Subito piano (Vierzeiler) (gelöscht)

Vera-Lena

Mitglied
Wow, in vier Zeilen, wieder einmal ein ganzes Leben eingefangen. Außer bei Dir, liebe Julia, habe ich dergleichen hier nichts gelesen.

Zu interpretieren wäre für mich nur die dritte Zeile.

"verfehlt nicht einen Ton mehr unter Toten"

Also dem Lied ist es unmöglich, einen falschen Ton zu treffen (verfehlt) obgleich es ja ohnehin nicht erklingt, singt es doch stumm immerfort. "unter Toten" bedeutet dann, dass alles um das Lied herum ganz und gar nichts vom Klingen und Singen versteht und sich auf einer gänzlich anderen Wellenlänge durch das Leben bewegt, als das Lied.

Ist es so gemeint?

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

vielen Dank für das große Kompliment & die tolle Bewertung! :) Ich denke, der interpretatorische Rahmen ist in diesem Vierzeiler relativ weit gesteckt und ich hatte schon befürchtet, dass ihm das zum Verhängnis werden würde; die Metapher ist eher vage. Ich lese die dritte Zeile so: Das Lied verstummt, weil es Angst hat, einen falschen Ton zu treffen; denn wenn es stumm (= "unter Toten") bleibt, kann es logischerweise gar keinen Fehler machen. Aber man kann es auch so lesen, wie du es tust, nämlich dass das Lied selbst eben nicht tot, nur anders ist. Ich bin dir so dankbar für deine Kommentare, weil du mir immer die optimistischere Lesart meiner Gedichte aufzeigst! :)

***

Liebe JoteS, MD, PW & Mr/s. Anonym,

ich habe mich riesig gefreut über eure Bewertungen! Vier Zehner - das hatte ich schon lange nicht mehr! :) Ich merke, meine schön blutigen Emo-Gedichte kommen irgendwie nicht so an :D ...

***

Lg Julia
 

MarenS

Mitglied
Liebe presque,

Wie schon von Vera_lena geschrieben: Ein Leben in vier Zeilen,

interessant ist vor allem der Wechsel zwischen "es" und "ich".

Grüße von Maren
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Maren,

Danke fürs Lob :)! Ich habe lange überlegt, ob ich in der vierten Zeile nicht beim es bleiben sollte, denn mit dem Wechsel zu ich löse ich ja die Metapher nach nur drei Zeilen selbst auf. Aber auf der anderen Seite gibt dieser Wechsel dem Gedicht mehr Eindringlichkeit, denke ich...

Lg presque
 

Rhea_Gift

Mitglied
Gegensatz

Dem setze ich hinzu oder entgegen mein Haiku-Premiere:

Schlagendes Herz
im Orchester des Lebens -
verklingendes Solo​

und einfach so:


Wer einen Ton der Lebensmelodie überhört,
darf sich nicht wundern,
wenn sie ihren schönen Klang verliert.



Trällernde Grüße, Rhea :)
 

presque_rien

Mitglied
Hi Rhea,

ja, Musik ist eine sehr dankbare Metapher. Meine Lieblingausführungen zum Thema "Lebensmelodie" stammen übrigens von Milan Kundera ("Die unerträgliche..."). Danke für deinen Kommentar! :)

Lg presque
 

viktor

Mitglied
hallo pr,
das bild der ersten beiden zeilen ist schlicht und einfach genial!
leider, leider zerstört in meinen augen die dritte zeile den gesamteindruck: sie wirkt mir zu erzwungen. (warum muss sie sich überhaupt reimen? abcb geht durchaus...)
die letzte zeile ist wiederum als conclusio stark!
vllt:
Erblickt ein Lied als Kind schon seine Noten,
wird's kalt vor Angst und altert lieber still,
singt nur noch brav vom blatt im chor der Toten.
Ich fürchte mich vor allem, was ich will.

liebe grüße
viktor
 
P

Peter Waldnacht

Gast
Beispiel einer Textkritik wie ich sie mir vorstelle:

[blue]Subito piano[/blue] =
in der musikalischen Dynamik plötzlicher Übergang von laut zu leise. Im modernen Alltagsitalienisch bedeutet subito piano: sofort langsam.

[blue]Erblickt ein Lied als Kind schon seine Noten,[/blue] =
Ein Lied, das als Kind also in seinen Anfängen seine Noten erblickt, könnte bedeuten, die Melodie weiß schon zu Anfang wie es weitergeht. Als Metapher: Das Leben sieht in seinen Anfängen schon seine Zukunft. Oder ein Kind weiß schon wie sein Leben verlaufen wird.

