Frank (Gefängnis 1)
Nach der absoluten Dunkelheit während der Fahrt blendete mich das Tageslicht für einen Moment. Die Handschellen, obwohl nicht übermäßig eng angelegt, spürte ich schmerzhaft bei jeder Bewegung. Vom stundenlangen Sitzen in der kleinen Kabine waren meine Beine steif.
"Gesicht zur Wand!"
Ich wurde vor eine grau verputzte Mauer geschoben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass noch jemand aus dem Kleinbus geholt und neben mich gestellt wurde.
Die Bewacher hatten sich einige Meter entfernt und es war, als wären wir allein.
"Psst ...", zischte ich zu dem Mann neben mir,
"Psst ... weißt du wo wir sind?"
Keine Antwort. Er schien zu versteinern und starrte verbissen auf seine Füße.
Ich ärgerte mich und fragte etwas lauter: "Was ist los mit dir?"
"Halten Sie den Mund!", bellte eine Stimme von hinten.
Die Zelle war geräumig, es standen richtige Betten darin, und es war hell; die Glasbausteine des "Fensters" nahmen fast die gesamte Wand ein. Eine weiß gekleidete Frau betrat den Raum und wollte meinen Blutdruck messen, ein Uniformierter blieb breitbeinig in der Tür stehen.
Ein Krankenhaus! In ein Krankenhaus hatten sie mich also gebracht.
Seit sie mich vor drei Monaten verhafteten, gab es keinen Kontakt zur Außenwelt. Kein Besuch, kein Rechtsanwalt, keine Briefe.
Damals, in der Nacht, als sie mich in einen am Straßenrand knatternden Wartburg zerrten, war ich bereits seit Wochen krank geschrieben. Nicht, dass ich mich krank fühlte, aber ich hatte eine kleine Beule am Hals. Tat nicht weh und beeinträchtigte mich auch sonst nicht. Aber sie war da. Ich sagte den Ärzten jedes Mal: "Ich habe Krebs und ich arbeite nicht mehr. Erst wenn Sie mir sagen, was das ist, gehe ich wieder arbeiten." So hatte ich mir die Krankschreibung und zu guter Letzt eine Überweisung in die Uniklinik ertrotzt. Dort sagten sie, nachdem sie es punktiert hatten, es wäre gefährlich, kein Krebs wahrscheinlich, aber gefährlich.
"Es muss sofort raus! Lassen Sie sich einen Termin für die Operation geben."
Die Schwester, welche die Termine vergab, riet mir jedes halbe Jahr nachzufragen, ob ich schon dran sei. Ich musste lachen, bis ich kapierte, dass es kein Scherz war. Als ich zwei Tage später festgenommen wurde, war meine Aufmerksamkeit auf alles andere gerichtet. Ich habe es dem Gefängnisarzt zwar erzählt, aber danach habe ich es einfach vergessen. Sie haben es scheinbar nicht vergessen.
Die Tür wurde wieder geöffnet und sie brachten den Mann herein, der neben mir an der Wand gestanden hatte.
Dann waren wir allein. Er sah mich nicht an. Ich war mir nicht mal sicher, dass er mich bemerkte. Ich sagte meinen Namen und streckte ihm die Hand entgegen.
Wie schon draußen, vor der grauen Wand, sah er mich nicht an und antwortete nicht. Plötzlich sprang er auf, ging zum Waschbecken und beschmierte sich die Lippen mit Zahnpasta. Ich schaute ihm verwundert zu und legte mich auf eines der Betten. "Warum machst du das?"
Keine Antwort. Mit einer fragenden Geste streckte ich ihm die Zigaretten entgegen. Er riss sie mir fast aus der Hand. Als ich ihm die Streichhölzer gab, zitterte er so stark, dass die Zigarette, die er mühsam aus der Packung gefummelt hatte, herunterfiel. Als sie endlich brannte, rauchte er mit hastigen Zügen und sah die ganze Zeit auf die Glasbausteine. Es blieb nur der Filter übrig. Dann versteinerte er wieder.
