Gefängnis

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Mumpf Lunse

Mitglied
Liebe Mel
Ein Kommentar zu Frank;) … damit hätte ich ja gar nicht mehr gerechnet.
Um so schöner das du es gelesen hast und es dir auch noch gefällt.
Es war meine Erste, das stimmt schon. Das heißt aber nicht, dass die danach besser sind.
Glück gehabt, würde ich sagen.
Vielen Dank für deinen "spontanen" Kommentar.

Lieben Gruß
Gunter
 

norge

Mitglied
tja mumpf lunse

wie soll ich es sagen...

diese Geschichte gehört zu den besten, die ich bisher gelesen habe. Ich finde sie absolut fantastisch.
mehr fällt mir nicht ein dazu...;-)

vielleicht bis bald mal wieder

lieben Gruß norge
 
B

Burana

Gast
Hallo Mumpf Lunse!
Unglaublich gut geschrieben. Wer sich 'auskennt' weiß, WIE gut Du das beschrieben hast, was in der Zelle lief. Kompliment!!!
Liebe Grüße, Burana - auf der Suche nach Deinen anderen Texten...
 

Mumpf Lunse

Mitglied
hallo burana,
da bin ich doch wirklich ein wenig neugierig geworden.
was das 'auskennen' betrifft.
vielen dank für das lob. eigentlich sollte die geschichte 'hemmungslose anti-ddr-propaganda' sein. (zitat aus einem kommentar zu dem text eines anderen autoren)
irgendwie ist mir das nicht recht gelungen. ;)
ich arbeite dran.

einen schönen tag
gunter
 
H

HFleiss

Gast
Hallo, Mumpf Lunse. Da ist dir aber wirklich eine gute Geschichte gelungen. Genauso sah es aus, das Leben in der DDR. Wohin man blickte, schwedische Gardinen. Ich sage nur: Stasi! Dies bestätigt dir Melusine: "Nichts hat mir deutlicher vor Augen gefüht, wie das Leben in der DDR ausgesehen haben muss." Du bestätigst ja selbst, dass du einen Anti-DDR-Text schreiben wolltest.

Ich nehme an, das ist ein Augenzeugenbericht. Vor einiger Zeit habe ich mich mit einem anerkannten Stasi-Opfer mal unterhalten, und es interessierte mich, warum er vier Jahre lang in Bautzen saß. "Spionage", sagte er. "Irgendwelche Leute, von denen ich noch nicht mal weiß, von welcher Truppe sie waren, wollten, dass ich Artikel gegen die DDR schreibe und die Grenze ausspioniere." (Der Mann war Journalist). "Und darauf hast du dich eingelassen?" "Na, die hatten mir Westgeld versprochen." "Damit du im Intershop einkaufen kannst?" Er grinste. "Und jetzt bist du ein Stasi-Opfer? Ist dir eigentlich bewusst, dass du für Spionage in jedem Land der Welt eingesperrt wirst?" "Aber nicht von der Stasi!"
"Bist du gefoltert worden?" "Nee, gefoltert nicht. Aber die sollen foltern, haben alle gesagt." "Du bist also nicht gefoltert worden. Warum aber schreibst du das in deinen Memoiren?" "Du kannst fragen. Weil jeder das von mir erwartet hat!" Die Sache ist verbürgt.

Ich kenne noch ein Stasi-Opfer. Ein sehr unauffälliger junger Mann, damals war er zwanzig, es war 1962, hatte sich mit seiner Freundin verkracht. Nachts ging er an die Grenze, zum Kontrollpunkt Chausseestraße, und wollte in die "Freiheit". Natürlich habe sie ihn verhaftet. Er hat zehn Monate Knast für versuchte Republikflucht bekommen. Als er raus war, fragte ich ihn, ob er noch alle beisammen hatte damals. Er antwortete mir leider nicht.

Das dritte Stasi-Opfer das ich kenne, tat mir leid. Eine junge Frau, jahrelang verlobt mit einem Westberliner. Der organisierte im Herbst 1961 von Westberlin aus eine Flucht mit falschen Pässen. An der Grenze wurde sie festgenommen, sie bekam neun Monate Knast. Auch sie hat mir bestätigt, dass sie nicht gefoltert wurde. Jahrelang arbeitete sie dann in unserem Betriebskonsum als Verkäuferin, in ihrem Beruf. Später durfte sie legal ausreisen.

Auch ich habe in der DDR gelebt, vierzig Jahre lang, absolut freiwillig. Ich bin um den Stasi-Knast herumgekommen, weil ich weder für die Bundesrepublik spioniert habe, kein Volkseigentum geklaut habe, keine Leute gegen die DDR aufgeputscht habe und ansonsten meiner täglichen Arbeit nachgekommen bin, also eine ganz durchschnittliche DDR-Bürgerin war. Ich muss wohl in einer anderen DDR gelebt haben als Mumpf Lunse, Melusine. Ich schalte nicht aus, dass es den Stasi-Knast in der DDR gab, aber in welchem Land der Welt gibt es keine politische Justiz, folglich also auch keinen Knast aus politischen Gründen? Jedenfalls war Bautzen nicht Stammheim.

Gruß
Hanna

Geh mal nach Hohenschönhausen, dort findest du im Keller Folterzellen, ich glaube, 1995 eingebaut. Zu Stasizeiten soll sich dort ein Küchentrakt befunden haben.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Perspektiven

Wenn ein Text gut ist, provoziert er Auseinandersetzungen. Die sind hier zu beobachten. Man setzt sich auseinander – im Ursinne des Wortes. Man scheint nicht die Absicht zu haben, an einem Tisch und von einer Ebene aus miteinander sprechen zu wollen. Jeder aus seiner Ecke...

Damit bin ich bei dem Problem, das ich mit diesem – und ähnlichen Texten – habe: Ist es überhaupt möglich, aus einer bestimmten Perspektive eine reale Schilderung von DDR-Wirklichkeit zu liefern. (Ich merkte das vor geraumer Zeit bereits an.)

Mit „Perspektive“ meine ich die Sichtweise der Betroffenen. Mit „Betroffenen“ meine ich alle, die sich auf unterschiedlichen Seiten gegenüberstanden, also z.B. Exhäftlinge und Exstasimitarbeiter, Bürger mit Berufsverbot und Angestellte staatlicher Einrichtungen mit Kontaktverboten, Tramper und ABV’s: Ich habe ganz wenige erlebt, die ihre eigene Rolle nicht größer und wichtiger – oder kleiner und unwichtiger – darstellten, als sie offensichtlich war. Bei fast allen entweder das Bedürfnis nach dem Leuchten im besten Lichte, nach Anerkennung und Bewunderung, oder Verständnis, Einsicht, Entschuldigung...

Ich greife, um ein bisschen an die Erzählung anzuknüpfen, ein Beispiel heraus: Die Gruppe der politischen Häftlinge. Es waren nicht wenige Menschen, die mit Hilfe eines recht universell verbiegbaren Strafrechtes inhaftiert wurden, Zahlen spare ich mir hier. Das Gros der Menschen versteht sich bis heute als Opfer einer Willkürjustiz und zählt sich selbstredend zu den ehemaligen politischen Häftlingen. Nur: wieviele dieser Betroffenen wollten wirklich politische Veränderungen in der DDR, waren also tatsächlich politische Häftlinge nach heutigen Maßstäben?

Die Wahrheit sieht ziemlich farblos aus: Die Mehrheit der freigekauften „Politischen“ war nicht unbedingt politisch, auch wenn sie die staatliche Ordnung kritisierten. Ziel dieser Mehrheit war es, ein als hoffnungslos arm, eng und deprimierend empfundenes Land, für das man keine Perspektiven mehr sah, zu verlassen. Ich weiß nicht, ob man solche allgemein menschlichen Beweggründe als politische Gründe bezeichnen darf. Es wäre ein Unrecht gegenüber denen, die wirklich die politische Ordnung des Landes verändern wollten. Das war, meinen Erfahrungen nach, nur ein äußerst kleiner Personenkreis.

Die politische Ordnung der DDR hat sich trotzdem verändert. Durch einen Massenexodus. Wer sich als Teilnehmer dieses Exodus heute ein persönliches Verdienst am Zusammenbruch des Staates zuschreibt und vielleicht damit noch öffentlich hausieren geht, bereichert sich an den günstig liegenden Pfründen der Geschichte und lädt gegenüber den Menschen, die einen ernsthaften politischen Anspruch verfolgten, Schuld auf sich.

Für die andere, die staatliche Seite, die diese verhängnisvolle „Produktion politischer Häftlinge“ in Gang setzte, sieht es bei dieser Betrachtungsweise auch nicht sehr gut aus: Was die Gerichte mit Paragrafen wie 220, 219, 214 zu Kriminellen stempelte und als „Politische“ verkaufte, waren überwiegend unschuldige und unpolitische Menschen. Sie wurden für allgemein menschliche Begehren wie Reisefreiheit, Verbesserung der ökonomischen Situation, Familienzusammenführung etc. staatlichem Terror unterworfen.

Bei den Exstaatsdienstlern findet man überwiegend das Bestreben, eigenes Fehlverhalten zu entschuldigen, Schuld zu verkleinern, mit einer Unzahl von Notwendigkeiten usw. zu erklären. Ich habe noch keinen aus diesem Bereich erlebt, der tatsächlich sagte: Okay, ich erlag einem Irrtum. Ich war eine Flasche. Ein feiger Hund.

Was ich mit meinen Bemerkungen eigentlich sagen will: So groß sind die Unterschiede zwischen den Menschen oft nicht. Einer, der heutzutage eine Anerkennung als rehabilitierter politischer Häftling herumzeigen kann, ist nicht automatisch der bessere Mensch. Einer, der als junger Mann von den „Organen“ mit großen Versprechungen aus einem mecklenburgischen Kaff in das bananenwohnraumautobesserversorgte Ostberlin gelockt wurde, kann nicht auf alle Zeit verdammt werden. Unehrlich können beide sein. Aber auch ehrlich.

P.
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Liebe Hfleiss,
Da hast du dir ja richtig Mühe gemacht, in deinen Erinnerungen gekrammt, sogar einen kleinen Dialog konstruiert. Du hast also was "gehört". So so.
Auf den ersten Blick könnte man meinen du ringst einfach um die DDR im Kopf, willst sie dir erhalten, um jeden Preis sozusagen.
Möglicherweise, liebe Hanna, weißt du es einfach nicht besser. In dem Fall wäre es sinnvoll, wenn du anfangen würdest, dich ein wenig damit auseinander zu setzen. Im Gegensatz zur DDR lebst du jetzt (wenn auch ungewollt) in einem politischen System das unvergleichlich transparenter ist. Alles, was du wissen möchtest, kannst du nachlesen, recherchieren nennt man das – wenn du willst. Ich versichere dir: Du wirst keinerlei Nachteile dadurch haben.

Was für mich immer wieder schwer zu verstehen ist: warum gerade Rentner, die Gruppe, die am Stärksten von der 'Wende' profitiert hat, sich so schwer tun mit den Veränderungen.
Du hast einen Internetzugang, mit Sicherheit eine Rente, die dir ein erträgliches Auskommen sichert, du hast Zugang zu Kultur und kannst ohne Ängste solch spannende Diskussionen führen, wie es sie zb. hier, auf der Lelu und anderswo gibt.

Gäbe es die DDR noch, sähe deine Lebensrealität ganz anders aus.
Falls du nicht als ehemaliges Mitglied der Nomenklatura Privilegien gehabt hättest, säßest du, mit 400,- Ostmark Rente, zwischen Blümchentapeten im Hinterzimmer der Volkssolidarität, schlürftest Nudelsuppe (400,- Mark war auch in der DDR wenig)und müsstest zweimal oder dreimal im Jahr die peinlichen Darbietungen einer Hand voll lustloser Jungpioniere über dich ergehn lassen. Volkslieder und Thälmann Gedichte (Kultur). Das wärs.


Wieso dich gerade meine Geschichte dich dazu veranlasst hat dein "Gehörtes" zum Besten zu geben, verstehe ich allerdings nicht. Kann sein das es, in deinem Fall, einfach ein Reflex ist.
Eigentlich gibt mein Text das nicht her.
Ich habe in vielen deiner Kommentare zu anderen Texten festgestellt, dass du immer wieder versuchst DDR zu relativieren. Das sei dir gegönnt! Meist Halbwahrheit, nicht ganz falsch, aber auch von nicht übersehbarem Unwissen geprägt. Wie man sich das so denkt eben. Da kann ich auch nur wieder raten – erst recherchieren; dann kommentieren. Was ich allerding schon in unserem kleinen Disput zu 'Nisavis' Geschichte 'Georg', bzw. über deinen Kommentar dazu, bemerkte; du hast möglicherweise ein Problem mit dem Erfassen von dir unbekannten oder etwas komplexeren Gedanken.
Sicher ist es auch meinen, mitunter etwas polemischen, Überspitzungen in Kommentaren geschuldet. Zu DDR-Zeiten hat das auch immer wieder zu Irritationen geführt. Vergib es mir als individuelle Eigenart die ich bereits hatte, bevor mich der, im Westen so unangenehm ausgeprägte Hang, einfach zu sagen was man denkt, völlig verdorben hat.

Dabei könnte ich es bewenden lassen.

So einfach ist es aber leider nicht.

Zitat aus 'Rheinische Merkur' (Datum: 25.05.2006) wer es nachlesen möchte: Google

Die alten Kader der DDR kämpfen um ihren Platz in der Geschichte – und um das Bild der Stasi. … sie kämpfen aber auch, wenn Egon Krenz auftritt. So wie neulich, als er in Jena sprach zum Thema: „Der Herbst 1989 und was davon geblieben ist“. Die Ex-Stasi-Mitarbeiter, die alten DDR-Richter und -Staatsanwälte mischen sich bei Vorträgen unter das Publikum und geben ihre Sicht der Geschichte preis.
So erscheinen sie auch im Berliner Gropius-Bau. Es ist der 11.April: Klaus Marxen, Professor für Strafrecht an der Humboldt-Universität, spricht über die Entnazifizierung im Osten Deutschlands. Die DDR habe NS-Verbrechen nicht systematisch verfolgt, sagt Marxen, sondern ließ sich davon leiten, welche Urteile sie propagandistisch ausnutzen konnte.

Viele Nazi-Verbrecher, die sich den neuen Machthabern andienten, genossen Strafverschonung. Der Einspruch der alten Kader kommt prompt. Die Geschichte des Ostens, so glauben sie, gehört ihnen.

Immer häufiger treffen in letzter Zeit Opfer auf Täter. So auch in der Bezirksvertretung Lichtenberg, einem Plattenbau im tiefen Berliner Osten, die zum Ort eines Showdowns im Kampf um die Geschichte wird. ...
Im März traten in Lichtenberg 200 Ex-Stasi-Leute bei der Sitzung des Bezirksparlaments auf und verhöhnten das Gefängnis Hohenschönhausen als „Gruselkabinett“. Eine unrühmliche Rolle spielte dabei Kultursenator Thomas Flierl(Linkspartei/PDS), als er dazu aufforderte, die „Zeitzeugen“ doch sprechen zu lassen.

Wohl niemand schöpft Verdacht, wenn er von der GBM liest, der „Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.“. In der Satzung ist die Rede von der „Förderung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland“, auch die „Gestaltung eines würdigen und inhaltsreichen Lebens der Bürger“ ist Vereinsziel. 1998 zeichnete die GBM den kubanischen Diktator Fidel Castro mit einem „Menschenrechtspreis“ aus. Ein ganz normaler Club? „Seit 15 Jahren gibt es den Verein“, erzählt Sabine Dahlke, die Geschäftsführerin der GBM. Es gehe konkret um den „Kampf gegen Altersarmut. Wir betreuen vor allem Rentnerinnen und Rentner.“ Doch die GBM führt nicht nur Prozesse vor den Sozialgerichten; sie ist auch ein Dachverband für Vereine ehemaliger Mitarbeiter der Stasi und der NVA. Auch denen geht es um ihre Renten. Aber das ist längst nicht alles.

Die GBM kämpft auch um das Bild der Stasi – und damit um die Biografien ihrer Mitglieder. … der Vorsitzende Wolfgang Richter … Im März fuhr Richter nach Weißrussland, um die Präsidentschaftswahlen zu beobachten. Lukaschenko hält er für einen Demokraten.