[blue]Wird's kalt vor Angst und altert lieber still,[/blue] =
Könnte so gedeutet werden: Die Melodie entwickelt sich zaghaft und nicht laut, also ruhig, nicht aufdringlich. Nicht bewegt, sondern still.
Eine stille Melodie ist an sich ein Widerspruch, da eine ganz stille Melodie gar keine mehr ist. So vermute ich mal, dass sie noch sehr leise zu hören ist.

Angst wovor? Vor der bekannten Zukunft wohl, die als Kondition voran gestellt war (im Konditionalsatz).
Kalt: Ebenso wie still: emotionslos, frostig.

[blue]Verfehlt nicht einen Ton mehr unter Toten.[/blue] =
Das Lied schreitet also die Melodie ab, Ton für Ton, still, kalt und emotionslos, und trifft jeden einzelnen Ton genau.
Unter Toten? Unter toten Tönen? Tote Töne weil kalt, emotionslos, still.

[blue]Ich fürchte mich vor allem, was ich will.[/blue] =
Macht Sinn: Wenn man die Töne, also die Zukunft kennt, hat man Angst vor ihr. Die Zukunft entsteht aus den Entscheidungen, die man für sich im Leben fällt. Entscheidungen entstehen aus dem, was man will. Wer nicht will, entscheidet nicht, lässt sich treiben, hat zwar (irgendeine) Zukunft, kennt sie aber nicht, kann sie nicht so kennen wie derjenige, der sie sich durch seine Entscheidungen, seinen Willen vordefiniert.

Wer denkt, das vorentschiedene gewollte Leben sei kalt und still und emotionslos, da vorgeplant und vorhersehbar, ohne Überraschungen, ohne Spontaneität, der wird bei diesem Gedanken aus Angst vor diesem toten zukünftigen Leben, in eine plötzliche Starre verfallen:

Subito piano: Entscheidungsunwille, Entscheidungsangst, Angst vor dem Willen, Angst, überhaupt etwas zu wollen. Sogar Handlungsunfähigkeit.

Plötzlicher Stillstand. Plötzliche Ruhe.
Könnte eintreten.

----------
Muss aber nicht.
----------
Ergänzung:
Man kann Ängste oder Furcht auch überwinden.
Und nicht alles was man denkt, es sei so, muss so sein, wie man es denkt.

Im Grunde ist diese Angst, etwas zu entscheiden, weil dann alles für alle Zeiten bestimmt sein könnte, unreif.
Erstens, weil man dann erst recht einfriert.
Zweitens weil das Leben komplexer ist, als dass einzelne Entscheidungen solch extreme Konsequenzen hätten.
Drittens kann man ja soweit flexibel bleiben, dass man morgen etwas anderes wollen kann, wenn das, was man heute gewollt hat sich als unnütz herausgestellt hat.

----------

Formal ist an dem Text nichts auszusetzen, er sitzt, wackelt und hat Luft.
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Peter,

ich sehe das anders.

Das Kind erkennt schon früh seine Begabungen und seine Wesensart. Später bemerkt es, dass es sich weitestgehend von dem unterscheidet, was seine Mitmenschen gerne von ihm sehen würden.
Jetzt fällt es in der Tat eine Entscheidung, die ja aber keine für sein ganzes Leben sein muss. Es hat Angst, zu opponieren gegen die Bilder, die man ihm überstülpt. (Insofern finde ich den Vorschlag von Viktor für die dritte Zeile gut, denn er bringt eine gewisse Schlichtheit in den Text.)Und so passt es sich zunächst an seine Umgebung an. Da es sein Selbst zu einem gewissen Prozentsatz verleugnen muss, fühlt es sich gleichsam fast tot.

Die Aussage: "Ich fürchte mich vor allem, was ich will" ist eine Erkenntnis über das derzeitige Empfinden, die derzeitige Furcht, aber es ist keine Lebensentscheidung.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 
P

Peter Waldnacht

Gast
Vera Lena, kannst du deine Thesen anhand des Textes belegen?

(presque: übrigens ist das, was ich hier gerade betreibe eine methode des fairen pushens).
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Peter,

ich glaube nicht, dass das nötig ist. Du kennst den Text jetzt genauso gut wie ich. Du weißt sehr genau, worauf sich meine Aussagen beziehen. Heute Abend wäre mir das jedenfalls zu mühsam, da Zeile für Zeile noch einen Haufen zu schreiben. Natürlich könnte ich das am Text belegen, aber heute nicht mehr.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 
P

Peter Waldnacht

Gast
Vera-Lena: Das habe ich gefragt, weil ich befürchte, dass sich einige deiner Interpretationsansätze nicht plausibel belegen lassen, eben weil ich den Text nun kenne.
 

Vera-Lena

Mitglied
Ja, ok, aber da täuschst Du Dich. Ich schreibe nie etwas ins Blaue hinein. Ich mache mir immer sehr gründlich Gedanken, bevor ich mich äußere.