"Wie heißt du?", fragte ich ihn.
Keine Reaktion. Das kann ja heiter werden, dachte ich und schloss die Augen.
Das Abendessen wurde gebracht. Es war viel besser als die letzten Monate. Mein Mitbewohner schlang schnell alles in sich hinein und schielte dann mit unverkennbarer Gier nach den Resten meines Essens. Um seinen Mund waren noch Spuren der Zahnpaste, die er sich immer wieder auf die Lippen geschmiert hatte. Wortlos schob ich den Teller ein paar Zentimeter in seine Richtung. Als er seine Hand ausstreckte, zog ich ihn zurück und fragte: "Wie heißt du?"
"Frank", stieß er hervor und griff energisch zu.
"Oh Manne", seufzte er, nachdem er alles gegessen hatte. Ich bot ihm wieder eine Zigarette an. Er sah mich einen Moment lang an, sein Blick war unstet, flackerte wie verlöschende kleine Kerzen, trotzdem glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu erkennen.
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, das wortlos geblieben war, rauchten wir, weiter schweigend, meine Zigaretten. Dann begann er im Raum auf und ab zu laufen; ich versuchte zu lesen. Den ersten Band der Josephus Trilogie von Lion Feuchtwanger. Er ging auf einem imaginären Pfad, dem er unerschütterlich folgte. Das erinnerte mich an einen Fuchs, den ich mal im Zoo gesehen hatte. Ich konnte mich nicht auf das Buch konzentrieren.
"Willst du nicht auch was lesen?" Er antwortete nicht.
"Die Zeitung vielleicht?" Er blieb stehen und sah mich an.
"Ich kann nicht, oh Manne", sagte er.
"Wie, du kannst nicht?"
"Ich versteh's nicht."
"Was gibt's da zu verstehen?"
"Wenn ich eine Zeile gelesen habe, dann habe ich den Anfang schon wieder vergessen". Ich musterte ihn ungläubig.
"Aber du kannst doch lesen?"
"Ja, aber ich versteh's nicht!" Er begann wieder auf und ab zu gehen.
"Bist du zu aufgeregt jetzt - zum Lesen? Verstehst du es nicht, weil dir so viel durch den Kopf geht?"
"Nein, oh Manne, ich will arbeiten. Ich kann nicht ohne arbeiten", brach es aus ihm heraus.
"Als was hast du gearbeitet?"
"Melker."
"Auf der LPG?", fragte ich, um das Gespräch in Gang zu halten.
"Ja, 200 Kühe, ich habe nie gefehlt." Und nach einer Pause: "Ich halte das nicht aus, oh Manne, ... ohne arbeiten."
"Na dann lies doch was", sagte ich wieder.
"Ich kann doch nicht, oh Manne", stieß er gequält hervor.
Er sah zu meinen Zigaretten.
"Gibst du mir noch eine?"
Ich nickte und er griff schnell nach der Schachtel auf dem Tisch. Er tat mir Leid und ich sagte: "Wir fragen mal, wann du welche kaufen kannst."
Er sehr leise: "Ich habe doch kein Geld, oh Manne."
"Hast du niemanden draußen?" Er sah mich an, als verstünde er die Frage nicht.
"Eine Frau? Eltern? Irgendjemand?"
"Doch, Frau und zwei Kinder." Er setzte sich auf sein Bett und sah zu den Glasbausteinen.
"Schickt die dir kein Geld?"
"Nein, sie will sich scheiden lassen." Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen können. Alles, was mir einfiel, war: "Wie lange bist du schon hier drin?"
"Drei Monate?" Es klang wie eine Frage.
"Weißt du das nicht?"
"Oh Manne ...", stöhnte er wieder.
Ich warf eine Schachtel Zigaretten auf sein Bett, ich hatte genug und ich hatte auch Geld.
"Hier, da brauchst du mich nicht immer zu fragen".