In dieses Milieu gehört auch die GRH, die „Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung“. Ihre Büros hat sie im Redaktionsgebäude des „Neuen Deutschland“. … Die Zeitung ist längst nicht mehr das Zentralorgan einer Parteidiktatur. Sie hat Untermieter aufgenommen, … im dritten Stock sind die Kommunistische Partei Deutschlands und die GRH. Dort sitzt Dieter Stiebert vor einem Flachbildschirm. … Stiebert arbeitet als einer von drei Ehrenamtlichen in der Zentrale. Früher war er bei der Stasi, …
1500 Mitglieder zählt sein Verein, „wir fragen nicht nach der früheren Arbeit". Er wolle etwas gegen die „politische Strafverfolgung tun". (Meint: juristische Verfolgung von Stasi-Verbrechern.)
Zur vielschichtigen Lobbyarbeit der Ex-Stasi-Mitarbeiter gehört auch das kleine Büro auf der anderen Seite des Flurs. Dort hat die Isor ihr Büro, die „Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR“. … Karlheinz Hypko, der Geschäftsführer der Isor, war auch nicht bei der Stasi, sondern Jurist im Innenministerium der DDR. „Im zivilen Teil“, wie er betont.

Gut 24000 Mitglieder hat die Isor, davon waren drei Viertel früher bei der Stasi. Sie zahlen einen Beitrag von 2,60 Euro im Monat. Mit der GBM habe der Verein nichts zu tun, das ist Hypko wichtig. Ihm gehe es nur um die Renten, „um die Gerechtigkeit“. Er habe vor dem Bundesverfassungsgericht durchgesetzt, dass die Renten der Stasi-Mitarbeiter nach oben angepasst würden.
Kommentar von mir: Etwa 3 Milliarden Euro, das entspricht einem Viertel des an den Osten gezahlten Betrages, der als "Soli Steuer" von jedem Bundesbürger kassiert wird, geht in die Renten der ehemaligen Funktionäre und der Stasi. – steigende Tendenz!)
„Endlich lassen sich die früheren Mitarbeiter nicht mehr den Mund verbieten.“ Vieles sei ungerecht. „Die DDR will man treffen, die Stasi-Leute haut man konkret.“

Aus einem Interview mit MARIANNE BIRTHLER: (25.05.2006)
RHEINISCHER MERKUR: Ehemalige Stasi-Mitarbeiter treten neuerdings offensiv bei öffentlichen Veranstaltungen auf. Wie einflussreich sind diese Kader noch?

MARIANNE BIRTHLER: Sichtbar ist nur eine Hand voll von Stasi-Offizieren im Ruhestandsalter. Ich nehme diese Auftritte trotzdem sehr ernst. Es ist spürbar, dass sie Beifall in einem bestimmten Milieu finden – immerhin hat eine sechsstellige Zahl von Menschen für die Stasi gearbeitet.

Radio Berlin Brandenburg Online:
'Körting will Stasi-Organisationen überprüfen'
"Wir prüfen zur Zeit, ob die neuen, jetzt bekannt gewordenen Aktivitäten dieser Vereine eine aktuelle Gefahr für die Demokratie darstellen oder sie allein in verabscheuungswürdiger Weise die Verbrechen der Stasi schönreden", sagte Körting der "B.Z. am Sonntag".

Mein Kommentar dazu: Das organisierte Leugnen von Fakten der DDR-Geschichte erinnert fatal an die Verleugnung von Naziverbrechen.

Ich antworte relativ ausführlich weil du dir auch die Mühe gemacht hast ausführlich zu kommentieren. Das scheint mir eine Frage der Höflichkeit.

Einen schönen Tag
Mumpf

PS. Ich war schon in Hohenschönhausen ;)
Die Geschichte 'Frank' spielt, im Wesentlichen, dort.
Und: Es gibt noch eine Geschichte die du mit ein paar Anekdötchen würzen könntest. 'hermann' Ich möchte dich ausdrücklich dazu einladen.
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Mumpf Lunse, du hast ja eine Menge aufgelistet, das dich heute bedrückt.

Du empörst dich darüber, dass auf der Hohenschönhausener Versammlung Stasileute aufgetreten sind. Frage: Wenn man in diesem Land tatsächlich alles ungestraft sagen kann, warum sollen dann nicht auch Stasileute sagen, worum es ihnen geht?
Leben sie in einem anderen Land als du und ich? Und dass vom Solibeitrag (der ja auch im Osten gezahlt wird, sofern man einen Job hat, der Beiträge abwirft) auch ihre Renten gezahlt werden - mach einen Vorschlag, wie man das anders machen könnte. Vielleicht sollte man ihnen Falschgeld geben? Oder Essenbons?

Du zitierst Marianne Birthler. Finde ich interessant. Sie hat bekanntlich einen eindeutigen Auftrag: Die DDR auf Stasi zu reduzieren - damit niemand auf die Idee kommt, noch mal daran zu denken, ohne Kapitalisten leben zu wollen. Aber versuch mal, eine Idee zu töten. (Ich bin versucht, ebenfalls Marianne Birthler zu zitieren, und zwar vom 18. März 1990 im Deutschen Fernsehfunk (dem ehemaligen Fernsehen der DDR). Nur zur Erinnerung: Am 18. März 1990 hatten wir die neue Volkskammer gewählt. Marianne Birthler sagte folgendes: "Ich verstehe nicht, dass sich so viele Leute in der DDR gegen ihre eigenen Interessen entschieden haben." Damit meinte sie das Wahlergebnis. Das war übrigens das einzige Gescheite, das ich in dieser Zeit zu unseren "Wahlen" hörte, es wird ihr inzwischen leid tun.)

Dass du gesessen hast, tut mir echt leid. Mir tut jeder Knastbruder leid, Knast, egal, in welchem Knast, ist nie schön. Aber du wirst wissen, warum du gesessen hast, und du schlachtest das ja auch gehörig aus - kann ich mir jedenfalls vorstellen. Du kriegst doch sicher vom Solibeitrag, der auch von den Leuten im Osten bezahlt wird, eine zusätzliche Opferrente? Es werden davon ja nicht nur die Renten von Stasileuten finanziert. Ich verstehe auch, dass du immer noch dabei bist, die DDR aufzuarbeiten (zumal du dich mit deiner Haltung im Mainstream befindest). Das geht dir nicht allein so, denn die sogenannte Wende war ein unendlich tiefer Einschnitt, der auf jeden einzelnen von uns Auswirkungen hat, auch wenn man selbst das gar nicht begreift (auch solche Leute soll es geben). Nun kommt es aber darauf an, von welcher Sicht man sich leiten lässt. Ich nehme an, du hast deinen betonierten Standpunkt, und der lässt sich nicht mehr ändern, egal, was sonst noch geschieht. Schiskojenno.

Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Hallo Pen,

Damit bin ich bei dem Problem, das ich mit diesem – und ähnlichen Texten – habe: Ist es überhaupt möglich, aus einer bestimmten Perspektive eine reale Schilderung von DDR-Wirklichkeit zu liefern. (Ich merkte das vor geraumer Zeit bereits an.)
Wirklichkeit entsteht im Kopf. 'Die' Wirklichkeit gibt es nicht. (Konstruktivismus)
Ich seh aber auch keine Veranlassung, aus diesem Grund auf "meine Wirklichkeit" zu verzichten. Du hast es bereits in einem früheren Kommentar gesagt, stimmt.
Und wieder kann ich nur Fragen: Was wäre die Konsequenz?

Verzicht auf Meinung? Verzicht darauf Position zu beziehen?
Ich habe nicht den Ehrgeiz allen gerecht zu werden. Das ist Aufgabe von Wissenschaftlern. (Auch die können das nicht wirklich – wie wir beide sicher wissen.)
Nicht meine Sache. Das entspräche der Forderung, von einem vergewaltigten Mädchen zu verlangen, dass sie die sexuellen Nöte ihres Vergewaltigers doch bei der Beurteilung seiner Tat bedenken müsse.
Ist das dein ernst?

Zum Relativieren des 'politischen' Aspektes von zb. Republikflüchtlingen:
Ich tu mich mit dem Habitus von 'Opfern' den du ja ansprichst auch schwer. Allerdings glaube ich aus anderen Gründen.
Fakt ist, DASS es sie gab, ist ein Ergebnis von 'DDR'. Ob man das euphemistisch als 'produzieren' bezeichnet, wie du es tust, oder ab man es konsequent zu Ende denkt und als das sieht, was es war: Ergebnis einer inhumanen, menschenverachtenden, repressiven und totalitären Gesellschaft, ändert daran nichts.

In der Geschichte 'frank' um die es hier geht, beschreibe ich bewusst ein Opfer. Frank ist ja Nichtmal ein Flüchtling. Er ist da wirklich völlig unbedarft, frei von ideologischen oder materiellen Motiven, 'hineingeraten'.

Mich hat das Erlebnis sehr berührt, eben weil er ein echtes Opfer ist. Auf der anderen Seite zeigt gerade der Fall 'Frank', aus meiner Sicht, sehr gut den inhumanen Charakter dieses Systems. Über die Berechtigung von 'normalen' R-Flüchtlingen, sich als politisch Verfolgte zu sehen kann man streiten. Aus meiner heutigen Sicht ist es unzweifelhaft das sie politisch Verfolgte sind. Das dachte ich nicht immer. Zumal ich nicht in diese Kategorie gehöre.
Ich hab mich nie als Opfer gesehen. Ich bin Täter gewesen - darauf hab ich immer Wert gelegt. Ich seh meine Auseinandersetzung (damals) mit der DDR als etwas Ehrenhaftes.
Einer, der heutzutage eine Anerkennung als rehabilitierter politischer Häftling herumzeigen kann, ist nicht automatisch der bessere Mensch.
Niemand behauptet das. Aber er ist eben 'anerkannt' ein verfolgter Mensch. Die Interpretation, den Stellenwert, welchen man dieser Tatsache zurechnet, die Idee oder Unterstellung, er könnte 'ein besserer Mensch' sein, oder sich dafür halten, ist etwas das im 'Betrachter' entsteht. (Da sind wir wieder im Konstruktivismus gelandet)
Es liegt somit auch in der Verantwortung des Betrachters. Die interessante Frage scheint mir zu sein: Was, welche Überlegungen, Gefühle vielleicht, bringen den Betrachter zu seiner 'Interpretation'?
Einer, der als junger Mann von den „Organen“ mit großen Versprechungen aus einem mecklenburgischen Kaff in das bananenwohnraumautobesserversorgte Ostberlin gelockt wurde, kann nicht auf alle Zeit verdammt werden.
Auch das behauptet niemand. Ich würde sogar sagen: Niemand will das.
Was mir an dieser Formulierung auffällt:
Der arme, unbedarfte Mecklenburger Bauernjunge tritt hier als verführtes Opfer auf. Nicht besser als die Flüchtlinge – wie diese (wenn man es ihnen unterstellen will) hatte auch er nur den Wunsch nach Bananen und einer schönen Wohnung. Er hat sich nur nicht so dumm angestellt das er dafür ins Gefängnis kam.
Nicht ganz richtig, was er vielleicht getan hat, (vielleicht hat er gar nichts getan) aber menschlich, menschlich, menschlich – ach da geht ein Seufzer durch meine Brust – doch völlig nachvollziehbar, verständlich, verzeihbar.
Aus dieser Perspektive (Konstrukt im Kopf) sind natürlich beide gleich oder zumindest sehr ähnlich. Oder wie du es sagst: "Unehrlich können beide sein. Aber auch ehrlich."
Also Kinder, gebt euch einfach die Hand, wir sind doch alle Freunde, und morgen gibt’s Milchreis.

Es gibt keine Generalabsolution, nicht von mir jedenfalls.
Verzeihen, selbst kritisches Verstehen, erfordert einen vorrangegangen Prozess der Läuterung. Eine Katharsis!
Es gibt aufseiten der verführten Bauernjungs und Mädels keinerlei erkennbares Unrechtsbewusstsein. Du sagst ja auch, dass du es noch nie erlebt hast.
Im Gegenteil. (Siehe meine Zitate im Kommentar zu Hfleiss)
Allerdings gibt es die Möglichkeit darüber zu reden. Was wir ja gerade tun.
Wenn man bedenkt was für ein gewaltiger Unterschied das ist – gegenüber dem System, welches die Bauernjungs aus Mecklenburg mit Schwert und Schild verteidigt haben.

Felix Dserschinski: Fünftausend Menschen soll Dserschinski eigenhändig ermordet haben - was soll man von einer Organisation halten, die einen vielfachen Mörder zum Patron hatte?

Was soll man von einem Staat halten, dessen Existenz nur durch diese Organisation möglich war?

Ich weiß, das menschelt nicht so recht, ist irgendwie so wenig mit den eigenen Erfahrungen in Einklang zu bringen.
Ich denke - da bin ich wieder am Ausgangspunkt - deshalb könnte es interessant sein von anderen Erfahrungen zu lesen, hören.
Und um auf den Begriff 'Betroffene' noch kurz einzugehen: Betroffen sind alle! Auch wenn das noch nicht in jedes Bewusstsein gesickert ist. Am Beispiel des Nationalsozialismus und seiner Qualvollen, immer noch währenden Aufarbeitung, wird das deutlich.
Niemand lebt im Luft oder Gedankenleeren Raum. Wobei ich zugebe das die Gedankendichte schon etwas variieren kann.

Einen schönen Tag
Mumpf
 
H

HFleiss

Gast
Noch ein Nachtrag. Ich weiß nicht, was GMB ist. Ich habe mal was von GRH gelesen. Frage: Wenn sich nach der Katastrophe 33 - 45 auch heute noch Nazis organisieren dürfen, nach Nürnberg - warum dann nicht auch Leute von der Stasi? Zumindest haben sie keinen Völkermord begangen und auch keinen Weltkrieg angezettelt. Wir leben in einer Demokratie, Mumpf Lunse. Hier kann jeder tun, wozu er lustig ist. Nur wenn es unseren Obrigkeiten nicht gefällt, dann wird eingeschritten. Körting will die GRH beobachten lassen, habe ich neulich gelesen. Hat er Angst, der Altherrenklub würde die Weltrevolution vorbereiten? Ich glaube, nicht. Eher liegt es nahe, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver von unserer heutigen Misere handelt. Je mieser es uns geht, um so deftiger wird auf die nun wirklich tote DDR eingeschlagen.
Irgendeine Ablenkung braucht der Mensch.

Gruß
Hanna
 
H

HFleiss

Gast
Hab noch mal eine Mitteilung bekommen, dass du geantwortet hast - nicht mir, aber doch zum Thema. Siehst du, das wollte ich wissen: Dass du die DDR gehasst hast, ein aktiver Feind warst - wie du selbst schreibst. Was, glaubst du, geschieht in aller Welt solchen Leuten? Du kannst doch nicht so naiv sein, anzunehmen, dass dich die DDR dafür gestreichelt hätte.
Dann, wenigstens, heuchle nicht und beklag dich nicht. Es ist billig, jetzt mit allerbilligsten Vokabeln auf die DDR einzuhauen. Aber ich will dich nicht hindern. Schwimm weiter auf dieser Welle, Fett schwimmt bekanntlich oben.

Gruß
Hanna
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Liebe Hfleiss,
natürlich empöre ich mich nicht darüber das die Stasi sich neu organisiert. Das ist nachvollziehbar, jeder Taschendieb versucht sich rauszureden.
Die Zitate drücken nicht meine Empörung aus. Sie dienen lediglich der Illustration deines Kommentars. Wenn du es nochmal nachlesen möchtest – manchmal erschließt sich ein Text erst beim zweiten Hinsehen.
Wie leben in einer Demokratie, sehr richtig. Aus diesem Grund haben sie selbstverständlich das Recht sich zu organisieren (zumindest sollange es keine Gesetze gibt, die das verhindern. Insofern begrüße ich es sogar.)
Frage: Wenn sich nach der Katastrophe 33 - 45 auch heute noch Nazis organisieren dürfen, nach Nürnberg - warum dann nicht auch Leute von der Stasi? Zumindest haben sie keinen Völkermord begangen und auch keinen Weltkrieg angezettelt. Wir leben in einer Demokratie, Mumpf Lunse. Hier kann jeder tun, wozu er lustig ist.
Na ja, Hanna, nicht ganz.
Mal abgesehen von deinem Glauben das sich Nazis organisieren dürften (da rate ich wieder: Erst recherchieren - dann kommentieren) ist es eine Interessante Parallele, die du ansprichst.
Dass es in der BRD Gruppen gibt, die faschistisches Gedankengut weitertragen, ist unbestritten.
(Die sind dann nach der Wende zu tausenden auf das Gebiet der DDR 'übergesiedelt'. Wie anders will man erklären, dass rechtsradikales, rassistisches Denken im Osten mittlerweile wesentlich virulenter ist als im Westen. In der DDR gab's die ja nicht. Da haben die Kinder 'Timur und sein Trupp' gelesen und wurden so zu hilfsbereiten Internationalisten.)

