Es braucht Zeit, bis sich eine bestimmte Wahrnehmung als richtig oder falsch herausstellt.
Tatsache ist: Schon damals gab es Warnzeichen darüber, dass mit dir, R., etwas nicht stimmte. Man munkelte, du seist ein Kinderschänder und warnte meine Eltern, mir den Umgang mit dir zu untersagen. Denn ich war damals ja noch minderjährig und aus deinen Absichten machtest du keinen Hehl. Du wolltest mich rumkriegen, mit mir schlafen, koste es, was es wolle.
Und fast hättest du es geschafft, an jenem Sonntagnachmittag, als du sturmfrei hattest und mich zu dir nach Hause locktest.
Ich war nicht bereit dazu und weil du es nicht dabei bewenden liessest, sondern es immer wieder versuchtest, fasste ich mir nach einigen Wochen ein Herz und schrieb dir einen Abschiedsbrief. Ich wollte dich nicht mehr sehen und erklärte dir auch warum: "Ich freue mich gar nicht, wenn ich dich sehe", schrieb ich in meiner kindlichen Einfalt.
Meine Eltern verfolgten das Ganze aufmerksam, ohne sich gross einzumischen, aber ich spürte auch ihre Sorge. Die erste Liebeserfahrung hatte sich als Liebesenttäuschung entpuppt. Und ich wusste nicht genau, wie mir geschah. Denn alles war so widersprüchlich. Du warst einerseits der ideale Schwiegersohn: fleissig, ein Überflieger, klug, seriös, diskret und auch gutaussehend. Aber andererseits - Mutter gab das immer zu bedenken - hatte dein Grossvater deine Oma aufs Schwerste misshandelt. Sowas vererbt sich, meinte meine Mutter. Fleiss und beruflicher Erfolg sind nicht alles, fügte sie hinzu. Und Papa hatte vielsagend geschwiegen. Er hatte leise nachgefragt, ob du denn meine Hand nähmest, wenn wir spazieren gingen. Ich weiss nicht mehr, was ich zur Antwort gab. Wahrscheinlich sagte ich Ja.
Jedenfalls haben wir beide inzwischen unsere Wege getrennt beschritten. Du bist deinen Weg gegangen, sehr erfolgreich, wie ich vernommen habe. Und ich kann mich auch nicht beklagen, zumindest äusserlich nicht. Innerlich sieht die Sache schon anders aus. Da waren nämlich immer diese Schuldgefühle, die ich nicht so recht zuordnen konnte. Ich habe nach allen möglichen Gründen dafür gesucht, bis mir heute aufging, dass sie mit dir zu tun hatten. Mit deinen Versuchen, mich zu vergewaltigen. Und mit deinem Wutausbruch in deiner Wohnung - du standest noch ganz nackt da, im Schlafzimmer -, weil ich mich aufs Neue verweigerte. Ich hatte Bauchschmerzen und weinte vor Angst. Dieselben Bauchschmerzen habe ich noch heute. Und auch meine Todesangst ist noch recht akut.
Dass Opfer sich für ihr Opfersein auch noch schuldig fühlen, ist unheimlich und eigentlich irrational. Aber so ist das nunmal. Man fühlt sich schuldig, dass man nicht gerne, sondern widerwillig die Beine gespreizt hat. Man hätte es doch gerne machen müssen. Der Widerwille war Majestätsbeleidigung und ist daher mit Schuldgefühlen besetzt, bewusst oder unbewusst: Das Schuldgefühl entfaltet seine Wirkung, wie ein Gift, das sich nach und nach der Seele bemächtigt.
Ob du das weisst? Ob auch du noch an mich denkst? Ich frage mich, WIE du an mich denkst. Einmal schriebst du mir, du erinnertest dich gut an mich. Wie das wohl gemeint war?
Eigentlich würde ich dich gerne mal sprechen, aber eigentlich auch wieder nicht, weil mich die ganze Geschichte so anwidert. Und heute eben in der Lokalzeitung sah ich dich wieder. Stark gealtert bist du. Übergewichtig, bärtig, wie einer, den das Leben überrollt hat. Man hat dir fristlos gekündigt, habe ich der Zeitungsmeldung entnommen, wobei dies natürlich nicht explizit, sondern zwischen den Zeilen stand. Ausdrücklich stand da, dass du mit sofortiger Wirkung die Kündigung eingereicht hättest und jemand anders alle deine Ämter übernehmen würde. Eine äusserst knappe Meldung. Keine Würdigung deiner Leistungen, obwohl du doch immerhin fast zehn Jahre dort gewesen warst.
Wer eins und eins zusammenzählen kann, wird den Zusammenhang deiner Kündigung mit einer etwas früheren Meldung mühelos herstellen, in der von einem nicht namentlich genannten Arzt die Rede ist, der am selben Ort versucht hatte, eine Patientin zu vergewaltigen. Es stehe Aussage gegen Aussage, heisst es weiter. Handfeste Beweise gebe es keine und man - d.h. dein Anwalt - habe das Opfer mit einer Schadenersatzzahlung abzuspeisen versucht.
Kurz darauf dann deine fristlose Kündigung.
Du bist glimpflich davongekommen und darfst jetzt immerhin noch deine Privatpraxis führen, die sehr schlecht bewertet wird. Lauter Ein-Sterne-Rezensionen sind da zu sehen. Keine schöne Geschichte.
Was mich betrifft: Das Gift hat sich meiner bemächtigt und zwar so stark, dass ich gut 20 Jahre nach jenen Vorfällen unbedingt die Vergangenheit rückgängig machen wollte. Ich fühlte mich immer noch so schuldig, dass ich DANN mit dir schlafen wollte. Ich war der Meinung, dir dein Recht vorenthalten zu haben und suchte verzweifelt nach Möglichkeiten der Wiedergutmachung. Ich könnte ja mit einem anderen Mann schlafen, dachte ich, und mir einbilden, du seist es - die damalige Situation also gewissermassen nachstellen und somit auch nachholen, auf dass eine Art kosmischer Ausgleich entstünde. Ich hatte eine Bringschuld, der ich jetzt mit allen Mitteln nachkommen musste.
Ja, so geht Irrationalität. So funktioniert eine kaputte Psyche, wenngleich der gesunde Teil in mir - derjenige, der unter allen Umständen unerschütterlich ist und wahrscheinlich noch nach dem Tod fortbesteht - darauf pochte, dass ich jetzt völlig übergeschnappt sei. Dass es richtig von mir gewesen war, jenen Abschiedsbrief zu schreiben und mich so quasi in einer Nacht- und Nebelaktion vor dir in Sicherheit zu bringen.
Die heutige Zeitungsmeldung, über 30 Jahre später, bestätigt mir die Richtigkeit meiner Wahrnehmung und dass die ganzen Schuldgefühle im Grunde unnötig gewesen sind.
Ich frage mich natürlich, was in dir vorgeht. Und was in deiner Frau und in deinen Kindern, in deinen Eltern, falls sie noch leben und in deinem Bruder.
Auf dem Zeitungsfoto siehst du verwahrlost aus. Ob auch dich Schuldgefühle ereilt haben?
Mein Leben wurde dadurch zerstört. Ich bin froh, dass das jetzt endlich raus ist.