Er nahm die Schachtel und als er aufblickte, sah ich, dass er lächelte. Er setzte sich an den Tisch und begann zu rauchen. Ich widmete mich wieder Flavius Josephus.
Als das Mittagessen gebracht wurde, war die halbe Schachtel geraucht.
Nachdem die Schließer das Geschirr geholt hatten und die Zelle wieder verriegelt war, fragte er mich leise:
"Warum bist du hier?"
Ich sah ihn an. Vielleicht war er ein Spitzel. Vielleicht glaubte er das auch von mir. Nein, der ist zu fertig, dachte ich.
"Ich habe mich mit Leuten getroffen und diskutiert", sagte ich ausweichend. Er guckte mich an und mir wurde klar, dass er nichts verstand.
"Na über Politik, Gesellschaft, Sozialismus. Ich habe auch Musik gemacht, das spielt wohl mit rein."
"Musik?", fragte er.
"Ja, ich habe in einer Band gespielt, Gitarre und anderes. Eigentlich habe ich gesungen, na ja und Gedichte geschrieben und vorgetragen."
"Du bist ein Künstler", sagte er und ich musste lachen über den resignierten Ton in seiner Stimme.
"Ich bin Schlosser, die Musik war nur Hobby", lachte ich. Irgendwie schien ihn das zu beruhigen.
"Ich habe mal eine Musikkapelle im Fernseher gesehen", sagte er "aber ich versteh` nichts davon. Früher dachte ich, das ist alles wirklich." Ich sah ihn fragend an.
"Wenn ich was im Fernseher gesehen habe, dachte ich, dass es wirklich passiert."
"Du meinst die Nachrichten?"
"Nein alles."
"Du willst mich verarschen?", grinste ich, aber in seinen Augen sah ich, dass er es völlig ernst meinte.
"Meine Frau hat mir das dann erklärt, wie das ist mit den Schauspielern und so. Sie hat mich ausgelacht ... die Kinder auch, oh Manne." Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an.
"Alle haben über mich gelacht." Ich schwieg betreten. Es war mir peinlich, einen erwachsenen Mann so zu sehen. Wie konnte er das sagen, hatte er keinen Stolz?
"Einmal habe ich meinem Nachbarn den Betonmischer geborgt. Er brachte ihn nicht wieder und meine Frau sagte, ich soll ihn holen, ich wäre ein Schlappschwanz sonst. Ich ging zum Nachbarn. Er sagte, der ist kaputt, den brauchst du sowieso nicht mehr und dann hat er gelacht über mich, oh Manne ... was sollte ich denn machen?"
"Er hat dich beklaut?", fragte ich.
"Nein, er war doch kaputt", antwortete er trotzig.
"Du bist ein kräftiger Kerl, warum hast du ihm keine reingehauen?" Ich fragte das ziemlich aufgebracht.
"Das ist nicht richtig, das darf man nicht." Er sagte es wie ein Kind.
"Vielleicht hast du recht, macht alles nur schlimmer", lenkte ich ein.
Die Zelle wurde geöffnet, ein Uniformierter forderte mich auf mitzukommen. Ich wurde zu einem Arzt gebracht. Er stellte sich nicht vor und begrüßte mich nicht, befragte mich zu meinen Beschwerden und verließ, ohne ein weiteres Wort, den Raum. Pünktlich zum Abendbrot war ich zurück in der Zelle.
Frank hatte sich wieder die Lippen mit Zahnpasta eingeschmiert. Die Zigaretten sind alle, dachte ich sofort.
"Hilft das, wenn du nichts zu rauchen hast?"
"Oh Manne ...", stöhnte er nur.
Wir begannen zu essen. Diesmal blieb nichts auf meinem Teller und Frank war sichtlich enttäuscht. Ich überlegte, ob ich ihm eine Zigarette anbieten sollte. Wenn ich ihm noch eine Schachtel gäbe, würde er sie sicher in kürzester Zeit leeren. Ich hielt ihm die Schachtel hin. Wir rauchten. Ich widmete mich wieder Josephus. Während ich las, ging er auf und ab. Ich bot ihm von Zeit zu Zeit etwas zu rauchen an, das beruhigte ihn ein wenig.