Dass sie es unbehelligt tun ist einfach falsch. Meinungsfreiheit hat eben ihren Preis. Es gibt Kriterien dafür, ab welchem Punkt eine Meinung von der allgemeinen Meinungsfreiheit nicht mehr gedeckt ist. Du glaubst offensichtlich immer noch, dass die Mauer ein 'antifaschistischer Schutzwall' war. Also - das ist die Implikation darin - dass auf der anderen Seite der Mauer ein faschistischer Staat voller Nazis war vor dem die DDR-Bürger geschützt werden mussten.

Auf deine Frage warum die Stasi Neuorganisation vonseiten der 'Behörden' als mögliche Bedrohung der Demokratie gesehen wird, hast du dir ja eigentlich schon selbst die Antwort gegeben.

Aus dem gleichen Grund, aus dem man versucht hat, die NPD zu verbieten. In der Wahrnehmung einer Demokratie liegt rot und braun nicht so weit voneinander entfernt.

Und falls du meine Anregung aufgreifen möchtest und etwas recherchieren möchtest, über Geschichts-Klitterung in der DDR, über Stalinismus; zb. darüber, dass Hitler eine Gruppe von Offizieren zu Stalin geschickt hat um sich zeigen zu lassen, wie man ein KZ effektiv betreibt, resp. es baut, dann wäre es möglich das deine Farbwahrnehmung sich auch ein wenig verändert.
Das deine Lebensrealität in der DDR mit dem was ich schreibe nicht viel zu tun hatte kann ich gut akzeptieren.
Ich gebe aber zu bedenken: Das ich in der Sahara lebe bedeutet nicht, dass Pulverschnee eine Erfindung des Klassenfeindes ist. Auch wenn wir das in der Schule so gelernt haben.
Du kannst aber auch einfach meine Antwort auf deinen Kommentar nochmal lesen.
Zu deiner Idee der 'Opferrente' – der ich prinzipiell positiv gegenübersteh: ;)
Da gilt auch wieder: Erst recherchieren – dann kommentieren.

Einen schönen Tag

Mumpf
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Hallo Hfleiss,
damit es nicht unnachvollziehbar wird Quote ich deinen letzen Beitrag mal:
... Siehst du, das wollte ich wissen: Dass du die DDR gehasst hast, ein aktiver Feind warst - wie du selbst schreibst. Was, glaubst du, geschieht in aller Welt solchen Leuten? Du kannst doch nicht so naiv sein, anzunehmen, dass dich die DDR dafür gestreichelt hätte.
Dann, wenigstens, heuchle nicht und beklag dich nicht. Es ist billig, jetzt mit allerbilligsten Vokabeln auf die DDR einzuhauen. Aber ich will dich nicht hindern. Schwimm weiter auf dieser Welle, Fett schwimmt bekanntlich oben.
Dann geh ich auch gleich auf dein Birthler Zitat ein, weil es passt.

Der Anschluss der DDR an die BRD war mir, wie Frau Birthler, wie eigentlich allen 'DDR – Kritischen' Menschen, die ich kannte/kenne, unwillkommen. Wir wollten eine DDR mit demokratischen Freiheiten, Rechtssicherheit, eine DDR ohne Spitzel und allgegenwärtige Kontrolle. Dieses ließe sich fortsetzen. In einem Land, das auch nur im Ansatz demokratisch ist, braucht man auch keine Mauer.
Das kannst du vielleicht nicht nachvollziehen. Ich gesteh dir gern zu das man die DDR auch anders erleben konnte.
Kurz gesagt: ich und viele meiner Freunde wollten einen sozial gerechten Staat, der demokratisch ist. Das bedeutete nach DDR – Sprachregelung: Wir waren Feinde.
Frag dich doch mal wessen Feinde?
Schlimm war, was niemand vorhersagen konnte, dass die Menschen offensichtlich so die Schnauze voll hatten von DDR, dass sie – eine Parole aus der Zeit – 'keine Experimente' mehr wollten.

Es kommt eben immer anders, als man denkt. Aber bevor du jetzt glaubst ich wolle damit Bedauern ausdrücken – keinesfalls.

Es ist vielleicht die größte Schuld der Stasi, der DDR insgesamt, dass sie den Menschen die Träume und Utopien genommen haben, dass sie dafür gesorgt haben, dass Millionen Menschen heilfroh waren, dass es endlich vorbei ist, dass sie ihnen den Glauben genommen haben, dass Freiheit mit Gerechtigkeit vereinbar ist.
Und auch wenn sie sich heute gewandelt geben: die alten DDR-Kader sind die letzten die Begriffe wie Demokratie oder Menschenrechte für mehr als Instrumente im Klassenkampf halten.
Siehe meinen ersten Kommentar: Lukaschenko, Castro
Aus der zeitlichen Distanz war es wahrscheinlich trotzdem die beste Lösung. (So wie es gekommen ist) Insofern Hanna haben wir beide Träume/Überzeugungen begraben.

Der einzige Grund, warum ich den 'Anschluss' heute noch bedaure: Nach den Regeln einer Demokratie ist 'Vergangenheitsbewältigung' immer unbefriedigend.

einen schönen Tag
mumpf
 
M

michy

Gast
Ein Staat - ist seine Menschen.

Ein Staat - der seine Menschen hinter Mauern sperrt, foltert ...

Ein Staat - der seine Menschen nicht frei reisen läßt, hinter Mauern sperrt und foltert, ist nicht seiner Menschen wert.

Ein Staat - der seine Menschen nicht frei reisen läßt, hinter Mauern sperrt, foltert und erschießt, ist nicht.

Menschen - die einem solchen Staat Staat zubilligen sind dessen Vollzugsgehilfen und ...

Der Text 'Gefängnis' ist - was einen solchen zeigt.
Mehr davon!


Gr.
Michael
 

Mumpf Lunse

Mitglied
na da dank ich mal ganz lieb, michy
auch für die form!

gefällt mir. ist ein richtiges eigens werk.
schönen abend, gunter
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Frank (Gefängnis 1)

Nach der absoluten Dunkelheit während der Fahrt blendete mich das Tageslicht für einen Moment. Die Handschellen, obwohl nicht übermäßig eng angelegt, spürte ich schmerzhaft bei jeder Bewegung. Vom stundenlangen Sitzen in der kleinen Kabine waren meine Beine steif.
"Gesicht zur Wand!"
Ich wurde vor eine grau verputzte Mauer geschoben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass noch jemand aus dem Kleinbus geholt und neben mich gestellt wurde.
Die Bewacher hatten sich einige Meter entfernt und es war, als wären wir allein.
"Psst ...", zischte ich zu dem Mann neben mir,
"Psst ... weißt du wo wir sind?"
Keine Antwort. Er schien zu versteinern und starrte verbissen auf seine Füße.
Ich ärgerte mich und fragte etwas lauter: "Was ist los mit dir?"
"Halten Sie den Mund!", bellte eine Stimme von hinten.

Die Zelle war geräumig, es standen richtige Betten darin, und es war hell; die Glasbausteine des "Fensters" nahmen fast die gesamte Wand ein. Eine weiß gekleidete Frau betrat den Raum und wollte meinen Blutdruck messen, ein Uniformierter blieb breitbeinig in der Tür stehen.
Ein Krankenhaus! In ein Krankenhaus hatten sie mich also gebracht.
Seit sie mich vor drei Monaten verhafteten, gab es keinen Kontakt zur Außenwelt. Kein Besuch, kein Rechtsanwalt, keine Briefe.
Damals, in der Nacht, als sie mich in einen am Straßenrand knatternden Wartburg zerrten, war ich bereits seit Wochen krank geschrieben. Nicht, dass ich mich krank fühlte, aber ich hatte eine kleine Beule am Hals. Tat nicht weh und beeinträchtigte mich auch sonst nicht. Aber sie war da. Ich sagte den Ärzten jedes Mal: "Ich habe Krebs und ich arbeite nicht mehr. Erst wenn Sie mir sagen, was das ist, gehe ich wieder arbeiten." So hatte ich mir die Krankschreibung und zu guter Letzt eine Überweisung in die Uniklinik ertrotzt. Dort sagten sie, nachdem sie es punktiert hatten, es wäre gefährlich, kein Krebs wahrscheinlich, aber gefährlich.
"Es muss sofort raus! Lassen Sie sich einen Termin für die Operation geben."
Die Schwester, welche die Termine vergab, riet mir jedes halbe Jahr nachzufragen, ob ich schon dran sei. Ich musste lachen, bis ich kapierte, dass es kein Scherz war. Als ich zwei Tage später festgenommen wurde, war meine Aufmerksamkeit auf alles andere gerichtet. Ich habe es dem Gefängnisarzt zwar erzählt, aber danach habe ich es einfach vergessen. Sie haben es scheinbar nicht vergessen.

Die Tür wurde wieder geöffnet und sie brachten den Mann herein, der neben mir an der Wand gestanden hatte.

Dann waren wir allein. Er sah mich nicht an. Ich war mir nicht mal sicher, dass er mich bemerkte. Ich sagte meinen Namen und streckte ihm die Hand entgegen.
Wie schon draußen, vor der grauen Wand, sah er mich nicht an und antwortete nicht. Plötzlich sprang er auf, ging zum Waschbecken und beschmierte sich die Lippen mit Zahnpasta. Ich schaute ihm verwundert zu und legte mich auf eines der Betten. "Warum machst du das?"
Keine Antwort. Mit einer fragenden Geste streckte ich ihm die Zigaretten entgegen. Er riss sie mir fast aus der Hand. Als ich ihm die Streichhölzer gab, zitterte er so stark, dass die Zigarette, die er mühsam aus der Packung gefummelt hatte, herunterfiel. Als sie endlich brannte, rauchte er mit hastigen Zügen und sah die ganze Zeit auf die Glasbausteine. Es blieb nur der Filter übrig. Dann versteinerte er wieder.
"Wie heißt du?", fragte ich ihn.
Keine Reaktion. Das kann ja heiter werden, dachte ich und schloss die Augen.

Das Abendessen wurde gebracht. Es war viel besser als die letzten Monate. Mein Mitbewohner schlang schnell alles in sich hinein und schielte dann mit unverkennbarer Gier nach den Resten meines Essens. Um seinen Mund waren noch Spuren der Zahnpaste, die er sich immer wieder auf die Lippen geschmiert hatte. Wortlos schob ich den Teller ein paar Zentimeter in seine Richtung. Als er seine Hand ausstreckte, zog ich ihn zurück und fragte: "Wie heißt du?"
"Frank", stieß er hervor und griff energisch zu.
"Oh Manne", seufzte er, nachdem er alles gegessen hatte. Ich bot ihm wieder eine Zigarette an. Er sah mich einen Moment lang an, sein Blick war unstet, flackerte wie verlöschende kleine Kerzen, trotzdem glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu erkennen.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, das wortlos geblieben war, rauchten wir, weiter schweigend, meine Zigaretten. Dann begann er im Raum auf und ab zu laufen; ich versuchte zu lesen. Den ersten Band der Josephus Trilogie von Lion Feuchtwanger. Er ging auf einem imaginären Pfad, dem er unerschütterlich folgte. Das erinnerte mich an einen Fuchs, den ich mal im Zoo gesehen hatte. Ich konnte mich nicht auf das Buch konzentrieren.
"Willst du nicht auch was lesen?" Er antwortete nicht.
"Die Zeitung vielleicht?" Er blieb stehen und sah mich an.
"Ich kann nicht, oh Manne", sagte er.
"Wie, du kannst nicht?"
"Ich versteh's nicht."
"Was gibt's da zu verstehen?"
"Wenn ich eine Zeile gelesen habe, dann habe ich den Anfang schon wieder vergessen". Ich musterte ihn ungläubig.
"Aber du kannst doch lesen?"
"Ja, aber ich versteh's nicht!" Er begann wieder auf und ab zu gehen.
"Bist du zu aufgeregt jetzt - zum Lesen? Verstehst du es nicht, weil dir so viel durch den Kopf geht?"
"Nein, oh Manne, ich will arbeiten. Ich kann nicht ohne arbeiten", brach es aus ihm heraus.
"Als was hast du gearbeitet?"
"Melker."
"Auf der LPG?", fragte ich, um das Gespräch in Gang zu halten.
"Ja, 200 Kühe, ich habe nie gefehlt." Und nach einer Pause: "Ich halte das nicht aus, oh Manne, ... ohne arbeiten."
"Na dann lies doch was", sagte ich wieder.
"Ich kann doch nicht, oh Manne", stieß er gequält hervor.
Er sah zu meinen Zigaretten.
"Gibst du mir noch eine?"
Ich nickte und er griff schnell nach der Schachtel auf dem Tisch. Er tat mir Leid und ich sagte: "Wir fragen mal, wann du welche kaufen kannst."
Er sehr leise: "Ich habe doch kein Geld, oh Manne."
"Hast du niemanden draußen?" Er sah mich an, als verstünde er die Frage nicht.
"Eine Frau? Eltern? Irgendjemand?"
"Doch, Frau und zwei Kinder." Er setzte sich auf sein Bett und sah zu den Glasbausteinen.
"Schickt die dir kein Geld?"
"Nein, sie will sich scheiden lassen." Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen können. Alles, was mir einfiel, war: "Wie lange bist du schon hier drin?"
"Drei Monate?" Es klang wie eine Frage.
"Weißt du das nicht?"
"Oh Manne ...", stöhnte er wieder.
Ich warf eine Schachtel Zigaretten auf sein Bett, ich hatte genug und ich hatte auch Geld.
"Hier, da brauchst du mich nicht immer zu fragen".
Er nahm die Schachtel und als er aufblickte, sah ich, dass er lächelte. Er setzte sich an den Tisch und begann zu rauchen. Ich widmete mich wieder Flavius Josephus.

Als das Mittagessen gebracht wurde, war die halbe Schachtel geraucht.
Nachdem die Schließer das Geschirr geholt hatten und die Zelle wieder verriegelt war, fragte er mich leise:
"Warum bist du hier?"
Ich sah ihn an. Vielleicht war er ein Spitzel. Vielleicht glaubte er das auch von mir. Nein, der ist zu fertig, dachte ich.
"Ich habe mich mit Leuten getroffen und diskutiert", sagte ich ausweichend. Er guckte mich an und mir wurde klar, dass er nichts verstand.
"Na über Politik, Gesellschaft, Sozialismus. Ich habe auch Musik gemacht, das spielt wohl mit rein."
"Musik?", fragte er.
"Ja, ich habe in einer Band gespielt, Gitarre und anderes. Eigentlich habe ich gesungen, na ja und Gedichte geschrieben und vorgetragen."
"Du bist ein Künstler", sagte er und ich musste lachen über den resignierten Ton in seiner Stimme.
"Ich bin Schlosser, die Musik war nur Hobby", lachte ich. Irgendwie schien ihn das zu beruhigen.
"Ich habe mal eine Musikkapelle im Fernseher gesehen", sagte er "aber ich versteh` nichts davon. Früher dachte ich, das ist alles wirklich." Ich sah ihn fragend an.
"Wenn ich was im Fernseher gesehen habe, dachte ich, dass es wirklich passiert."
"Du meinst die Nachrichten?"
"Nein alles."
"Du willst mich verarschen?", grinste ich, aber in seinen Augen sah ich, dass er es völlig ernst meinte.
"Meine Frau hat mir das dann erklärt, wie das ist mit den Schauspielern und so. Sie hat mich ausgelacht ... die Kinder auch, oh Manne." Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.
"Alle haben über mich gelacht." Ich schwieg betreten. Es war mir peinlich, einen erwachsenen Mann so zu sehen. Wie konnte er das sagen, hatte er keinen Stolz?
"Einmal habe ich meinem Nachbarn den Betonmischer geborgt. Er brachte ihn nicht wieder und meine Frau sagte, ich soll ihn holen, ich wäre ein Schlappschwanz sonst. Ich ging zum Nachbarn. Er sagte, der ist kaputt, den brauchst du sowieso nicht mehr und dann hat er gelacht über mich, oh Manne ... was sollte ich denn machen?"
"Er hat dich beklaut?", fragte ich.
"Nein, er war doch kaputt", antwortete er trotzig.
"Du bist ein kräftiger Kerl, warum hast du ihm keine reingehauen?" Ich fragte das ziemlich aufgebracht.
"Das ist nicht richtig, das darf man nicht." Er sagte es wie ein Kind.
"Vielleicht hast du recht, macht alles nur schlimmer", lenkte ich ein.

