Liebe Marie-Luise,
„Es gab mal eine Zeit, da durften selbst Kabarettisten über Glaubenssachen keine Witze machen, um die Gläubigen nicht zu verletzen.
Die namhaften Kabarettisten haben sich auch daran gehalten.“
… mag sein (gab es da überhaupt schon Kabarettisten?). Es gab auch eine Zeit, da wurden Ketzer verbrannt. Oder "sehr Gläubige" töteten, weil eine Karikatur sie verletzte.
Übrigens, die Aufsätze in der Schule wurden nicht nur nach dem handwerklichen Können beurteilt, sondern auch nach dem Inhalt.
Oder war es bei dir nicht so?
Also wir waren schon so weit, dass das getrennt gewertet wurde. Ok, es gab am Ende auch eine Gesamtnote, weil das Fach eben nicht „Wissen über Bücher“
oder „Sprachbeherrschung“ hieß, sondern „Deutsche Sprache
und Literatur". Die Leselupe ist aber eine „Textarbeitsplattform“ und keine „Textarbeits- und Wahrheitsfindungsplattfom“ (auch wenn öfter mal Nicht-Textarbeits-Themen diskutiert werden).
Um es zusammenzufassen: Ich verstehe, dass du (und andere) nicht glücklich bist, wenn jemand eine für dich so wichtige Geschichte ganz, ganz anders erzählt. Mit „nicht gefallen“ hab ich kein Problem – mir gefällt auch vieles nicht. Aber Schock? Das ist eine tiefe lebensbedrohende Erschütterung (medizinisch
und außerhalb der Medizin)! Was um Himmels willen hat an diesem Märchen (der Text steht nicht in der Journalismus-Ecke!) bloß so eine Kraft, dass er eine gestandene Frau so aus der (Lebens)Bahn werfen kann?
Es gibt zwei Wege, diesen Text zu lesen: Als reines Ideen-und-Effektespiel – dann hat es keinen Sinn, irgendwelche Angriffe zu wittern. Oder als Text mit "Botschaft" (Gleichnis wäre wohl das Bibel-verwandte Wort) (der Religionsgründer als "kein Kostverächter" und die Rolle der Erotik in dem, was ursprünglich „gedacht“ war; Diskrepanz zwischen dem, was er wollte/tat, und dem, was seine „Fans“ draus machten; das brutal-kriegerische Element in ihm/der nach ihm benannten Religion; … man kann da so viel hineinlesen, wenn man will) – dann wäre es sinnvoller, über diese Themen zu reden statt in Schockstarre zu verfallen.
Aber naja, die Zeit der Aufklärung ist halt vorbei …
Gruß von
jon