"Nachtruhe!" Das Licht wurde gelöscht.
Nach dem Frühstück wurde die Tür geöffnet. Ein Offizier, der einen weißen Kittel umgehängt hatte, kam in die Zelle. Er sah sich kurz in der Zelle um und fragte dann, wer ich sei. Ich sagte meinen Namen. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich Frank zu. "Kommen Sie mit!" Kurz nachdem sie weg waren, wurde auch ich geholt. Man brachte mich in ein Labor und mir wurde Blut abgenommen. Als ich wieder in der Zelle war, kam eine Krankenschwester und gab mir eine braune Kapsel, die ich schlucken sollte.
"Was ist das?"
"Das müssen Sie nehmen", antwortete sie.
"Was ist das?", fragte ich noch mal. Sie war sichtlich verärgert.
"Nehmen Sie das!"
"Wer weiß, was Sie mir geben!", sagte ich "Ich nehme nichts, solange ich nicht weiß, was das ist, Ihnen traue ich alles zu!" Sie drehte sich wütend um und ging. Den Rest des Vormittags konnte ich ungestört lesen. Kurz vor dem Mittagessen kam mein Zellengenosse wieder. Ich sah ihn erwartungsvoll an.
"Was war denn das für einer?", fragte ich, während ich ihm die Zigaretten reichte.
"Ich weiß nicht, er sagt er muss mich untersuchen, weil es der Rechtsanwalt will."
"Was hat er denn untersucht?", wollte ich wissen.
"Er hat mich nur so komische Sachen gefragt", sagte Frank und sah mich ratlos an.
Das Essen kam. Während wir aßen, fragte ich ihn wieder, warum er hier sei.
"Ich habe doch nichts gemacht. Nur einmal. Da brauchten wir ein Kabel, für den Keller. Meine Frau sagte, ich soll es von der LPG mitbringen. Ich kann doch nicht stehlen, sagte ich. Sie sagte, ich soll nicht so blödes Zeug reden und die Kinder haben mich ausgelacht. Da habe ich es mitgebracht. Dann konnte ich nicht mehr schlafen." Und nach einer Pause: "Ich bin ein Dieb."
Als er das sagte, sah er verzweifelt aus, dann wurde sein Körper schlaff, seine Augen trüb. "Das darf man doch nicht", sagte er leise und abwesend. Etwas später richtete er sich wieder auf und sah zu dem Fenster aus Glasbausteinen.
"Nach einem Monat bin ich zum Gefängnis in Dessau gegangen."
"Was wolltest du denn im Gefängnis?" Ich blickte ihn ratlos an.
"Wer klaut, muss ins Gefängnis!", sagte er trotzig.
Das glaubte ich einfach nicht, aber seine Stimme, seine Augen, alles drückte aus, dass er die Wahrheit sagte.
"Hat dich einer erwischt?"
"Nein."
"Bist du zur Polizei gegangen?"
"Nein."
"Warum bist du dann zum Gefängnis gegangen?", fragte ich wieder.
"Ich dachte, wenn ich bestraft werde, kann ich wieder schlafen", sagte er leise.
"Und? Was haben die mit dir gemacht?" Ich stellte mir vor, wie er am Gefängnistor anklopfte, um den Bullen zu erklären, dass er bestraft werden wollte, und musste grinsen.
"Die wollten Papiere sehen. Ich hatte doch keine Papiere. Der am Tor fragte, ob ich Selbersteller bin."
"Selbststeller", verbesserte ich ihn.
"Aber ich weiß doch nicht, was das ist. Oh Manne. Dann hat er mich angebrüllt und weggeschickt." Ich musste unwillkürlich lachen.
"Mann, du bist ein Herzchen", grinste ich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte.