Die Zelle wurde geöffnet, ein Uniformierter forderte mich auf mitzukommen. Ich wurde zu einem Arzt gebracht. Er befragte mich zu meinen Beschwerden, dann wurde ich zurück gebracht. Pünktlich zum Abendbrot.
Frank hatte sich wieder die Lippen mit Zahnpasta eingeschmiert. Die Zigaretten sind alle, dachte ich sofort.
"Hilft das, wenn du nichts zu rauchen hast?"
"Oh Manne ...", stöhnte er nur.
Wir begannen zu essen. Diesmal blieb nichts auf meinem Teller und Frank war sichtlich enttäuscht. Ich überlegte, ob ich ihm eine Zigarette anbieten sollte. Wenn ich ihm noch eine Schachtel gäbe, würde er sie sicher in kürzester Zeit leeren. Ich hielt ihm die Schachtel hin. Wir rauchten. Ich widmete mich wieder Josephus. Während ich las, ging er auf und ab. Ich bot ihm von Zeit zu Zeit etwas zu rauchen an, das beruhigte ihn ein wenig.
"Nachtruhe!" Das Licht wurde gelöscht.

Nach dem Frühstück wurde die Tür geöffnet. Ein Offizier, der einen weißen Kittel umgehängt hatte, kam in die Zelle. Er sah sich kurz in der Zelle um und fragte dann, wer ich sei. Ich sagte meinen Namen. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich Frank zu. "Kommen Sie mit!" Kurz nachdem sie weg waren, wurde auch ich geholt. Man brachte mich in ein Labor und mir wurde Blut abgenommen. Als ich wieder in der Zelle war, kam eine Krankenschwester und gab mir eine braune Kapsel, die ich schlucken sollte.
"Was ist das?"
"Das müssen Sie nehmen", antwortete sie.
"Was ist das?", fragte ich noch mal. Sie war sichtlich verärgert.
"Nehmen Sie das!"
"Wer weiß, was Sie mir geben!", sagte ich "Ich nehme nichts, solange ich nicht weiß, was das ist, Ihnen traue ich alles zu!" Sie drehte sich wütend um und ging. Den Rest des Vormittags konnte ich ungestört lesen. Kurz vor dem Mittagessen kam mein Zellengenosse wieder. Ich sah ihn erwartungsvoll an.
"Was war denn das für einer?", fragte ich, während ich ihm die Zigaretten reichte.
"Ich weiß nicht, er sagt er muss mich untersuchen, weil es der Rechtsanwalt will."
"Was hat er denn untersucht?", wollte ich wissen.
"Er hat mich nur so komische Sachen gefragt", sagte Frank und sah mich ratlos an.
Das Essen kam. Während wir aßen, fragte ich ihn wieder, warum er hier sei.
"Ich habe doch nichts gemacht. Nur einmal. Da brauchten wir ein Kabel, für den Keller. Meine Frau sagte, ich soll es von der LPG mitbringen. Ich kann doch nicht stehlen, sagte ich. Sie sagte, ich soll nicht so blödes Zeug reden und die Kinder haben mich ausgelacht. Da habe ich es mitgebracht. Dann konnte ich nicht mehr schlafen." Und nach einer Pause: "Ich bin ein Dieb."
Als er das sagte, sah er verzweifelt aus, dann wurde sein Körper schlaff, seine Augen trüb. "Das darf man doch nicht", sagte er leise und abwesend. Etwas später richtete er sich wieder auf und sah zu dem Fenster aus Glasbausteinen.
"Nach einem Monat bin ich zum Gefängnis in Dessau gegangen."
"Was wolltest du denn im Gefängnis?" Ich blickte ihn ratlos an.
"Wer klaut, muss ins Gefängnis!", sagte er trotzig.
Das glaubte ich einfach nicht, aber seine Stimme, seine Augen, alles drückte aus, dass er die Wahrheit sagte.
"Hat dich einer erwischt?"
"Nein."
"Bist du zur Polizei gegangen?"
"Nein."
"Warum bist du dann zum Gefängnis gegangen?", fragte ich wieder.
"Ich dachte, wenn ich bestraft werde, kann ich wieder schlafen", sagte er leise.
"Und? Was haben die mit dir gemacht?" Ich stellte mir vor, wie er am Gefängnistor anklopfte, um den Bullen zu erklären, dass er bestraft werden wollte, und musste grinsen.
"Die wollten Papiere sehen. Ich hatte doch keine Papiere. Der am Tor fragte, ob ich Selbersteller bin."
"Selbststeller", verbesserte ich ihn.
"Aber ich weiß doch nicht, was das ist. Oh Manne. Dann hat er mich angebrüllt und weggeschickt." Ich musste unwillkürlich lachen.
"Mann, du bist ein Herzchen", grinste ich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte.
Ein Uniformierter holte das Geschirr. Anders als in der U-Haft in Halle wurden hier solche Arbeiten nicht von anderen Häftlingen erledigt. Es war, als wären Frank und ich die einzigen Gefangenen.
Als wir wieder allein waren, versuchte ich Frank zu erklären, dass man erst verurteilt sein muss, um ins Gefängnis zu kommen. Oder wenn die Polizei oder die Stasi denken, dass man was gemacht hat, wie bei uns jetzt, dann kommt man in Untersuchungshaft. Dass ein Selbststeller jemand ist, der verurteilt wurde, aber nicht mehr in Untersuchungshaft bleiben muss, weil er nur eine Kleinigkeit gemacht hat und dass der dann einen Termin bekommt, zu dem er sich im Gefängnis melden muss, um seine Strafe abzusitzen.
Ich hatte das Gefühl, er verstand mich nicht und gab es auf um wieder zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Jetzt bin ich schon wie Frank, dachte ich. Ich weiß auch nicht mehr, was ich gerade gelesen habe. So muss es ihm immer gehen. Kein Wunder, dass er keine Lust zu lesen hat. Ich hatte zwar welche, aber das nutzte mir jetzt wenig.
Noch immer hatte ich nicht erfahren, warum er eigentlich hier war. Als er wieder zum Waschbecken ging um sich die Lippen einzuschmieren, sagte ich: "Wir sind hier bei der Stasi. Das weißt du doch?"
"Ja, oh Manne ..." Ich gab ihm eine neue Schachtel Zigaretten und sah ihn erwartungsvoll an um eine weitere Erklärung von ihm zu bekommen.
"Ich wollte auch mal zur Stasi gehen, weil die von der Stasi die Republik schützen. Aber Irene sagte, wenn ich das mache, heiratet sie mich nicht."
"Irene ist der Name deiner Frau?", fragte ich.
"Ja."
"Na jetzt bist du ja bei der Stasi", sagte ich trocken. Er guckte mich traurig an:
"Ich halte das nicht aus, so ohne arbeiten."
Und nach einer Pause: "Ich war in Halle mit einem auf der Zelle, der sagte, wenn man ins richtige Gefängnis kommt, darf man arbeiten."
"Haben die von der Stasi dir gesagt, warum du hier bist?" Er schüttelte den Kopf.
"Was sagt denn dein Rechtsanwalt?", bohrte ich weiter.
"Den habe ich nur einmal gesehen, ganz kurz, da hat er mir nichts gesagt."
Irgendwie musste es doch zu erfahren sein, wie er hier reingeraten war.
"Wo bist du denn verhaftet worden?", machte ich einen neuen Anlauf.
"Bei Eisenach, mit dem Auto." Ich blickte ihn fragend an.
"Was für ein Auto?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen Führerschein hatte.
"Ich habe einen Wartburg!" Stolz klang in seiner Stimme.
"Aber die von der Stasi sagen, den nehmen sie mir jetzt weg, oh Manne ...". Er sah resigniert auf den Boden.
"Du hast einen Führerschein?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er mit Nachdruck und sah mich verwundert an. Ich fragte mich, wie er den geschafft hatte, beschloss aber nicht weiter nachzufragen, jetzt, wo ich so nah dran war, den Grund seiner Haft zu erfahren.
"Hast du einen Unfall gebaut?", fragte ich und dachte befriedigt, dass wir der Sache jetzt näher kommen. Sicher hatte er einen Unfall gebaut und aus irgendeinem Grund war er nicht in der normalen U-Haft, sondern beim Mfs gelandet.
"Ist der Wartburg sehr kaputt?", fragte ich anteilnehmend.
"Nein, wieso denn?", antwortete er und sah mich verwundert an. Ich war einen Moment sprachlos.
"Na der Unfall! Du hattest doch einen Unfall!"
"Nein, keinen Unfall", antwortete er.
Ich war keinen Schritt weiter. Ich lehnte mich auf dem Bett zurück und sagte so ruhig ich konnte: "Du hast mir doch gerade gesagt, du wurdest bei Eisenach mit dem Auto verhaftet, richtig?"
"Ja."
"Wieso, ... wieso wurdest du da verhaftet? Ich verstehe das nicht!" Er sah mich nur an, mit traurigen Augen.
"Was wolltest du denn bei Eisenach? Hast du jemanden besucht? War deine Familie dabei? Haben sie dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?"
Das klang viel gereizter, als ich es wollte. Er sah mich erschrocken an, dann senkte er den Blick und sagte leise: "Ich hab's doch nicht mehr ausgehalten."
"Was hast du nicht ausgehalten? Pinkeln zu müssen? Willst du mir im Ernst erzählen, die haben dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?" Ich war laut geworden und er schwieg verstört.

Das Abendessen kam. Es gab jeden Tag etwas anderes. Das waren wir von Halle nicht gewöhnt. Dort gab es an einem Tag Leberwurst, eine halbe Scheibe und am nächsten Tag Jagdwurst in Würfeln. Ich hatte die Würfel mal zusammengelegt. Es war auch nur eine halbe Scheibe. Dazu immer einen Löffel voll Schweineschmalz. Tagein, tagaus, seit drei Monaten.
Nach dem Essen waren wir etwas entspannter und fast zufrieden. Irgendwie war unsere kleine Welt ein wenig harmonischer. Ich beschloss, die Stimmung zu nutzen und nicht locker zu lassen.
"Jetzt mal im Ernst", ich sah ihn an, "was hast du nicht ausgehalten?" Seine Augen wurden dunkel, seine Hände bewegten sich unruhig, ziellos und zitterten dabei.
"Ich hab's versucht, ein paar Mal, aber ich konnte es doch nicht, oh Manne. Alle haben mich ausgelacht. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Die Frau, die Kinder ... auf Arbeit. Ich hab's versucht, ein paar Mal."
Er wirkte gequält und abwesend und nach einer langen Pause sagte er:
"Auf Arbeit haben sie sich unterhalten, wenn man an die Grenze geht, wird man erschossen. Ich dachte, wenn ich's nicht selber kann, fahr ich zur Grenze, da werde ich erschossen."
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.
"Du wolltest dich an der Grenze erschießen lassen?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er sehr leise.
"Du wolltest dich umbringen!?"
"Ja ... oh Manne".
Ich suchte nach Worten, irgendwas, das ich jetzt sagen konnte. Mir fiel nichts ein. Wir schwiegen. Wortlos streckte ich ihm die Schachtel mit den Zigaretten hin. Er griff abwesend zu, und als ich ihm Feuer gab, reagierte er nur mechanisch.
"Wie hast du dir das denn gedacht?", fragte ich nach einiger Zeit.
"Wolltest du hingehen und sagen: 'Erschießt mich'?"
"Ich dachte, wenn ich mit dem Auto auf die Grenze zufahre, werden sie mich erschießen", antwortete er leise.
"Und warum haben sie es nicht getan?"
"Ich weiß nicht, oh Manne", sagte er resigniert.
"Bist du denn wirklich auf den Grenzübergang zugefahren?"
"Ich wusste doch nicht, wo die Grenze ist ... Ich bin einfach gefahren, erst auf der Autobahn in Richtung Eisenach, dann auf der Landstraße. Dann sah ich einen Posten. Ich gab Gas und dachte, wenn ich jetzt durchfahre, erschießen sie mich. Als ich fast da war, sprangen sie auf die Straße mit Maschinenpistolen in den Händen. Ich dachte nur ... jetzt, jetzt schießen sie gleich. Aber sie haben nicht geschossen."
Er starrte ins Leere. Nach einer langen Pause redete er weiter.
"Irgendwann war ich in einem Dorf und da war die Straße auf einmal zu Ende. Ich hielt an, vor einem Tor und da kamen von überall Soldaten und zerrten mich aus dem Auto."
"Das war sicher nur ein Vorposten ins Sperrgebiet", sagte ich. "Das war noch nicht die Grenze. Vor der Grenze ist ein Sperrgebiet. Da darf man nur mit Sondergenehmigung rein", versuchte ich ihm zu erklären. Er sah mich verständnislos an.
"Und du bist jetzt hier, weil die denken, du wolltest in den Westen abhauen?"
"Wieso?"
"Wieso? Mensch Frank, wer zur Grenze geht, will abhauen. Auf die Idee, dass sich einer nur mal schnell erschießen lassen will, muss man erstmal kommen." Frank sagte nichts und ich schüttelte den Kopf.
"Haben sie dich gleich nach Halle zur Stasi gebracht?"
"Gera", sagte er.
"Hast du denen gesagt, dass du dich umbringen wolltest?"
"Sie haben gesagt, ich weiß schon, warum ich hier bin und ich soll am besten alles erzählen." Und nach einer Pause: "Und da dachte ich, es ist wegen dem Elektrokabel von der LPG - und habe dann alles erzählt. Sie haben mich angebrüllt. Ich soll die Wahrheit sagen."
Ich sah ihn an, er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! Ich fragte ihn trotzdem:
"Du dachtest, du bist wegen dem Kabel bei der Stasi gelandet?"
"Ich habe doch nichts anderes gemacht."
Ich musste laut lachen, als ich mir vorstellte, wie verarscht sich die Stasi wohl vorkam.
"Haben sie dich nicht gefragt, was du im Sperrgebiet wolltest, an der Grenze?"
"Ja, aber erst viel später."
"Und?" Ich sah ihn gespannt an.
"Ich habe erzählt, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe", sagte er leise.
"Haben sie dir das geglaubt?"
Er sah mich an und senkte dann den Kopf.
"Sie fragten, wieso ich glaube, dass die DDR Menschen erschießt. Ich erzählte, dass ich das gehört habe. Sie fragten dann, ob ich damit sagen will, dass die von der Stasi und die von der Volksarmee Mörder sind ... oh Manne. Was sollte ich denn sagen?" Er machte eine lange Pause. "Dann wurde ich in einen Barkass gesteckt, so einen wie den, der uns hergebracht hat und kam nach Halle. Aber das wusste ich nicht. Als ich in Halle war, wurde ich am zweiten Tag in einen Raum gebracht, da stand ein Stuhl drin und ich musste mich draufsetzen und einer von der Stasi sagte: So jetzt werden sie erschossen ... und ich habe gedacht, jetzt erschießen sie mich ... und ich habe solche Angst gehabt. Ohh Manne ..."
Ich wusste sofort, was er meinte. Im 'Roten Ochsen', der Stasi U-Haft in Halle, gab es im Keller einen Raum, in dem die Häftlinge fotografiert wurden. Diese 'Verbrecherfotos', die jeder schon einmal gesehen hat. Man musste sich auf einen Stuhl setzten, der auf ein Podest montiert war. Wenn die Aufnahmen im Profil gemacht werden sollten, betätigte der Fotograf, ein Stasimann in Uniform, einen Hebel und über eine Mechanik wurde der gesamte Stuhl ruckelnd und geräuschvoll um 90°gedreht.
"Und dann zog er an einem Hebel und ich bekam so einen Schreck. Ich dachte, dass sie jetzt schießen, ich habe in die Hose gemacht ... oh Manne ... und die von der Stasi lachten wie verrückt." Er begann zu weinen. Ich ging zu ihm und legte meinen Arm um seine Schultern. Eine unbändige Wut war in mir. Und ich sagte nur immer wieder: "Diese Schweine, diese Schweine".

