr Seele. Das Licht darf jetzt verlöschen oder auch nicht. Ich habe keine Angst mehr vor der Dunkelheit. Es gibt in meiner neuen Seinheit keine Angst, Traurigkeit oder gar Tränen. Alle Tränen bleiben bei dir zurück, geweint als deine letzten Geschenke an mich…ich sehe sie glitzernd auf deinen Wangen wie feinst geschliffene und doch fließende Diamanten. Weine sie an meiner Statt und für mich.
Mutter .