Beispiel einer Textkritik wie ich sie mir vorstelle:
[blue]Subito piano[/blue] =
in der musikalischen Dynamik plötzlicher Übergang von laut zu leise. Im modernen Alltagsitalienisch bedeutet subito piano: sofort langsam.
[blue]Erblickt ein Lied als Kind schon seine Noten,[/blue] =
Ein Lied, das als Kind also in seinen Anfängen seine Noten erblickt, könnte bedeuten, die Melodie weiß schon zu Anfang wie es weitergeht. Als Metapher: Das Leben sieht in seinen Anfängen schon seine Zukunft. Oder ein Kind weiß schon wie sein Leben verlaufen wird.
[blue]Wird's kalt vor Angst und altert lieber still,[/blue] =
Könnte so gedeutet werden: Die Melodie entwickelt sich zaghaft und nicht laut, also ruhig, nicht aufdringlich. Nicht bewegt, sondern still.
Eine stille Melodie ist an sich ein Widerspruch, da eine ganz stille Melodie gar keine mehr ist. So vermute ich mal, dass sie noch sehr leise zu hören ist.
Angst wovor? Vor der bekannten Zukunft wohl, die als Kondition voran gestellt war (im Konditionalsatz).
Kalt: Ebenso wie still: emotionslos, frostig.
[blue]Verfehlt nicht einen Ton mehr unter Toten.[/blue] =
Das Lied schreitet also die Melodie ab, Ton für Ton, still, kalt und emotionslos, und trifft jeden einzelnen Ton genau.
Unter Toten? Unter toten Tönen? Tote Töne weil kalt, emotionslos, still.
[blue]Ich fürchte mich vor allem, was ich will.[/blue] =
Macht Sinn: Wenn man die Töne, also die Zukunft kennt, hat man Angst vor ihr. Die Zukunft entsteht aus den Entscheidungen, die man für sich im Leben fällt. Entscheidungen entstehen aus dem, was man will. Wer nicht will, entscheidet nicht, lässt sich treiben, hat zwar (irgendeine) Zukunft, kennt sie aber nicht, kann sie nicht so kennen wie derjenige, der sie sich durch seine Entscheidungen, seinen Willen vordefiniert.
Wer denkt, das vorentschiedene gewollte Leben sei kalt und still und emotionslos, da vorgeplant und vorhersehbar, ohne Überraschungen, ohne Spontaneität, der wird bei diesem Gedanken aus Angst vor diesem toten zukünftigen Leben, in eine plötzliche Starre verfallen:
Subito piano: Entscheidungsunwille, Entscheidungsangst, Angst vor dem Willen, Angst, überhaupt etwas zu wollen. Sogar Handlungsunfähigkeit.
Plötzlicher Stillstand. Plötzliche Ruhe.
Könnte eintreten.
----------
Muss aber nicht.
----------
Ergänzung:
Man kann Ängste oder Furcht auch überwinden.
Und nicht alles was man denkt, es sei so, muss so sein, wie man es denkt.
Im Grunde ist diese Angst, etwas zu entscheiden, weil dann alles für alle Zeiten bestimmt sein könnte, unreif.
Erstens, weil man dann erst recht einfriert.
Zweitens weil das Leben komplexer ist, als dass einzelne Entscheidungen solch extreme Konsequenzen hätten.
Drittens kann man ja soweit flexibel bleiben, dass man morgen etwas anderes wollen kann, wenn das, was man heute gewollt hat sich als unnütz herausgestellt hat.
----------
Formal ist an dem Text nichts auszusetzen, er sitzt, wackelt und hat Luft.