Ein Uniformierter holte das Geschirr. Anders als in der U-Haft in Halle wurden hier solche Arbeiten nicht von anderen Häftlingen erledigt. Es war, als wären Frank und ich die einzigen Gefangenen.
Als wir wieder allein waren, versuchte ich Frank zu erklären, dass man erst verurteilt sein muss, um ins Gefängnis zu kommen. Oder wenn die Polizei oder die Stasi denken, dass man was gemacht hat, wie bei uns jetzt, dann kommt man in Untersuchungshaft. Dass ein Selbststeller jemand ist, der verurteilt wurde, aber nicht mehr in Untersuchungshaft bleiben muss, weil er nur eine Kleinigkeit gemacht hat und dass der dann einen Termin bekommt, zu dem er sich im Gefängnis melden muss, um seine Strafe abzusitzen.
Ich hatte das Gefühl, er verstand mich nicht und gab es auf um wieder zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Jetzt bin ich schon wie Frank, dachte ich. Ich weiß auch nicht mehr, was ich gerade gelesen habe. So muss es ihm immer gehen. Kein Wunder, dass er keine Lust zu lesen hat. Ich hatte zwar welche, aber das nutzte mir jetzt wenig.
Noch immer hatte ich nicht erfahren, warum er eigentlich hier war. Als er wieder zum Waschbecken ging um sich die Lippen einzuschmieren, sagte ich: "Wir sind hier bei der Stasi. Das weißt du doch?"
"Ja, oh Manne ..." Ich gab ihm eine neue Schachtel Zigaretten und sah ihn erwartungsvoll an um eine weitere Erklärung von ihm zu bekommen.
"Ich wollte auch mal zur Stasi gehen, weil die von der Stasi die Republik schützen. Aber Irene sagte, wenn ich das mache, heiratet sie mich nicht."
"Irene ist der Name deiner Frau?", fragte ich.
"Ja."
"Na jetzt bist du ja bei der Stasi", sagte ich trocken. Er guckte mich traurig an:
"Ich halte das nicht aus, so ohne arbeiten."
Und nach einer Pause: "Ich war in Halle mit einem auf der Zelle, der sagte, wenn man ins richtige Gefängnis kommt, darf man arbeiten."
"Haben die von der Stasi dir gesagt, warum du hier bist?" Er schüttelte den Kopf.
"Was sagt denn dein Rechtsanwalt?", bohrte ich weiter.
"Den habe ich nur einmal gesehen, ganz kurz, da hat er mir nichts gesagt."
Irgendwie musste es doch zu erfahren sein, wie er hier reingeraten war.
"Wo bist du denn verhaftet worden?", machte ich einen neuen Anlauf.
"Bei Eisenach, mit dem Auto." Ich blickte ihn fragend an.
"Was für ein Auto?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einen Führerschein hatte.
"Ich habe einen Wartburg!" Stolz klang in seiner Stimme.
"Aber die von der Stasi sagen, den nehmen sie mir jetzt weg, oh Manne ...". Er sah resigniert auf den Boden.
"Du hast einen Führerschein?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er mit Nachdruck und sah mich verwundert an. Ich fragte mich, wie er den geschafft hatte, beschloss aber nicht weiter nachzufragen, jetzt, wo ich so nah dran war, den Grund seiner Haft zu erfahren.
"Hast du einen Unfall gebaut?", fragte ich und dachte befriedigt, dass wir der Sache jetzt näher kommen. Sicher hatte er einen Unfall gebaut und aus irgendeinem Grund war er nicht in der normalen U-Haft, sondern beim Mfs gelandet.
"Ist der Wartburg sehr kaputt?", fragte ich anteilnehmend.
"Nein, wieso denn?", antwortete er und sah mich verwundert an. Ich war einen Moment sprachlos.
"Na der Unfall! Du hattest doch einen Unfall!"
"Nein, keinen Unfall", antwortete er.