Gute Nacht!
Vera-Lena
 

Druidencurt

Mitglied
ok, der Druide pusht das Suppenpiano mit hoch,
obwohl es zum teil doof klingt....

siehe auch hier
leider zerstört in meinen augen die dritte zeile den gesamteindruck: sie wirkt mir zu erzwungen.


Erblickt ein Lied als Kind schon seine Noten,
wird's kalt vor Angst und altert lieber still,
verfehlt nicht einen Ton mehr unter Toten.
Ich fürchte mich vor allem, was ich will.


verfehlt nicht einen Ton mehr VON GEBOTEN.

---> denn so

verfehlt nicht einen Ton mehr unter Toten.

---> wäre es eine Tot->geburt!

MfG
DC
 

Druidencurt

Mitglied
ok, der druide pusht das suppenpiano mit hoch,
obwohl es zum teil doof klingt....

siehe auch hier:
leider zerstört in meinen augen die dritte zeile den gesamteindruck: sie wirkt mir zu erzwungen.

richtig!!!!

Erblickt ein Lied als Kind schon seine Noten,
wird's kalt vor Angst und altert lieber still,
verfehlt nicht einen Ton mehr unter Toten.
Ich fürchte mich vor allem, was ich will.

verfehlt nicht einen Ton mehr VON GE/VER/BOTEN.

---> denn so

verfehlt nicht einen Ton "mehr unter" Toten.

nix----MEHR

---> sonst wäre es eine Tot--->geburt!

6 Punkte anonym wohl wahr,
da mit Druiden-Kommentar.

MfG
DC

ps.
Fazit:
Metapher hin Metapher her,
etwas dichten ist nicht schwer,
jedoch sollte man in Fällen,
sie auch etwas klarer stellen...
 
P

Peter Waldnacht

Gast
Druide, bei deiner Version passt du den Text an V-Ls Interpretation an.
Meine Philosophie der Textinterpretation ist, dass man den Text erst einmal gewähren lässt und prüft, was er hergibt.
Wenn er selbst bei analytischer Betrachtung nichts hergibt und im Kontext unschlüssig ist, kann man immer noch Änderungen vorschlagen bzw. diskutieren.
In diesem Fall, denke ich, ist die dritte Zeile völlig in Ordnung, da sie im Kontext meiner Interpretation Sinn ergibt.
Dabei ist doch völlig belanglos, ob die Autorin genau das gedacht hat, oder womöglich nicht wusste, dass sie das gedacht hat.

Für mich hat der Text jedenfalls immer Oberhoheit, bis ich ihm einen Mangel nachweisen kann. In dubio pro reo.
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Peter,

"Erblickt ein Lied als Kind schon seine Noten"

kann für mich nicht heißen, dass ein junger Mensch eine Vision hat und erkennt, wie sein Leben einmal aussehen wird. Vielleicht hast Du keine Kinder und hast auch nie fremde Kinder betreut oder unterrichtet.

Es kann für mich nur so sein, wie ich es oben dargestellt habe.
Eine meiner Schülerinnen war hochbegabt. Sie war das bestgehasste Mädchen in der ganzen Schule.

Auf so jemanden passt für mich die erste Zeile in Julias Text, wobei ich den Text hier völlig abgelöst von Julias Person,selbstverständlich, betrachtet sehen möchte.

Alles Weitere, was ich dann geschrieben habe fußt auf meiner Interpretation der ersten Zeile, und ich möchte das hier nicht noch einmal aufdröseln, weil es in sich schlüssig ist.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 
P

Peter Waldnacht

Gast
Vera-Lena, so habe ich es auch gar nicht geschrieben.

Außerdem ist die erste Zeile der erste Teil eines Bedingungssatzes: Wenn ..., dann

Man kann doch eine Interpretation eines ganzen Textes nicht nur durch eine seiner Zeilen stützen. Sie muss sich auch aus den anderen Zeilen und deren Gesamtkontext schlüssig ergeben.

Ich kann deiner Interpretation nicht wirklich folgen, würde es aber gerne.
Schade, dass du sie nicht für mich aufdröseln willst.
 

presque_rien

Mitglied
Hallo viktor,

vielen Dank für das Kompliment bezüglich der ersten zwei Verse! Ja, der dritte Vers scheint der problematischste zu sein. Mir gefällt dein Vorschlag an sich sehr gut - aber nach meinem Empfinden passt er nicht so richtig zu meiner Intention. Ich werde auf jeden Fall versuchen, eine Alternative zu finden. Bei einem Vierzeiler finde ich einen durchgehenden Reim aber schon wichtig...

Lg presque
 



 
Oben Unten