Nachdem wir das Frühstück am nächsten Morgen beendet hatten, fragte ich ihn: "Willst du dir immer noch das Leben nehmen?"
"Nein", sagte er. "Ich will nur arbeiten ... ich kann nicht ohne arbeiten".
Er wird wohl bald wieder arbeiten, dachte ich, sie werden ihn sicher bald rauslassen, zumal er ja offensichtlich hier war, um von einem Psychiater beurteilt zu werden. Und ich sagte: "Frank, so schlimm das alles war, du kommst sicher bald hier raus und dann wird alles wieder gut. Dann kannst du arbeiten, bis du
umfällst.", und dann grinste ich ihn an. Er sah mich ungläubig an und seine Augen leuchteten hoffnungsvoll:
"Meinst du wirklich?"
"Ja!"
Die Tür wurde geöffnet und man forderte mich auf mitzukommen. Ich warf ihm noch ein Lächeln zu, als ich mich in der Tür umdrehte.
Ich wurde abermals zu einem Arzt gebracht, der mir eine Packung mit den braunen Kapseln zeigte, die ich abgelehnt hatte einzunehmen. Es war Tetrazyklin, ein Antibiotikum. Er erklärte mir, dass es wichtig sei, dass ich sie nähme. Dann eröffnete er mir, dass ich operiert werden sollte. Der Knoten am Hals würde entfernt werden. Ich war einverstanden. Als ich am Nachmittag wieder auf die Zelle gebracht wurde, war ich allein. Das Bett von Frank war frisch bezogen und akkurat gemacht, nichts deutete darauf hin, dass er zurückkommen würde oder jemals hier war.
Am nächsten Morgen wurde ein neuer Häftling in die Zelle gebracht, jünger als ich, gerade mal 20 Jahre alt. Er war ganz anders als Frank. Wir lachten viel und die Zeit verging sehr schnell. Fast zu schnell, ich hatte die Befürchtung, dass ich den Flavius Josephus nicht schaffen würde, zumal am Tag nach der Operation mein Vernehmer aus dem "Roten Ochsen" auftauchte und ich wieder jeden Tag vernommen wurde. Zwei Wochen später wurde ich nach Halle zurückgebracht. Offensichtlich war die Stasi jetzt dabei, den Prozess vorzubereiten. Ich sah zum ersten Mal meinen Rechtsanwalt. Die zwei fehlenden Bände der Josephus Trilogie konnte ich zum Glück in Halle auch bekommen und lesen. Das Essen bestand wieder abwechselnd aus einer halben Scheibe Leberwurst und einer halben Scheibe Jagdwurst, gewürfelt.

Nach dem Prozess und der Verurteilung wurde ich in die Justizvollzugsanstalt Cottbus verlegt. Wir mussten in einem Drei-Schichtsystem arbeiten. Als Schlosser, der im Werkzeugmaschinenbau beschäftigt war, arbeitete ich in einer Werkstatt.

Ich war seit etwa einem Jahr in Cottbus. Es war ein warmer Sommermorgen und das 'Kommando', in dem ich arbeitete, hatte Frühschicht.
Manchmal begegnete die Frühschicht, wenn sie am Morgen zum Frühstück in den Speisesaal geführt wurde, der Nachtschicht, die gerade mit dem Frühstück fertig war. So war es an diesem Morgen. Während die hungrige Frühschicht in den Speisesaal flutete, strömte die Nachtschicht hinaus. Plötzlich war in dem Durcheinander ein Gesicht vor mir. Es strahlte mich an und ich erkannte ihn sofort.
"Frank?", sagte ich ungläubig. Er grinste nur.
"Wieso bist du hier? Haben sie dich denn nicht freigelassen?", fragte ich überrascht.
"Ich habe drei Jahre bekommen, wegen Republikflucht" antwortete er, immer noch grinsend.
"Wie geht es dir?", ich fragte, obwohl ich sehen konnte, wie es ihm ging.
"Mir geht es gut, ich kann arbeiten. Das ist das Wichtigste."
Der Strom der Häftlinge riss uns auseinander.
"Alles Gute", rief ich ihm nach, während er ins Freie gespült wurde.
 

Mumpf Lunse

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Frank (Gefängnis 1)

Nach der absoluten Dunkelheit während der Fahrt blendete mich das Tageslicht für einen Moment. Die Handschellen, obwohl nicht übermäßig eng angelegt, spürte ich schmerzhaft bei jeder Bewegung. Vom stundenlangen Sitzen in der kleinen Kabine waren meine Beine steif.
"Gesicht zur Wand!"
Ich wurde vor eine grau verputzte Mauer geschoben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass noch jemand aus dem Kleinbus geholt und neben mich gestellt wurde.
Die Bewacher hatten sich einige Meter entfernt und es war, als wären wir allein.
"Psst ...", zischte ich zu dem Mann neben mir,
"Psst ... weißt du wo wir sind?"
Keine Antwort. Er schien zu versteinern und starrte verbissen auf seine Füße.
Ich ärgerte mich und fragte etwas lauter: "Was ist los mit dir?"
"Halten Sie den Mund!", bellte eine Stimme von hinten.

Die Zelle war geräumig, es standen richtige Betten darin, und es war hell; die Glasbausteine des "Fensters" nahmen fast die gesamte Wand ein. Eine weiß gekleidete Frau betrat den Raum und wollte meinen Blutdruck messen, ein Uniformierter blieb breitbeinig in der Tür stehen.
Ein Krankenhaus! In ein Krankenhaus hatten sie mich also gebracht.
Seit sie mich vor drei Monaten verhafteten, gab es keinen Kontakt zur Außenwelt. Kein Besuch, kein Rechtsanwalt, keine Briefe.
Damals, in der Nacht, als sie mich in einen am Straßenrand knatternden Wartburg zerrten, war ich bereits seit Wochen krank geschrieben. Nicht, dass ich mich krank fühlte, aber ich hatte eine kleine Beule am Hals. Tat nicht weh und beeinträchtigte mich auch sonst nicht. Aber sie war da. Ich sagte den Ärzten jedes Mal: "Ich habe Krebs und ich arbeite nicht mehr. Erst wenn Sie mir sagen, was das ist, gehe ich wieder arbeiten." So hatte ich mir die Krankschreibung und zu guter Letzt eine Überweisung in die Uniklinik ertrotzt. Dort sagten sie, nachdem sie es punktiert hatten, es wäre gefährlich, kein Krebs wahrscheinlich, aber gefährlich.
"Es muss sofort raus! Lassen Sie sich einen Termin für die Operation geben."
Die Schwester, welche die Termine vergab, riet mir jedes halbe Jahr nachzufragen, ob ich schon dran sei. Ich musste lachen, bis ich kapierte, dass es kein Scherz war. Als ich zwei Tage später festgenommen wurde, war meine Aufmerksamkeit auf alles andere gerichtet. Ich habe es dem Gefängnisarzt zwar erzählt, aber danach habe ich es einfach vergessen. Sie haben es scheinbar nicht vergessen.

Die Tür wurde wieder geöffnet und sie brachten den Mann herein, der neben mir an der Wand gestanden hatte.

Dann waren wir allein. Er sah mich nicht an. Ich war mir nicht mal sicher, dass er mich bemerkte. Ich sagte meinen Namen und streckte ihm die Hand entgegen.
Wie schon draußen, vor der grauen Wand, sah er mich nicht an und antwortete nicht. Plötzlich sprang er auf, ging zum Waschbecken und beschmierte sich die Lippen mit Zahnpasta. Ich schaute ihm verwundert zu und legte mich auf eines der Betten. "Warum machst du das?"
Keine Antwort. Mit einer fragenden Geste streckte ich ihm die Zigaretten entgegen. Er riss sie mir fast aus der Hand. Als ich ihm die Streichhölzer gab, zitterte er so stark, dass die Zigarette, die er mühsam aus der Packung gefummelt hatte, herunterfiel. Als sie endlich brannte, rauchte er mit hastigen Zügen und sah die ganze Zeit auf die Glasbausteine. Es blieb nur der Filter übrig. Dann versteinerte er wieder.
"Wie heißt du?", fragte ich ihn.
Keine Reaktion. Das kann ja heiter werden, dachte ich und schloss die Augen.

Das Abendessen wurde gebracht. Es war viel besser als die letzten Monate. Mein Mitbewohner schlang schnell alles in sich hinein und schielte dann mit unverkennbarer Gier nach den Resten meines Essens. Um seinen Mund waren noch Spuren der Zahnpaste, die er sich immer wieder auf die Lippen geschmiert hatte. Wortlos schob ich den Teller ein paar Zentimeter in seine Richtung. Als er seine Hand ausstreckte, zog ich ihn zurück und fragte: "Wie heißt du?"
"Frank", stieß er hervor und griff energisch zu.
"Oh Manne", seufzte er, nachdem er alles gegessen hatte. Ich bot ihm wieder eine Zigarette an. Er sah mich einen Moment lang an, sein Blick war unstet, flackerte wie verlöschende kleine Kerzen, trotzdem glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu erkennen.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, das wortlos geblieben war, rauchten wir, weiter schweigend, meine Zigaretten. Dann begann er im Raum auf und ab zu laufen; ich versuchte zu lesen. Den ersten Band der Josephus Trilogie von Lion Feuchtwanger. Er ging auf einem imaginären Pfad, dem er unerschütterlich folgte. Das erinnerte mich an einen Fuchs, den ich mal im Zoo gesehen hatte. Ich konnte mich nicht auf das Buch konzentrieren.
"Willst du nicht auch was lesen?" Er antwortete nicht.
"Die Zeitung vielleicht?" Er blieb stehen und sah mich an.
"Ich kann nicht, oh Manne", sagte er.
"Wie, du kannst nicht?"
"Ich versteh's nicht."
"Was gibt's da zu verstehen?"
"Wenn ich eine Zeile gelesen habe, dann habe ich den Anfang schon wieder vergessen". Ich musterte ihn ungläubig.
"Aber du kannst doch lesen?"
"Ja, aber ich versteh's nicht!" Er begann wieder auf und ab zu gehen.
"Bist du zu aufgeregt jetzt - zum Lesen? Verstehst du es nicht, weil dir so viel durch den Kopf geht?"
"Nein, oh Manne, ich will arbeiten. Ich kann nicht ohne arbeiten", brach es aus ihm heraus.
"Als was hast du gearbeitet?"
"Melker."
"Auf der LPG?", fragte ich, um das Gespräch in Gang zu halten.
"Ja, 200 Kühe, ich habe nie gefehlt." Und nach einer Pause: "Ich halte das nicht aus, oh Manne, ... ohne arbeiten."
"Na dann lies doch was", sagte ich wieder.
"Ich kann doch nicht, oh Manne", stieß er gequält hervor.
Er sah zu meinen Zigaretten.
"Gibst du mir noch eine?"
Ich nickte und er griff schnell nach der Schachtel auf dem Tisch. Er tat mir Leid und ich sagte: "Wir fragen mal, wann du welche kaufen kannst."
Er sehr leise: "Ich habe doch kein Geld, oh Manne."
"Hast du niemanden draußen?" Er sah mich an, als verstünde er die Frage nicht.
"Eine Frau? Eltern? Irgendjemand?"
"Doch, Frau und zwei Kinder." Er setzte sich auf sein Bett und sah zu den Glasbausteinen.
"Schickt die dir kein Geld?"
"Nein, sie will sich scheiden lassen." Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen können. Alles, was mir einfiel, war: "Wie lange bist du schon hier drin?"
"Drei Monate?" Es klang wie eine Frage.
"Weißt du das nicht?"
"Oh Manne ...", stöhnte er wieder.
Ich warf eine Schachtel Zigaretten auf sein Bett, ich hatte genug und ich hatte auch Geld.
"Hier, da brauchst du mich nicht immer zu fragen".
Er nahm die Schachtel und als er aufblickte, sah ich, dass er lächelte. Er setzte sich an den Tisch und begann zu rauchen. Ich widmete mich wieder Flavius Josephus.

Als das Mittagessen gebracht wurde, war die halbe Schachtel geraucht.
Nachdem die Schließer das Geschirr geholt hatten und die Zelle wieder verriegelt war, fragte er mich leise:
"Warum bist du hier?"
Ich sah ihn an. Vielleicht war er ein Spitzel. Vielleicht glaubte er das auch von mir. Nein, der ist zu fertig, dachte ich.
"Ich habe mich mit Leuten getroffen und diskutiert", sagte ich ausweichend. Er guckte mich an und mir wurde klar, dass er nichts verstand.
"Na über Politik, Gesellschaft, Sozialismus. Ich habe auch Musik gemacht, das spielt wohl mit rein."
"Musik?", fragte er.
"Ja, ich habe in einer Band gespielt, Gitarre und anderes. Eigentlich habe ich gesungen, na ja und Gedichte geschrieben und vorgetragen."
"Du bist ein Künstler", sagte er und ich musste lachen über den resignierten Ton in seiner Stimme.
"Ich bin Schlosser, die Musik war nur Hobby", lachte ich. Irgendwie schien ihn das zu beruhigen.
"Ich habe mal eine Musikkapelle im Fernseher gesehen", sagte er "aber ich versteh` nichts davon. Früher dachte ich, das ist alles wirklich." Ich sah ihn fragend an.
"Wenn ich was im Fernseher gesehen habe, dachte ich, dass es wirklich passiert."
"Du meinst die Nachrichten?"
"Nein alles."
"Du willst mich verarschen?", grinste ich, aber in seinen Augen sah ich, dass er es völlig ernst meinte.
"Meine Frau hat mir das dann erklärt, wie das ist mit den Schauspielern und so. Sie hat mich ausgelacht ... die Kinder auch, oh Manne." Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.
"Alle haben über mich gelacht." Ich schwieg betreten. Es war mir peinlich, einen erwachsenen Mann so zu sehen. Wie konnte er das sagen, hatte er keinen Stolz?
"Einmal habe ich meinem Nachbarn den Betonmischer geborgt. Er brachte ihn nicht wieder und meine Frau sagte, ich soll ihn holen, ich wäre ein Schlappschwanz sonst. Ich ging zum Nachbarn. Er sagte, der ist kaputt, den brauchst du sowieso nicht mehr und dann hat er gelacht über mich, oh Manne ... was sollte ich denn machen?"
"Er hat dich beklaut?", fragte ich.
"Nein, er war doch kaputt", antwortete er trotzig.
"Du bist ein kräftiger Kerl, warum hast du ihm keine reingehauen?" Ich fragte das ziemlich aufgebracht.
"Das ist nicht richtig, das darf man nicht." Er sagte es wie ein Kind.
"Vielleicht hast du recht, macht alles nur schlimmer", lenkte ich ein.

Die Zelle wurde geöffnet, ein Uniformierter forderte mich auf mitzukommen. Ich wurde zu einem Arzt gebracht. Er befragte mich zu meinen Beschwerden, dann wurde ich zurück gebracht. Pünktlich zum Abendbrot.
Frank hatte sich wieder die Lippen mit Zahnpasta eingeschmiert. Die Zigaretten sind alle, dachte ich sofort.
"Hilft das, wenn du nichts zu rauchen hast?"
"Oh Manne ...", stöhnte er nur.
Wir begannen zu essen. Diesmal blieb nichts auf meinem Teller und Frank war sichtlich enttäuscht. Ich überlegte, ob ich ihm eine Zigarette anbieten sollte. Wenn ich ihm noch eine Schachtel gäbe, würde er sie sicher in kürzester Zeit leeren. Ich hielt ihm die Schachtel hin. Wir rauchten. Ich widmete mich wieder Josephus. Während ich las, ging er auf und ab. Ich bot ihm von Zeit zu Zeit etwas zu rauchen an, das beruhigte ihn ein wenig.
"Nachtruhe!" Das Licht wurde gelöscht.