Ich war keinen Schritt weiter. Ich lehnte mich auf dem Bett zurück und sagte so ruhig ich konnte: "Du hast mir doch gerade gesagt, du wurdest bei Eisenach mit dem Auto verhaftet, richtig?"
"Ja."
"Wieso, ... wieso wurdest du da verhaftet? Ich verstehe das nicht!" Er sah mich nur an, mit traurigen Augen.
"Was wolltest du denn bei Eisenach? Hast du jemanden besucht? War deine Familie dabei? Haben sie dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?"
Das klang viel gereizter, als ich es wollte. Er sah mich erschrocken an, dann senkte er den Blick und sagte leise: "Ich hab's doch nicht mehr ausgehalten."
"Was hast du nicht ausgehalten? Pinkeln zu müssen? Willst du mir im Ernst erzählen, die haben dich verhaftet, weil du in den Wald gepinkelt hast?" Ich war laut geworden und er schwieg verstört.
Das Abendessen kam. Es gab jeden Tag etwas anderes. Das waren wir von Halle nicht gewöhnt. Dort gab es an einem Tag Leberwurst, eine halbe Scheibe und am nächsten Tag Jagdwurst in Würfeln. Ich hatte die Würfel mal zusammengelegt. Es war auch nur eine halbe Scheibe. Dazu immer einen Löffel voll Schweineschmalz. Tagein, tagaus, seit drei Monaten.
Nach dem Essen waren wir etwas entspannter und fast zufrieden. Irgendwie war unsere kleine Welt ein wenig harmonischer. Ich beschloss, die Stimmung zu nutzen und nicht locker zu lassen.
"Jetzt mal im Ernst", ich sah ihn an, "was hast du nicht ausgehalten?" Seine Augen wurden dunkel, seine Hände bewegten sich unruhig, ziellos und zitterten dabei.
"Ich hab's versucht, ein paar Mal, aber ich konnte es doch nicht, oh Manne. Alle haben mich ausgelacht. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Die Frau, die Kinder ... auf Arbeit. Ich hab's versucht, ein paar Mal."
Er wirkte gequält und abwesend und nach einer langen Pause sagte er:
"Auf Arbeit haben sie sich unterhalten, wenn man an die Grenze geht, wird man erschossen. Ich dachte, wenn ich's nicht selber kann, fahr ich zur Grenze, da werde ich erschossen."
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.
"Du wolltest dich an der Grenze erschießen lassen?", fragte ich ungläubig.
"Ja", sagte er sehr leise.
"Du wolltest dich umbringen!?"
"Ja ... oh Manne".
Ich suchte nach Worten, irgendwas, das ich jetzt sagen konnte. Mir fiel nichts ein. Wir schwiegen. Wortlos streckte ich ihm die Schachtel mit den Zigaretten hin. Er griff abwesend zu, und als ich ihm Feuer gab, reagierte er nur mechanisch.
"Wie hast du dir das denn gedacht?", fragte ich nach einiger Zeit.
"Wolltest du hingehen und sagen: 'Erschießt mich'?"
"Ich dachte, wenn ich mit dem Auto auf die Grenze zufahre, werden sie mich erschießen", antwortete er leise.
"Und warum haben sie es nicht getan?"
"Ich weiß nicht, oh Manne", sagte er resigniert.
"Bist du denn wirklich auf den Grenzübergang zugefahren?"
"Ich wusste doch nicht, wo die Grenze ist ... Ich bin einfach gefahren, erst auf der Autobahn in Richtung Eisenach, dann auf der Landstraße. Dann sah ich einen Posten. Ich gab Gas und dachte, wenn ich jetzt durchfahre, erschießen sie mich. Als ich fast da war, sprangen sie auf die Straße mit Maschinenpistolen in den Händen. Ich dachte nur ... jetzt, jetzt schießen sie gleich. Aber sie haben nicht geschossen."
Er starrte ins Leere. Nach einer langen Pause redete er weiter.
