Also gut: Für alle, denen die bisherige Geschichte zu offen und erklärungsbedürftig erschien, hier eine neue Version:
DIE FALTSCHACHTEL
Als Wrobel im Biergarten ankam, war der sehr voll. Nur an einem Tisch schien es noch einen Platz zu geben. Er fragte: „Ist hier noch frei?“ und man antwortete ihm: „Ja, aber du musst uns eine gute Geschichte erzählen. Wenn sie uns nicht gefällt, bist du ganz schnell wieder weg.“ Der das sagte, zwinkerte den anderen zu und Wrobel ahnte, dass sie ihn wahrscheinlich nicht nur wegjagen, sondern ihm außerdem einen üblen Streich spielen würden. Er ließ sich jedoch nicht abschrecken, setzte sich und begann:
„Gestern Abend um 7 war ich mit Pfeufer verabredet, in seinem Büro. Pfeufer, dachte ich, ist ein vielbeschäftigter Mensch, einer, der vermutlich nie eine Pause macht und deswegen jetzt bestimmt hungrig ist. Ich kaufte für ihn eine Semmel mit warmem Leberkäs, die man mir in einer bunt bedruckten Faltschachtel aus dünner Pappe mitgab.
`Das ist ja wirklich nett gemeint, mein lieber Wrobel, vielen Dank´, sagte Pfeufer, `aber ein bisschen stillos. Ich kenne hier in der Nähe ein gutes griechisches Lokal. Gehen wir! Da können wir was Leckeres essen und unsere Angelegenheit in Ruhe besprechen.“
Als wir das Haus verließen, regnete es. Ich spannte meinen Schirm auf und da sah ich einen Jungen, der auf mich zukam.
`Hey, warte mal!´ sagte ich und hielt ihm mein Päckchen hin. Er stutzte, dann griff er danach, klappte den Deckel hoch und nahm die Leberkäs-Semmel heraus. Er roch noch nicht einmal daran, sondern warf sie gleich in eine Pfütze, faltete die Schachtel sorgfältig zusammen, steckte sie in seine Jackentasche und wandte sich zum Gehen.
`He, hallo!´ rief ich.
`Keine Zeit!´ sagte er, und das konnte sich auf mich beziehen oder auf alles mögliche Andere in dieser Welt.“
„War´s das schon?“ fragte ein Grobgesichtiger mit einer zinnoberroten großporigen Nase.
„So schlecht war die Geschichte nicht“, meinte ein etwa Fünfzigjähriger, der eine Lodenjacke trug. „Sie sagt mir was. Ist doch typisch für unsere Welt, wo bloß das Äußere zählt, die Verpackung. Wrobel hätte genauso gut von einem Partygirl erzählen können, das sich discomäßig auftakelt oder von einem Deppen, vor dem alle buckeln, nur weil er in einem Ferrari daherkommt.“
„Na ja, das ist ein bisschen weit hergeholt“, meinte eine Dame in mittlerem Alter, die unter dem Kinn etwas füllig war. „Könnte sein, dass ich den Jungen kenne. War das in der Konradinstraße und hat der dunkle Haare und ein Muttermal neben dem linken Ohr?“
„Stimmt alles“, antwortete Wrobel. „Ja, neben dem linken Ohr. Sieht aus wie eine kleine Erdbeere.“
„Dann ist er das. Noch vor ein paar Jahren war sein Vater ein schöner Mann, dann hat sich der Bub mit ansehen müssen, wie der Papa fett und hässlich geworden ist wegen den vielen Leberkäs-Semmeln, die er gegessen hat, und der Bub hat sich halt gesagt: Sowas passiert mir nicht. Keine Leberkäs-Semmeln mehr!“
„Wahrscheinlich hat er sich auch umgeschaut in seiner Klasse“, meinte ein sich wichtig gebender Herr hinter seiner dicken Brille. „Wenn ich mir die jungen Leute in meiner Nachbarschaft anschaue: Die sind oft so dick, dass sie kaum mehr die Treppe raufkommen.“
„Nicht nur die Jungen“, meinte ein Herr mit Schnauzbart. „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass wir Deutschen, also alle, Alte und Junge, die dicksten Menschen von Europa sind, zusammen mit den Engländern.“
„Das mag alles sein“, meinte eine schlanke ältere Dame mit einem noch immer sehr schönen Gesicht, „aber ich glaube, für den Bub ging es nicht bloß um das Dickwerden. Warum hat er denn die Schachtel mit? Na? Ich weiß, dass auf vielen solchen Schachteln Bilder von Xaver Bierbichler drauf gedruckt sind, dem berühmten Landschaftsmaler. Also behaupte ich mal einfach, dass ihm das Bild gefallen hat, dass es hier um Ästhetik gegen Konsumgeilheit ging und dass der Bub auch uns etwas zu sagen hat: Dass uns das Schöne mehr wert sein muss als die Fressgier.“
„Ihre Meinung in allen Ehren, Frau Liebhart“, warf ein Herr mit grauen Haaren und einem rot-weiß karierten Hemd ein, „aber wenn das in der Konradinstraße war, dann zeigt uns die Geschichte, wie stinkfaul und gewissenlos die heutigen Jugendlichen sind, denn nur ein paar Schritte entfernt ist das Pfarrhaus, und da sammeln sie Essen für Obdachlose, und der Saukerl schmeißt einfach das Brot weg.“
Plötzlich zuckte Wrobel zusammen, weil er spürte, wie ihm mehrere Nachbarn auf den Rücken schlugen. Er machte sich auf alles mögliche Unangenehme gefasst, doch dann sagte einer: „Wrobel, kannst sitzen bleiben, deine Geschichte passt und wir schütten dir auch kein Bier den Nacken runter, verstanden?“