Nach dem Frühstück wurde die Tür geöffnet. Ein Offizier, der einen weißen Kittel umgehängt hatte, kam in die Zelle. Er sah sich kurz in der Zelle um und fragte dann, wer ich sei. Ich sagte meinen Namen. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich Frank zu. "Kommen Sie mit!" Kurz nachdem sie weg waren, wurde auch ich geholt. Man brachte mich in ein Labor und mir wurde Blut abgenommen. Als ich wieder in der Zelle war, kam eine Krankenschwester und gab mir eine braune Kapsel, die ich schlucken sollte.
"Was ist das?"
"Das müssen Sie nehmen", antwortete sie.
"Was ist das?", fragte ich noch mal. Sie war sichtlich verärgert.
"Nehmen Sie das!"
"Wer weiß, was Sie mir geben!", sagte ich "Ich nehme nichts, solange ich nicht weiß, was das ist, Ihnen traue ich alles zu!" Sie drehte sich wütend um und ging. Den Rest des Vormittags konnte ich ungestört lesen. Kurz vor dem Mittagessen kam mein Zellengenosse wieder. Ich sah ihn erwartungsvoll an.
"Was war denn das für einer?", fragte ich, während ich ihm die Zigaretten reichte.
"Ich weiß nicht, er sagt er muss mich untersuchen, weil es der Rechtsanwalt will."
"Was hat er denn untersucht?", wollte ich wissen.
"Er hat mich nur so komische Sachen gefragt", sagte Frank und sah mich ratlos an.
Das Essen kam. Während wir aßen, fragte ich ihn wieder, warum er hier sei.
"Ich habe doch nichts gemacht. Nur einmal. Da brauchten wir ein Kabel, für den Keller. Meine Frau sagte, ich soll es von der LPG mitbringen. Ich kann doch nicht stehlen, sagte ich. Sie sagte, ich soll nicht so blödes Zeug reden und die Kinder haben mich ausgelacht. Da habe ich es mitgebracht. Dann konnte ich nicht mehr schlafen." Und nach einer Pause: "Ich bin ein Dieb."
Als er das sagte, sah er verzweifelt aus, dann wurde sein Körper schlaff, seine Augen trüb. "Das darf man doch nicht", sagte er leise und abwesend. Etwas später richtete er sich wieder auf und sah zu dem Fenster aus Glasbausteinen.
"Nach einem Monat bin ich zum Gefängnis in Dessau gegangen."
"Was wolltest du denn im Gefängnis?" Ich blickte ihn ratlos an.
"Wer klaut, muss ins Gefängnis!", sagte er trotzig.
Das glaubte ich einfach nicht, aber seine Stimme, seine Augen, alles drückte aus, dass er die Wahrheit sagte.
"Hat dich einer erwischt?"
"Nein."
"Bist du zur Polizei gegangen?"
"Nein."
"Warum bist du dann zum Gefängnis gegangen?", fragte ich wieder.
"Ich dachte, wenn ich bestraft werde, kann ich wieder schlafen", sagte er leise.
"Und? Was haben die mit dir gemacht?" Ich stellte mir vor, wie er am Gefängnistor anklopfte, um den Bullen zu erklären, dass er bestraft werden wollte, und musste grinsen.
"Die wollten Papiere sehen. Ich hatte doch keine Papiere. Der am Tor fragte, ob ich Selbersteller bin."
"Selbststeller", verbesserte ich ihn.
"Aber ich weiß doch nicht, was das ist. Oh Manne. Dann hat er mich angebrüllt und weggeschickt." Ich musste unwillkürlich lachen.
"Mann, du bist ein Herzchen", grinste ich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte.
Ein Uniformierter holte das Geschirr. Anders als in der U-Haft in Halle wurden hier solche Arbeiten nicht von anderen Häftlingen erledigt. Es war, als wären Frank und ich die einzigen Gefangenen.
Als wir wieder allein waren, versuchte ich Frank zu erklären, dass man erst verurteilt sein muss, um ins Gefängnis zu kommen. Oder wenn die Polizei oder die Stasi denken, dass man was gemacht hat, wie bei uns jetzt, dann kommt man in Untersuchungshaft. Dass ein Selbststeller jemand ist, der verurteilt wurde, aber nicht mehr in Untersuchungshaft bleiben muss, weil er nur eine Kleinigkeit gemacht hat und dass der dann einen Termin bekommt, zu dem er sich im Gefängnis melden muss, um seine Strafe abzusitzen.
Ich hatte das Gefühl, er verstand mich nicht und gab es auf um wieder zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Jetzt bin ich schon wie Frank, dachte ich. Ich weiß auch nicht mehr, was ich gerade gelesen habe. So muss es ihm immer gehen. Kein Wunder, dass er keine Lust zu lesen hat. Ich hatte zwar welche, aber das nutzte mir jetzt wenig.
Noch immer hatte ich nicht erfahren, warum er eigentlich hier war. Als er wieder zum Waschbecken ging um sich die Lippen einzuschmieren, sagte ich: "Wir sind hier bei der Stasi. Das weißt du doch?"
"Ja, oh Manne ..." Ich gab ihm eine neue Schachtel Zigaretten und sah ihn erwartungsvoll an um eine weitere Erklärung von ihm zu bekommen.
"Ich wollte auch mal zur Stasi gehen, weil die von der Stasi die Republik schützen. Aber Irene sagte, wenn ich das mache, heiratet sie mich nicht."
"Irene ist der Name deiner Frau?", fragte ich.
"Ja."
"Na jetzt bist du ja bei der Stasi", sagte ich trocken. Er guckte mich traurig an:
"Ich halte das nicht aus, so ohne arbeiten."
Und nach einer Pause: "Ich war in Halle mit einem auf der Zelle, der sagte, wenn man ins richtige Gefängnis kommt, darf man arbeiten."
"Haben die von der Stasi dir gesagt, warum du hier bist?" Er schüttelte den Kopf.
"Was sagt denn dein Rechtsanwalt?", bohrte ich weiter.
"Den habe ich nur einmal gesehen, ganz kurz, da hat er mir nichts gesagt."
Irgendwie musste es doch zu erfahren sein, wie er hier reingeraten war.
"Wo bist du denn verhaftet worden?", machte ich einen neuen Anlauf.
"Bei Eisenach, mit dem Auto." Ich blickte ihn fragend an.
"Was für ein Auto?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen Führerschein hatte.
"Ich habe einen Wartburg!" Stolz klang in seiner Stimme.
"Aber die von der Stasi sagen, den nehmen sie mir jetzt weg, oh Manne ...". Er sah resigniert auf den Boden.
"Du hast einen Führerschein?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er mit Nachdruck und sah mich verwundert an. Ich fragte mich, wie er den geschafft hatte, beschloss aber nicht weiter nachzufragen, jetzt, wo ich so nah dran war, den Grund seiner Haft zu erfahren.
"Hast du einen Unfall gebaut?", fragte ich und dachte befriedigt, dass wir der Sache jetzt näher kommen. Sicher hatte er einen Unfall gebaut und aus irgendeinem Grund war er nicht in der normalen U-Haft, sondern beim Mfs gelandet.
"Ist der Wartburg sehr kaputt?", fragte ich anteilnehmend.
"Nein, wieso denn?", antwortete er und sah mich verwundert an. Ich war einen Moment sprachlos.
"Na der Unfall! Du hattest doch einen Unfall!"
"Nein, keinen Unfall", antwortete er.
Ich war keinen Schritt weiter. Ich lehnte mich auf dem Bett zurück und sagte so ruhig ich konnte: "Du hast mir doch gerade gesagt, du wurdest bei Eisenach mit dem Auto verhaftet, richtig?"
"Ja."
"Wieso, ... wieso wurdest du da verhaftet? Ich verstehe das nicht!" Er sah mich nur an, mit traurigen Augen.
"Was wolltest du denn bei Eisenach? Hast du jemanden besucht? War deine Familie dabei? Haben sie dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?"
Das klang viel gereizter, als ich es wollte. Er sah mich erschrocken an, dann senkte er den Blick und sagte leise: "Ich hab's doch nicht mehr ausgehalten."
"Was hast du nicht ausgehalten? Pinkeln zu müssen? Willst du mir im Ernst erzählen, die haben dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?" Ich war laut geworden und er schwieg verstört.

Das Abendessen kam. Es gab jeden Tag etwas anderes. Das waren wir von Halle nicht gewöhnt. Dort gab es an einem Tag Leberwurst, eine halbe Scheibe und am nächsten Tag Jagdwurst in Würfeln. Ich hatte die Würfel mal zusammengelegt. Es war auch nur eine halbe Scheibe. Dazu immer einen Löffel voll Schweineschmalz. Tagein, tagaus, seit drei Monaten.
Nach dem Essen waren wir etwas entspannter und fast zufrieden. Irgendwie war unsere kleine Welt ein wenig harmonischer. Ich beschloss, die Stimmung zu nutzen und nicht locker zu lassen.
"Jetzt mal im Ernst", ich sah ihn an, "was hast du nicht ausgehalten?" Seine Augen wurden dunkel, seine Hände bewegten sich unruhig, ziellos und zitterten dabei.
"Ich hab's versucht, ein paar Mal, aber ich konnte es doch nicht, oh Manne. Alle haben mich ausgelacht. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Die Frau, die Kinder ... auf Arbeit. Ich hab's versucht, ein paar Mal."
Er wirkte gequält und abwesend und nach einer langen Pause sagte er:
"Auf Arbeit haben sie sich unterhalten, wenn man an die Grenze geht, wird man erschossen. Ich dachte, wenn ich's nicht selber kann, fahr ich zur Grenze, da werde ich erschossen."
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.
"Du wolltest dich an der Grenze erschießen lassen?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er sehr leise.
"Du wolltest dich umbringen!?"
"Ja ... oh Manne".
Ich suchte nach Worten, irgendwas, das ich jetzt sagen konnte. Mir fiel nichts ein. Wir schwiegen. Wortlos streckte ich ihm die Schachtel mit den Zigaretten hin. Er griff abwesend zu, und als ich ihm Feuer gab, reagierte er nur mechanisch.
"Wie hast du dir das denn gedacht?", fragte ich nach einiger Zeit.
"Wolltest du hingehen und sagen: 'Erschießt mich'?"
"Ich dachte, wenn ich mit dem Auto auf die Grenze zufahre, werden sie mich erschießen", antwortete er leise.
"Und warum haben sie es nicht getan?"
"Ich weiß nicht, oh Manne", sagte er resigniert.
"Bist du denn wirklich auf den Grenzübergang zugefahren?"
"Ich wusste doch nicht, wo die Grenze ist ... Ich bin einfach gefahren, erst auf der Autobahn in Richtung Eisenach, dann auf der Landstraße. Dann sah ich einen Posten. Ich gab Gas und dachte, wenn ich jetzt durchfahre, erschießen sie mich. Als ich fast da war, sprangen sie auf die Straße mit Maschinenpistolen in den Händen. Ich dachte nur ... jetzt, jetzt schießen sie gleich. Aber sie haben nicht geschossen."
Er starrte ins Leere. Nach einer langen Pause redete er weiter.
"Irgendwann war ich in einem Dorf und da war die Straße auf einmal zu Ende. Ich hielt an, vor einem Tor und da kamen von überall Soldaten und zerrten mich aus dem Auto."
"Das war sicher nur ein Vorposten ins Sperrgebiet", sagte ich. "Das war noch nicht die Grenze. Vor der Grenze ist ein Sperrgebiet. Da darf man nur mit Sondergenehmigung rein", versuchte ich ihm zu erklären. Er sah mich verständnislos an.
"Und du bist jetzt hier, weil die denken, du wolltest in den Westen abhauen?"
"Wieso?"
"Wieso? Mensch Frank, wer zur Grenze geht, will abhauen. Auf die Idee, dass sich einer nur mal schnell erschießen lassen will, muss man erstmal kommen." Frank sagte nichts und ich schüttelte den Kopf.
"Haben sie dich gleich nach Halle zur Stasi gebracht?"
"Gera", sagte er.
"Hast du denen gesagt, dass du dich umbringen wolltest?"
"Sie haben gesagt, ich weiß schon, warum ich hier bin und ich soll am besten alles erzählen." Und nach einer Pause: "Und da dachte ich, es ist wegen dem Elektrokabel von der LPG - und habe dann alles erzählt. Sie haben mich angebrüllt. Ich soll die Wahrheit sagen."
Ich sah ihn an, er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! Ich fragte ihn trotzdem:
"Du dachtest, du bist wegen dem Kabel bei der Stasi gelandet?"
"Ich habe doch nichts anderes gemacht."
Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen wie verarscht die Stasi sich vorgekommen sein musste; ich musste laut lachen
"Haben sie dich nicht gefragt, was du im Sperrgebiet wolltest, an der Grenze?"
"Ja, aber erst viel später."
"Und?" Ich sah ihn gespannt an.
"Ich habe erzählt, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe", sagte er leise.
"Haben sie dir das geglaubt?"
Er sah mich an und senkte dann den Kopf.
"Sie fragten, wieso ich glaube, dass die DDR Menschen erschießt. Ich erzählte, dass ich das gehört habe. Sie fragten dann, ob ich damit sagen will, dass die von der Stasi und die von der Volksarmee Mörder sind ... oh Manne. Was sollte ich denn sagen?" Er machte eine lange Pause. "Dann wurde ich in einen Barkass gesteckt, so einen wie den, der uns hergebracht hat und kam nach Halle. Aber das wusste ich nicht. Als ich in Halle war, wurde ich am zweiten Tag in einen Raum gebracht, da stand ein Stuhl drin und ich musste mich draufsetzen und einer von der Stasi sagte: So jetzt werden sie erschossen ... und ich habe gedacht, jetzt erschießen sie mich ... und ich habe solche Angst gehabt. Ohh Manne ..."
Ich wusste sofort, was er meinte. Im 'Roten Ochsen', der Stasi U-Haft in Halle, gab es im Keller einen Raum, in dem die Häftlinge fotografiert wurden. Diese 'Verbrecherfotos', die jeder schon einmal gesehen hat. Man musste sich auf einen Stuhl setzten, der auf ein Podest montiert war. Wenn die Aufnahmen im Profil gemacht werden sollten, betätigte der Fotograf, ein Stasimann in Uniform, einen Hebel und über eine Mechanik wurde der gesamte Stuhl ruckelnd und geräuschvoll um 90°gedreht.
"Und dann zog er an einem Hebel und ich bekam so einen Schreck. Ich dachte, dass sie jetzt schießen, ich habe in die Hose gemacht ... oh Manne ... und die von der Stasi lachten wie verrückt." Er begann zu weinen. Ich ging zu ihm und legte meinen Arm um seine Schultern. Eine unbändige Wut war in mir. Und ich sagte nur immer wieder: "Diese Schweine, diese Schweine".

Nachdem wir das Frühstück am nächsten Morgen beendet hatten, fragte ich ihn: "Willst du dir immer noch das Leben nehmen?"
"Nein", sagte er. "Ich will nur arbeiten ... ich kann nicht ohne arbeiten".
Er wird wohl bald wieder arbeiten, dachte ich, sie werden ihn sicher bald rauslassen, zumal er ja offensichtlich hier war, um von einem Psychiater beurteilt zu werden. Und ich sagte: "Frank, so schlimm das alles war, du kommst sicher bald hier raus und dann wird alles wieder gut. Dann kannst du arbeiten, bis du
umfällst.", und dann grinste ich ihn an. Er sah mich ungläubig an und seine Augen leuchteten hoffnungsvoll:
"Meinst du wirklich?"
"Ja!"
Die Tür wurde geöffnet und man forderte mich auf mitzukommen. Ich warf ihm noch ein Lächeln zu, als ich mich in der Tür umdrehte.
Ich wurde abermals zu einem Arzt gebracht, der mir eine Packung mit den braunen Kapseln zeigte, die ich abgelehnt hatte einzunehmen. Es war Tetrazyklin, ein Antibiotikum. Er erklärte mir, dass es wichtig sei, dass ich sie nähme. Dann eröffnete er mir, dass ich operiert werden sollte. Der Knoten am Hals würde entfernt werden. Ich war einverstanden. Als ich am Nachmittag wieder auf die Zelle gebracht wurde, war ich allein. Das Bett von Frank war frisch bezogen und akkurat gemacht, nichts deutete darauf hin, dass er zurückkommen würde oder jemals hier war.
Am nächsten Morgen wurde ein neuer Häftling in die Zelle gebracht, jünger als ich, gerade mal 20 Jahre alt. Er war ganz anders als Frank. Wir lachten viel und die Zeit verging sehr schnell. Fast zu schnell, ich hatte die Befürchtung, dass ich den Flavius Josephus nicht schaffen würde, zumal am Tag nach der Operation mein Vernehmer aus dem "Roten Ochsen" auftauchte und ich wieder jeden Tag vernommen wurde. Zwei Wochen später wurde ich nach Halle zurückgebracht. Offensichtlich war die Stasi jetzt dabei, den Prozess vorzubereiten. Ich sah zum ersten Mal meinen Rechtsanwalt. Die zwei fehlenden Bände der Josephus Trilogie konnte ich zum Glück in Halle auch bekommen und lesen. Das Essen bestand wieder abwechselnd aus einer halben Scheibe Leberwurst und einer halben Scheibe Jagdwurst, gewürfelt.