"Irgendwann war ich in einem Dorf und da war die Straße auf einmal zu Ende. Ich hielt an, vor einem Tor und da kamen von überall Soldaten und zerrten mich aus dem Auto."
"Das war sicher nur ein Vorposten ins Sperrgebiet", sagte ich. "Das war noch nicht die Grenze. Vor der Grenze ist ein Sperrgebiet. Da darf man nur mit Sondergenehmigung rein", versuchte ich ihm zu erklären. Er sah mich verständnislos an.
"Und du bist jetzt hier, weil die denken, du wolltest in den Westen abhauen?"
"Wieso?"
"Wieso? Mensch Frank, wer zur Grenze geht, will abhauen. Auf die Idee, dass sich einer nur mal schnell erschießen lassen will, muss man erstmal kommen." Frank sagte nichts und ich schüttelte den Kopf.
"Haben sie dich gleich nach Halle zur Stasi gebracht?"
"Gera", sagte er.
"Hast du denen gesagt, dass du dich umbringen wolltest?"
"Sie haben gesagt, ich weiß schon, warum ich hier bin und ich soll am besten alles erzählen." Und nach einer Pause: "Und da dachte ich, es ist wegen dem Elektrokabel von der LPG - und habe dann alles erzählt. Sie haben mich angebrüllt. Ich soll die Wahrheit sagen."
Ich sah ihn an, er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! Ich fragte ihn trotzdem:
"Du dachtest, du bist wegen dem Kabel bei der Stasi gelandet?"
"Ich habe doch nichts anderes gemacht."
Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen wie verarscht die Stasi sich vorgekommen sein musste; ich musste laut lachen
"Haben sie dich nicht gefragt, was du im Sperrgebiet wolltest, an der Grenze?"
"Ja, aber erst viel später."
"Und?" Ich sah ihn gespannt an.
"Ich habe erzählt, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe", sagte er leise.
"Haben sie dir das geglaubt?"
Er sah mich an und senkte dann den Kopf.
"Sie fragten, wieso ich glaube, dass die DDR Menschen erschießt. Ich erzählte, dass ich das gehört habe. Sie fragten dann, ob ich damit sagen will, dass die von der Stasi und die von der Volksarmee Mörder sind ... oh Manne. Was sollte ich denn sagen?" Er machte eine lange Pause. "Dann wurde ich in einen Barkass gesteckt, so einen wie den, der uns hergebracht hat und kam nach Halle. Aber das wusste ich nicht. Als ich in Halle war, wurde ich am zweiten Tag in einen Raum gebracht, da stand ein Stuhl drin und ich musste mich draufsetzen und einer von der Stasi sagte: So jetzt werden sie erschossen ... und ich habe gedacht, jetzt erschießen sie mich ... und ich habe solche Angst gehabt. Ohh Manne ..."
Ich wusste sofort, was er meinte. Im 'Roten Ochsen', der Stasi U-Haft in Halle, gab es im Keller einen Raum, in dem die Häftlinge fotografiert wurden. Diese 'Verbrecherfotos', die jeder schon einmal gesehen hat. Man musste sich auf einen Stuhl setzten, der auf ein Podest montiert war. Wenn die Aufnahmen im Profil gemacht werden sollten, betätigte der Fotograf, ein Stasimann in Uniform, einen Hebel und über eine Mechanik wurde der gesamte Stuhl ruckelnd und geräuschvoll um 90°gedreht.
"Und dann zog er an einem Hebel und ich bekam so einen Schreck. Ich dachte, dass sie jetzt schießen, ich habe in die Hose gemacht ... oh Manne ... und die von der Stasi lachten wie verrückt." Er begann zu weinen. Ich ging zu ihm und legte meinen Arm um seine Schultern. Eine unbändige Wut war in mir. Und ich sagte nur immer wieder: "Diese Schweine, diese Schweine".
Nachdem wir das Frühstück am nächsten Morgen beendet hatten, fragte ich ihn: "Willst du dir immer noch das Leben nehmen?"
"Nein", sagte er. "Ich will nur arbeiten ... ich kann nicht ohne arbeiten".
Er wird wohl bald wieder arbeiten, dachte ich, sie werden ihn sicher bald rauslassen, zumal er ja offensichtlich hier war, um von einem Psychiater beurteilt zu werden. Und ich sagte: "Frank, so schlimm das alles war, du kommst sicher bald hier raus und dann wird alles wieder gut. Dann kannst du arbeiten, bis du
umfällst.", und dann grinste ich ihn an. Er sah mich ungläubig an und seine Augen leuchteten hoffnungsvoll:
"Meinst du wirklich?"
"Ja!"
Die Tür wurde geöffnet und man forderte mich auf mitzukommen. Ich warf ihm noch ein Lächeln zu, als ich mich in der Tür umdrehte.
Ich wurde abermals zu einem Arzt gebracht, der mir eine Packung mit den braunen Kapseln zeigte, die ich abgelehnt hatte einzunehmen. Es war Tetrazyklin, ein Antibiotikum. Er erklärte mir, dass es wichtig sei, dass ich sie nähme. Dann eröffnete er mir, dass ich operiert werden sollte. Der Knoten am Hals würde entfernt werden. Ich war einverstanden. Als ich am Nachmittag wieder auf die Zelle gebracht wurde, war ich allein. Das Bett von Frank war frisch bezogen und akkurat gemacht, nichts deutete darauf hin, dass er zurückkommen würde oder jemals hier war.
Am nächsten Morgen wurde ein neuer Häftling in die Zelle gebracht, jünger als ich, gerade mal 20 Jahre alt. Er war ganz anders als Frank. Wir lachten viel und die Zeit verging sehr schnell. Fast zu schnell, ich hatte die Befürchtung, dass ich den Flavius Josephus nicht schaffen würde, zumal am Tag nach der Operation mein Vernehmer aus dem "Roten Ochsen" auftauchte und ich wieder jeden Tag vernommen wurde. Zwei Wochen später wurde ich nach Halle zurückgebracht. Offensichtlich war die Stasi jetzt dabei, den Prozess vorzubereiten. Ich sah zum ersten Mal meinen Rechtsanwalt. Die zwei fehlenden Bände der Josephus Trilogie konnte ich zum Glück in Halle auch bekommen und lesen. Das Essen bestand wieder abwechselnd aus einer halben Scheibe Leberwurst und einer halben Scheibe Jagdwurst, gewürfelt.
Nach dem Prozess und der Verurteilung wurde ich in die Justizvollzugsanstalt Cottbus verlegt. Wir mussten in einem Drei-Schichtsystem arbeiten. Als Schlosser, der im Werkzeugmaschinenbau beschäftigt war, arbeitete ich in einer Werkstatt.
Ich war seit etwa einem Jahr in Cottbus. Es war ein warmer Sommermorgen und das 'Kommando', in dem ich arbeitete, hatte Frühschicht.
Manchmal begegnete die Frühschicht, wenn sie am Morgen zum Frühstück in den Speisesaal geführt wurde, der Nachtschicht, die gerade mit dem Frühstück fertig war. So war es an diesem Morgen. Während die hungrige Frühschicht in den Speisesaal flutete, strömte die Nachtschicht hinaus. Plötzlich war in dem Durcheinander ein Gesicht vor mir. Es strahlte mich an und ich erkannte ihn sofort.
"Frank?", sagte ich ungläubig. Er grinste nur.
"Wieso bist du hier? Haben sie dich denn nicht freigelassen?", fragte ich überrascht.
"Ich habe drei Jahre bekommen, wegen Republikflucht" antwortete er, immer noch grinsend.
"Wie geht es dir?", ich fragte, obwohl ich sehen konnte, wie es ihm ging.
"Mir geht es gut, ich kann arbeiten. Das ist das Wichtigste."
Der Strom der Häftlinge riss uns auseinander.
"Alles Gute", rief ich ihm nach, während er ins Freie gespült wurde.