Nach dem Prozess und der Verurteilung wurde ich in die Justizvollzugsanstalt Cottbus verlegt. Wir mussten in einem Drei-Schichtsystem arbeiten. Als Schlosser, der im Werkzeugmaschinenbau beschäftigt war, arbeitete ich in einer Werkstatt.

Ich war seit etwa einem Jahr in Cottbus. Es war ein warmer Sommermorgen und das 'Kommando', in dem ich arbeitete, hatte Frühschicht.
Manchmal begegnete die Frühschicht, wenn sie am Morgen zum Frühstück in den Speisesaal geführt wurde, der Nachtschicht, die gerade mit dem Frühstück fertig war. So war es an diesem Morgen. Während die hungrige Frühschicht in den Speisesaal flutete, strömte die Nachtschicht hinaus. Plötzlich war in dem Durcheinander ein Gesicht vor mir. Es strahlte mich an und ich erkannte ihn sofort.
"Frank?", sagte ich ungläubig. Er grinste nur.
"Wieso bist du hier? Haben sie dich denn nicht freigelassen?", fragte ich überrascht.
"Ich habe drei Jahre bekommen, wegen Republikflucht" antwortete er, immer noch grinsend.
"Wie geht es dir?", ich fragte, obwohl ich sehen konnte, wie es ihm ging.
"Mir geht es gut, ich kann arbeiten. Das ist das Wichtigste."
Der Strom der Häftlinge riss uns auseinander.
"Alles Gute", rief ich ihm nach, während er ins Freie gespült wurde.
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Frank (Gefängnis 1)

Nach der absoluten Dunkelheit während der Fahrt blendete mich das Tageslicht für einen Moment. Die Handschellen, obwohl nicht übermäßig eng angelegt, spürte ich schmerzhaft bei jeder Bewegung. Vom stundenlangen Sitzen in der kleinen Kabine waren meine Beine steif.
"Gesicht zur Wand!"
Ich wurde vor eine grau verputzte Mauer geschoben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass noch jemand aus dem Kleinbus geholt und neben mich gestellt wurde.
Die Bewacher hatten sich einige Meter entfernt und es war, als wären wir allein.
"Psst ...", zischte ich zu dem Mann neben mir,
"Psst ... weißt du wo wir sind?"
Keine Antwort. Er schien zu versteinern und starrte verbissen auf seine Füße.
Ich ärgerte mich und fragte etwas lauter: "Was ist los mit dir?"
"Halten Sie den Mund!", bellte eine Stimme von hinten.

Die Zelle war geräumig, es standen richtige Betten darin, und es war hell; die Glasbausteine des "Fensters" nahmen fast die gesamte Wand ein. Eine weiß gekleidete Frau betrat den Raum und wollte meinen Blutdruck messen, ein Uniformierter blieb breitbeinig in der Tür stehen.
Ein Krankenhaus! In ein Krankenhaus hatten sie mich also gebracht.
Seit sie mich vor drei Monaten verhafteten, gab es keinen Kontakt zur Außenwelt. Kein Besuch, kein Rechtsanwalt, keine Briefe.
Damals, in der Nacht, als sie mich in einen am Straßenrand knatternden Wartburg zerrten, war ich bereits seit Wochen krank geschrieben. Nicht, dass ich mich krank fühlte, aber ich hatte eine kleine Beule am Hals. Tat nicht weh und beeinträchtigte mich auch sonst nicht. Aber sie war da. Ich sagte den Ärzten jedes Mal: "Ich habe Krebs und ich arbeite nicht mehr. Erst wenn Sie mir sagen, was das ist, gehe ich wieder arbeiten." So hatte ich mir die Krankschreibung und zu guter Letzt eine Überweisung in die Uniklinik ertrotzt. Dort sagten sie, nachdem sie es punktiert hatten, es wäre gefährlich, kein Krebs wahrscheinlich, aber gefährlich.
"Es muss sofort raus! Lassen Sie sich einen Termin für die Operation geben."
Die Schwester, welche die Termine vergab, riet mir jedes halbe Jahr nachzufragen, ob ich schon dran sei. Ich musste lachen, bis ich kapierte, dass es kein Scherz war. Als ich zwei Tage später festgenommen wurde, war meine Aufmerksamkeit auf alles andere gerichtet. Ich habe es dem Gefängnisarzt zwar erzählt, aber danach habe ich es einfach vergessen. Sie haben es scheinbar nicht vergessen.

Die Tür wurde wieder geöffnet und sie brachten den Mann herein, der neben mir an der Wand gestanden hatte.

Dann waren wir allein. Er sah mich nicht an. Ich war mir nicht mal sicher, dass er mich bemerkte. Ich sagte meinen Namen und streckte ihm die Hand entgegen.
Wie schon draußen, vor der grauen Wand, sah er mich nicht an und antwortete nicht. Plötzlich sprang er auf, ging zum Waschbecken und beschmierte sich die Lippen mit Zahnpasta. Ich schaute ihm verwundert zu und legte mich auf eines der Betten. "Warum machst du das?"
Keine Antwort. Mit einer fragenden Geste streckte ich ihm die Zigaretten entgegen. Er riss sie mir fast aus der Hand. Als ich ihm die Streichhölzer gab, zitterte er so stark, dass die Zigarette, die er mühsam aus der Packung gefummelt hatte, herunterfiel. Als sie endlich brannte, rauchte er mit hastigen Zügen und sah die ganze Zeit auf die Glasbausteine. Es blieb nur der Filter übrig. Dann versteinerte er wieder.
"Wie heißt du?", fragte ich ihn.
Keine Reaktion. Das kann ja heiter werden, dachte ich und schloss die Augen.

Das Abendessen wurde gebracht. Es war viel besser als die letzten Monate. Mein Mitbewohner schlang schnell alles in sich hinein und schielte dann mit unverkennbarer Gier nach den Resten meines Essens. Um seinen Mund waren noch Spuren der Zahnpaste, die er sich immer wieder auf die Lippen geschmiert hatte. Wortlos schob ich den Teller ein paar Zentimeter in seine Richtung. Als er seine Hand ausstreckte, zog ich ihn zurück und fragte: "Wie heißt du?"
"Frank", stieß er hervor und griff energisch zu.
"Oh Manne", seufzte er, nachdem er alles gegessen hatte. Ich bot ihm wieder eine Zigarette an. Er sah mich einen Moment lang an, sein Blick war unstet, flackerte wie verlöschende kleine Kerzen, trotzdem glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu erkennen.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, das wortlos geblieben war, rauchten wir, weiter schweigend, meine Zigaretten. Dann begann er im Raum auf und ab zu laufen; ich versuchte zu lesen. Den ersten Band der Josephus Trilogie von Lion Feuchtwanger. Er ging auf einem imaginären Pfad, dem er unerschütterlich folgte. Das erinnerte mich an einen Fuchs, den ich mal im Zoo gesehen hatte. Ich konnte mich nicht auf das Buch konzentrieren.
"Willst du nicht auch was lesen?" Er antwortete nicht.
"Die Zeitung vielleicht?" Er blieb stehen und sah mich an.
"Ich kann nicht, oh Manne", sagte er.
"Wie, du kannst nicht?"
"Ich versteh's nicht."
"Was gibt's da zu verstehen?"
"Wenn ich eine Zeile gelesen habe, dann habe ich den Anfang schon wieder vergessen". Ich musterte ihn ungläubig.
"Aber du kannst doch lesen?"
"Ja, aber ich versteh's nicht!" Er begann wieder auf und ab zu gehen.
"Bist du zu aufgeregt jetzt - zum Lesen? Verstehst du es nicht, weil dir so viel durch den Kopf geht?"
"Nein, oh Manne, ich will arbeiten. Ich kann nicht ohne arbeiten", brach es aus ihm heraus.
"Als was hast du gearbeitet?"
"Melker."
"Auf der LPG?", fragte ich, um das Gespräch in Gang zu halten.
"Ja, 200 Kühe, ich habe nie gefehlt." Und nach einer Pause: "Ich halte das nicht aus, oh Manne, ... ohne arbeiten."
"Na dann lies doch was", sagte ich wieder.
"Ich kann doch nicht, oh Manne", stieß er gequält hervor.
Er sah zu meinen Zigaretten.
"Gibst du mir noch eine?"
Ich nickte und er griff schnell nach der Schachtel auf dem Tisch. Er tat mir Leid und ich sagte: "Wir fragen mal, wann du welche kaufen kannst."
Er sehr leise: "Ich habe doch kein Geld, oh Manne."
"Hast du niemanden draußen?" Er sah mich an, als verstünde er die Frage nicht.
"Eine Frau? Eltern? Irgendjemand?"
"Doch, Frau und zwei Kinder." Er setzte sich auf sein Bett und sah zu den Glasbausteinen.
"Schickt die dir kein Geld?"
"Nein, sie will sich scheiden lassen." Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen können. Alles, was mir einfiel, war: "Wie lange bist du schon hier drin?"
"Drei Monate?" Es klang wie eine Frage.
"Weißt du das nicht?"
"Oh Manne ...", stöhnte er wieder.
Ich warf eine Schachtel Zigaretten auf sein Bett, ich hatte genug und ich hatte auch Geld.
"Hier, da brauchst du mich nicht immer zu fragen".
Er nahm die Schachtel und als er aufblickte, sah ich, dass er lächelte. Er setzte sich an den Tisch und begann zu rauchen. Ich widmete mich wieder Flavius Josephus.

Als das Mittagessen gebracht wurde, war die halbe Schachtel geraucht.
Nachdem die Schließer das Geschirr geholt hatten und die Zelle wieder verriegelt war, fragte er mich leise:
"Warum bist du hier?"
Ich sah ihn an. Vielleicht war er ein Spitzel. Vielleicht glaubte er das auch von mir. Nein, der ist zu fertig, dachte ich.
"Ich habe mich mit Leuten getroffen und diskutiert", sagte ich ausweichend. Er guckte mich an und mir wurde klar, dass er nichts verstand.
"Na über Politik, Gesellschaft, Sozialismus. Ich habe auch Musik gemacht, das spielt wohl mit rein."
"Musik?", fragte er.
"Ja, ich habe in einer Band gespielt, Gitarre und anderes. Eigentlich habe ich gesungen, na ja und Gedichte geschrieben und vorgetragen."
"Du bist ein Künstler", sagte er und ich musste lachen über den resignierten Ton in seiner Stimme.
"Ich bin Schlosser, die Musik war nur Hobby", lachte ich. Irgendwie schien ihn das zu beruhigen.
"Ich habe mal eine Musikkapelle im Fernseher gesehen", sagte er "aber ich versteh` nichts davon. Früher dachte ich, das ist alles wirklich." Ich sah ihn fragend an.
"Wenn ich was im Fernseher gesehen habe, dachte ich, dass es wirklich passiert."
"Du meinst die Nachrichten?"
"Nein alles."
"Du willst mich verarschen?", grinste ich, aber in seinen Augen sah ich, dass er es völlig ernst meinte.
"Meine Frau hat mir das dann erklärt, wie das ist mit den Schauspielern und so. Sie hat mich ausgelacht ... die Kinder auch, oh Manne." Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.
"Alle haben über mich gelacht." Ich schwieg betreten. Es war mir peinlich, einen erwachsenen Mann so zu sehen. Wie konnte er das sagen, hatte er keinen Stolz?
"Einmal habe ich meinem Nachbarn den Betonmischer geborgt. Er brachte ihn nicht wieder und meine Frau sagte, ich soll ihn holen, ich wäre ein Schlappschwanz sonst. Ich ging zum Nachbarn. Er sagte, der ist kaputt, den brauchst du sowieso nicht mehr und dann hat er gelacht über mich, oh Manne ... was sollte ich denn machen?"
"Er hat dich beklaut?", fragte ich.
"Nein, er war doch kaputt", antwortete er trotzig.
"Du bist ein kräftiger Kerl, warum hast du ihm keine reingehauen?" Ich fragte das ziemlich aufgebracht.
"Das ist nicht richtig, das darf man nicht." Er sagte es wie ein Kind.
"Vielleicht hast du recht, macht alles nur schlimmer", lenkte ich ein.

Die Zelle wurde geöffnet, ein Uniformierter forderte mich auf mitzukommen. Ich wurde zu einem Arzt gebracht. Er stellte sich nicht vor und begrüßte mich nicht, befragte mich zu meinen Beschwerden und verließ, ohne ein weiteres Wort, den Raum. Pünktlich zum Abendbrot war ich zurück in der Zelle.
Frank hatte sich wieder die Lippen mit Zahnpasta eingeschmiert. Die Zigaretten sind alle, dachte ich sofort.
"Hilft das, wenn du nichts zu rauchen hast?"
"Oh Manne ...", stöhnte er nur.
Wir begannen zu essen. Diesmal blieb nichts auf meinem Teller und Frank war sichtlich enttäuscht. Ich überlegte, ob ich ihm eine Zigarette anbieten sollte. Wenn ich ihm noch eine Schachtel gäbe, würde er sie sicher in kürzester Zeit leeren. Ich hielt ihm die Schachtel hin. Wir rauchten. Ich widmete mich wieder Josephus. Während ich las, ging er auf und ab. Ich bot ihm von Zeit zu Zeit etwas zu rauchen an, das beruhigte ihn ein wenig.
"Nachtruhe!" Das Licht wurde gelöscht.

Nach dem Frühstück wurde die Tür geöffnet. Ein Offizier, der einen weißen Kittel umgehängt hatte, kam in die Zelle. Er sah sich kurz in der Zelle um und fragte dann, wer ich sei. Ich sagte meinen Namen. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich Frank zu. "Kommen Sie mit!" Kurz nachdem sie weg waren, wurde auch ich geholt. Man brachte mich in ein Labor und mir wurde Blut abgenommen. Als ich wieder in der Zelle war, kam eine Krankenschwester und gab mir eine braune Kapsel, die ich schlucken sollte.
"Was ist das?"
"Das müssen Sie nehmen", antwortete sie.
"Was ist das?", fragte ich noch mal. Sie war sichtlich verärgert.
"Nehmen Sie das!"
"Wer weiß, was Sie mir geben!", sagte ich "Ich nehme nichts, solange ich nicht weiß, was das ist, Ihnen traue ich alles zu!" Sie drehte sich wütend um und ging. Den Rest des Vormittags konnte ich ungestört lesen. Kurz vor dem Mittagessen kam mein Zellengenosse wieder. Ich sah ihn erwartungsvoll an.
"Was war denn das für einer?", fragte ich, während ich ihm die Zigaretten reichte.
"Ich weiß nicht, er sagt er muss mich untersuchen, weil es der Rechtsanwalt will."
"Was hat er denn untersucht?", wollte ich wissen.
"Er hat mich nur so komische Sachen gefragt", sagte Frank und sah mich ratlos an.
Das Essen kam. Während wir aßen, fragte ich ihn wieder, warum er hier sei.
"Ich habe doch nichts gemacht. Nur einmal. Da brauchten wir ein Kabel, für den Keller. Meine Frau sagte, ich soll es von der LPG mitbringen. Ich kann doch nicht stehlen, sagte ich. Sie sagte, ich soll nicht so blödes Zeug reden und die Kinder haben mich ausgelacht. Da habe ich es mitgebracht. Dann konnte ich nicht mehr schlafen." Und nach einer Pause: "Ich bin ein Dieb."
Als er das sagte, sah er verzweifelt aus, dann wurde sein Körper schlaff, seine Augen trüb. "Das darf man doch nicht", sagte er leise und abwesend. Etwas später richtete er sich wieder auf und sah zu dem Fenster aus Glasbausteinen.
"Nach einem Monat bin ich zum Gefängnis in Dessau gegangen."
"Was wolltest du denn im Gefängnis?" Ich blickte ihn ratlos an.
"Wer klaut, muss ins Gefängnis!", sagte er trotzig.
Das glaubte ich einfach nicht, aber seine Stimme, seine Augen, alles drückte aus, dass er die Wahrheit sagte.
"Hat dich einer erwischt?"
"Nein."
"Bist du zur Polizei gegangen?"
"Nein."
"Warum bist du dann zum Gefängnis gegangen?", fragte ich wieder.
"Ich dachte, wenn ich bestraft werde, kann ich wieder schlafen", sagte er leise.
"Und? Was haben die mit dir gemacht?" Ich stellte mir vor, wie er am Gefängnistor anklopfte, um den Bullen zu erklären, dass er bestraft werden wollte, und musste grinsen.
"Die wollten Papiere sehen. Ich hatte doch keine Papiere. Der am Tor fragte, ob ich Selbersteller bin."
"Selbststeller", verbesserte ich ihn.
"Aber ich weiß doch nicht, was das ist. Oh Manne. Dann hat er mich angebrüllt und weggeschickt." Ich musste unwillkürlich lachen.
"Mann, du bist ein Herzchen", grinste ich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte.
Ein Uniformierter holte das Geschirr. Anders als in der U-Haft in Halle wurden hier solche Arbeiten nicht von anderen Häftlingen erledigt. Es war, als wären Frank und ich die einzigen Gefangenen.
Als wir wieder allein waren, versuchte ich Frank zu erklären, dass man erst verurteilt sein muss, um ins Gefängnis zu kommen. Oder wenn die Polizei oder die Stasi denken, dass man was gemacht hat, wie bei uns jetzt, dann kommt man in Untersuchungshaft. Dass ein Selbststeller jemand ist, der verurteilt wurde, aber nicht mehr in Untersuchungshaft bleiben muss, weil er nur eine Kleinigkeit gemacht hat und dass der dann einen Termin bekommt, zu dem er sich im Gefängnis melden muss, um seine Strafe abzusitzen.
Ich hatte das Gefühl, er verstand mich nicht und gab es auf um wieder zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Jetzt bin ich schon wie Frank, dachte ich. Ich weiß auch nicht mehr, was ich gerade gelesen habe. So muss es ihm immer gehen. Kein Wunder, dass er keine Lust zu lesen hat. Ich hatte zwar welche, aber das nutzte mir jetzt wenig.
Noch immer hatte ich nicht erfahren, warum er eigentlich hier war. Als er wieder zum Waschbecken ging um sich die Lippen einzuschmieren, sagte ich: "Wir sind hier bei der Stasi. Das weißt du doch?"
"Ja, oh Manne ..." Ich gab ihm eine neue Schachtel Zigaretten und sah ihn erwartungsvoll an um eine weitere Erklärung von ihm zu bekommen.
"Ich wollte auch mal zur Stasi gehen, weil die von der Stasi die Republik schützen. Aber Irene sagte, wenn ich das mache, heiratet sie mich nicht."
"Irene ist der Name deiner Frau?", fragte ich.
"Ja."
"Na jetzt bist du ja bei der Stasi", sagte ich trocken. Er guckte mich traurig an:
"Ich halte das nicht aus, so ohne arbeiten."
Und nach einer Pause: "Ich war in Halle mit einem auf der Zelle, der sagte, wenn man ins richtige Gefängnis kommt, darf man arbeiten."
"Haben die von der Stasi dir gesagt, warum du hier bist?" Er schüttelte den Kopf.
"Was sagt denn dein Rechtsanwalt?", bohrte ich weiter.
"Den habe ich nur einmal gesehen, ganz kurz, da hat er mir nichts gesagt."
Irgendwie musste es doch zu erfahren sein, wie er hier reingeraten war.
"Wo bist du denn verhaftet worden?", machte ich einen neuen Anlauf.
"Bei Eisenach, mit dem Auto." Ich blickte ihn fragend an.
"Was für ein Auto?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen Führerschein hatte.
"Ich habe einen Wartburg!" Stolz klang in seiner Stimme.
"Aber die von der Stasi sagen, den nehmen sie mir jetzt weg, oh Manne ...". Er sah resigniert auf den Boden.
"Du hast einen Führerschein?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er mit Nachdruck und sah mich verwundert an. Ich fragte mich, wie er den geschafft hatte, beschloss aber nicht weiter nachzufragen, jetzt, wo ich so nah dran war, den Grund seiner Haft zu erfahren.
"Hast du einen Unfall gebaut?", fragte ich und dachte befriedigt, dass wir der Sache jetzt näher kommen. Sicher hatte er einen Unfall gebaut und aus irgendeinem Grund war er nicht in der normalen U-Haft, sondern beim Mfs gelandet.
"Ist der Wartburg sehr kaputt?", fragte ich anteilnehmend.
"Nein, wieso denn?", antwortete er und sah mich verwundert an. Ich war einen Moment sprachlos.
"Na der Unfall! Du hattest doch einen Unfall!"
"Nein, keinen Unfall", antwortete er.
Ich war keinen Schritt weiter. Ich lehnte mich auf dem Bett zurück und sagte so ruhig ich konnte: "Du hast mir doch gerade gesagt, du wurdest bei Eisenach mit dem Auto verhaftet, richtig?"
"Ja."
"Wieso, ... wieso wurdest du da verhaftet? Ich verstehe das nicht!" Er sah mich nur an, mit traurigen Augen.
"Was wolltest du denn bei Eisenach? Hast du jemanden besucht? War deine Familie dabei? Haben sie dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?"
Das klang viel gereizter, als ich es wollte. Er sah mich erschrocken an, dann senkte er den Blick und sagte leise: "Ich hab's doch nicht mehr ausgehalten."
"Was hast du nicht ausgehalten? Pinkeln zu müssen? Willst du mir im Ernst erzählen, die haben dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?" Ich war laut geworden und er schwieg verstört.

Das Abendessen kam. Es gab jeden Tag etwas anderes. Das waren wir von Halle nicht gewöhnt. Dort gab es an einem Tag Leberwurst, eine halbe Scheibe und am nächsten Tag Jagdwurst in Würfeln. Ich hatte die Würfel mal zusammengelegt. Es war auch nur eine halbe Scheibe. Dazu immer einen Löffel voll Schweineschmalz. Tagein, tagaus, seit drei Monaten.
Nach dem Essen waren wir etwas entspannter und fast zufrieden. Irgendwie war unsere kleine Welt ein wenig harmonischer. Ich beschloss, die Stimmung zu nutzen und nicht locker zu lassen.
"Jetzt mal im Ernst", ich sah ihn an, "was hast du nicht ausgehalten?" Seine Augen wurden dunkel, seine Hände bewegten sich unruhig, ziellos und zitterten dabei.
"Ich hab's versucht, ein paar Mal, aber ich konnte es doch nicht, oh Manne. Alle haben mich ausgelacht. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Die Frau, die Kinder ... auf Arbeit. Ich hab's versucht, ein paar Mal."
Er wirkte gequält und abwesend und nach einer langen Pause sagte er:
"Auf Arbeit haben sie sich unterhalten, wenn man an die Grenze geht, wird man erschossen. Ich dachte, wenn ich's nicht selber kann, fahr ich zur Grenze, da werde ich erschossen."
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.
"Du wolltest dich an der Grenze erschießen lassen?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er sehr leise.
"Du wolltest dich umbringen!?"
"Ja ... oh Manne".
Ich suchte nach Worten, irgendwas, das ich jetzt sagen konnte. Mir fiel nichts ein. Wir schwiegen. Wortlos streckte ich ihm die Schachtel mit den Zigaretten hin. Er griff abwesend zu, und als ich ihm Feuer gab, reagierte er nur mechanisch.
"Wie hast du dir das denn gedacht?", fragte ich nach einiger Zeit.
"Wolltest du hingehen und sagen: 'Erschießt mich'?"
"Ich dachte, wenn ich mit dem Auto auf die Grenze zufahre, werden sie mich erschießen", antwortete er leise.
"Und warum haben sie es nicht getan?"
"Ich weiß nicht, oh Manne", sagte er resigniert.
"Bist du denn wirklich auf den Grenzübergang zugefahren?"
"Ich wusste doch nicht, wo die Grenze ist ... Ich bin einfach gefahren, erst auf der Autobahn in Richtung Eisenach, dann auf der Landstraße. Dann sah ich einen Posten. Ich gab Gas und dachte, wenn ich jetzt durchfahre, erschießen sie mich. Als ich fast da war, sprangen sie auf die Straße mit Maschinenpistolen in den Händen. Ich dachte nur ... jetzt, jetzt schießen sie gleich. Aber sie haben nicht geschossen."
Er starrte ins Leere. Nach einer langen Pause redete er weiter.
"Irgendwann war ich in einem Dorf und da war die Straße auf einmal zu Ende. Ich hielt an, vor einem Tor und da kamen von überall Soldaten und zerrten mich aus dem Auto."
"Das war sicher nur ein Vorposten ins Sperrgebiet", sagte ich. "Das war noch nicht die Grenze. Vor der Grenze ist ein Sperrgebiet. Da darf man nur mit Sondergenehmigung rein", versuchte ich ihm zu erklären. Er sah mich verständnislos an.
"Und du bist jetzt hier, weil die denken, du wolltest in den Westen abhauen?"
"Wieso?"
"Wieso? Mensch Frank, wer zur Grenze geht, will abhauen. Auf die Idee, dass sich einer nur mal schnell erschießen lassen will, muss man erstmal kommen." Frank sagte nichts und ich schüttelte den Kopf.
"Haben sie dich gleich nach Halle zur Stasi gebracht?"
"Gera", sagte er.
"Hast du denen gesagt, dass du dich umbringen wolltest?"
"Sie haben gesagt, ich weiß schon, warum ich hier bin und ich soll am besten alles erzählen." Und nach einer Pause: "Und da dachte ich, es ist wegen dem Elektrokabel von der LPG - und habe dann alles erzählt. Sie haben mich angebrüllt. Ich soll die Wahrheit sagen."
Ich sah ihn an, er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! Ich fragte ihn trotzdem:
"Du dachtest, du bist wegen dem Kabel bei der Stasi gelandet?"
"Ich habe doch nichts anderes gemacht."
Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen wie verarscht die Stasi sich vorgekommen sein musste; ich musste laut lachen
"Haben sie dich nicht gefragt, was du im Sperrgebiet wolltest, an der Grenze?"
"Ja, aber erst viel später."
"Und?" Ich sah ihn gespannt an.
"Ich habe erzählt, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe", sagte er leise.
"Haben sie dir das geglaubt?"
Er sah mich an und senkte dann den Kopf.
"Sie fragten, wieso ich glaube, dass die DDR Menschen erschießt. Ich erzählte, dass ich das gehört habe. Sie fragten dann, ob ich damit sagen will, dass die von der Stasi und die von der Volksarmee Mörder sind ... oh Manne. Was sollte ich denn sagen?" Er machte eine lange Pause. "Dann wurde ich in einen Barkass gesteckt, so einen wie den, der uns hergebracht hat und kam nach Halle. Aber das wusste ich nicht. Als ich in Halle war, wurde ich am zweiten Tag in einen Raum gebracht, da stand ein Stuhl drin und ich musste mich draufsetzen und einer von der Stasi sagte: So jetzt werden sie erschossen ... und ich habe gedacht, jetzt erschießen sie mich ... und ich habe solche Angst gehabt. Ohh Manne ..."
Ich wusste sofort, was er meinte. Im 'Roten Ochsen', der Stasi U-Haft in Halle, gab es im Keller einen Raum, in dem die Häftlinge fotografiert wurden. Diese 'Verbrecherfotos', die jeder schon einmal gesehen hat. Man musste sich auf einen Stuhl setzten, der auf ein Podest montiert war. Wenn die Aufnahmen im Profil gemacht werden sollten, betätigte der Fotograf, ein Stasimann in Uniform, einen Hebel und über eine Mechanik wurde der gesamte Stuhl ruckelnd und geräuschvoll um 90°gedreht.
"Und dann zog er an einem Hebel und ich bekam so einen Schreck. Ich dachte, dass sie jetzt schießen, ich habe in die Hose gemacht ... oh Manne ... und die von der Stasi lachten wie verrückt." Er begann zu weinen. Ich ging zu ihm und legte meinen Arm um seine Schultern. Eine unbändige Wut war in mir. Und ich sagte nur immer wieder: "Diese Schweine, diese Schweine".

Nachdem wir das Frühstück am nächsten Morgen beendet hatten, fragte ich ihn: "Willst du dir immer noch das Leben nehmen?"
"Nein", sagte er. "Ich will nur arbeiten ... ich kann nicht ohne arbeiten".
Er wird wohl bald wieder arbeiten, dachte ich, sie werden ihn sicher bald rauslassen, zumal er ja offensichtlich hier war, um von einem Psychiater beurteilt zu werden. Und ich sagte: "Frank, so schlimm das alles war, du kommst sicher bald hier raus und dann wird alles wieder gut. Dann kannst du arbeiten, bis du
umfällst.", und dann grinste ich ihn an. Er sah mich ungläubig an und seine Augen leuchteten hoffnungsvoll:
"Meinst du wirklich?"
"Ja!"
Die Tür wurde geöffnet und man forderte mich auf mitzukommen. Ich warf ihm noch ein Lächeln zu, als ich mich in der Tür umdrehte.
Ich wurde abermals zu einem Arzt gebracht, der mir eine Packung mit den braunen Kapseln zeigte, die ich abgelehnt hatte einzunehmen. Es war Tetrazyklin, ein Antibiotikum. Er erklärte mir, dass es wichtig sei, dass ich sie nähme. Dann eröffnete er mir, dass ich operiert werden sollte. Der Knoten am Hals würde entfernt werden. Ich war einverstanden. Als ich am Nachmittag wieder auf die Zelle gebracht wurde, war ich allein. Das Bett von Frank war frisch bezogen und akkurat gemacht, nichts deutete darauf hin, dass er zurückkommen würde oder jemals hier war.
Am nächsten Morgen wurde ein neuer Häftling in die Zelle gebracht, jünger als ich, gerade mal 20 Jahre alt. Er war ganz anders als Frank. Wir lachten viel und die Zeit verging sehr schnell. Fast zu schnell, ich hatte die Befürchtung, dass ich den Flavius Josephus nicht schaffen würde, zumal am Tag nach der Operation mein Vernehmer aus dem "Roten Ochsen" auftauchte und ich wieder jeden Tag vernommen wurde. Zwei Wochen später wurde ich nach Halle zurückgebracht. Offensichtlich war die Stasi jetzt dabei, den Prozess vorzubereiten. Ich sah zum ersten Mal meinen Rechtsanwalt. Die zwei fehlenden Bände der Josephus Trilogie konnte ich zum Glück in Halle auch bekommen und lesen. Das Essen bestand wieder abwechselnd aus einer halben Scheibe Leberwurst und einer halben Scheibe Jagdwurst, gewürfelt.

Nach dem Prozess und der Verurteilung wurde ich in die Justizvollzugsanstalt Cottbus verlegt. Wir mussten in einem Drei-Schichtsystem arbeiten. Als Schlosser, der im Werkzeugmaschinenbau beschäftigt war, arbeitete ich in einer Werkstatt.

Ich war seit etwa einem Jahr in Cottbus. Es war ein warmer Sommermorgen und das 'Kommando', in dem ich arbeitete, hatte Frühschicht.
Manchmal begegnete die Frühschicht, wenn sie am Morgen zum Frühstück in den Speisesaal geführt wurde, der Nachtschicht, die gerade mit dem Frühstück fertig war. So war es an diesem Morgen. Während die hungrige Frühschicht in den Speisesaal flutete, strömte die Nachtschicht hinaus. Plötzlich war in dem Durcheinander ein Gesicht vor mir. Es strahlte mich an und ich erkannte ihn sofort.
"Frank?", sagte ich ungläubig. Er grinste nur.
"Wieso bist du hier? Haben sie dich denn nicht freigelassen?", fragte ich überrascht.
"Ich habe drei Jahre bekommen, wegen Republikflucht" antwortete er, immer noch grinsend.
"Wie geht es dir?", ich fragte, obwohl ich sehen konnte, wie es ihm ging.
"Mir geht es gut, ich kann arbeiten. Das ist das Wichtigste."
Der Strom der Häftlinge riss uns auseinander.
"Alles Gute", rief ich ihm nach, während er ins Freie gespült wurde.
 



 
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