Zwei Farbenmärchen (gelöscht)

G

gitano

Gast
Hallo nochmal,
mir fielen noch zwei Dinge auf...sozusagen als fragender Hinweis formuliert:
im Terzett 1 steht "mein" in Terzett 2 "ihr"...hm. Diese springende Betrachtungsweise hat aus dem Inhalt irgendwie keinen Rückhalt...oder ist es eher als "die Moral von der Geschicht" gemeint?

den" bösen" Wolf finde ich klanglich nicht ganz stimmig:
weil das lange und schwer klingende "ö" etwas von dem Klangschwerpunkt "Zähnen" weg nimmt.Die Zähne sind daher weniger bedrohlich als vorher...vielleicht noch Milchzähne jetzt *zwinker".

Vor Wolf könnte ein klanglich etwas schwächeres Adjektiv stehen mit weniger Klanggewicht...oder: um Deinem Farbenspiel zu folgen, ein Farbadjetiv..wie grau, schwarz...
Mein Votum geht dann doch...obwohl ich die Idee des Atem senkens sehr interessant finde, an die in sich geschlossenere Version 1 (wenn die Kleinigkeiten noch eine schöne Idee finden..)

Gefällt mir immer wieder!
Liebe Grüße
gitano
 
P

penelope

Gast
sprachlosigkeit gegenüber echter poesie ist ein hochgefühl, der selten jemanden einnimmt... ich bin sprachlos...
 

HerbertH

Mitglied
Hallo Presque,

ein sehr schönes Gedicht.

Meine Variante:

Das Auge wirft die Netzhaut aus und fängt
ein Fensterstückchen Welt, das schüchtern hellt,
verschlafen in Gemütlichkeit pastellt,
sein Grasgesicht in den Magentahimmel,

und wartet, dass aus Wolken weiβer Schimmel
auf jenes [blue]Eckchen[/blue] Welt ein Lichtprinz fällt,
damit es sich, geküsst, aus Schatten pellt,
von seinem wahren Farbenherz durchtränkt.

Doch meine Farben trugen rote Käppchen,
verrannten sich, mein zartes Grün, mein Blau
zum [blue]grauen[/blue] Wolf mit blendend weiβen Zähnen,

und er zerrieb ihr buntes Fleisch in Häppchen
und spuckt’ es in die bunte Welt in grau.
[blue]Es blieb nur Knochen, Sehnen und das Sehnen.[/blue]

Der graue Wolf (Wolf [blue]in Grau[/blue] wäre auch schön, beisst sich aber mit S4Z2) passt in das Farbenmärchen, Stückchen zu wiederholen finde ich unschön, und die Zahl der Hebungen zu variieren widerspricht meinem Rhythmusgefühl. Das Spiel mit den Bedeutungen von [blue]Sehne[/blue]n ist in obiger Variante deutlicher.

Aber wohlgemerkt, es sind Nuancen, die Deine Varianten in keiner Weise schmälern sollen.

Liebe Grüße

Herbert
 

presque_rien

Mitglied
Hi Marlene,

also, nach meiner Kenntnis ist C-D-E C-D-E durchaus eine mögliche Reimkonstellation für Terzette im italienischen Sonett. Es ist vielmehr so, dass mein Reimschema in den Quartetten im klassischen Sonett nicht erlaubt ist ;). Deshalb schreibe ich auch nie "Sonett" über solche Gedichte, um Sonett-Puristen nicht (zurecht) zu verärgern. Für mich besteht die Grundidee des Sonetts in der inhaltlichen und formalen Trennung zwischen den Quartetten und den Terzetten, mit den anderen formalen Vorgaben spiele ich gerne herum.

Lg presque
 

presque_rien

Mitglied
Hey Tom,

Ups, wat ham wir denn hier? Einen deiner völlig unverwechselbaren Kommentare! :) Fast schon eine kleine Kurzgeschichte. Oder eine kurze Kleingeschichte. Schon erstaunlich, was ein wohlgesetzter Stromschlag anscheinend bewirken kann - diese geschärfte Farb- und Musikwahrnehmung!
Alles flattert irgendwie zusammen und hebt sich wie ein bunter Schwarm von Worten in den Himmel und zieht dort seine Bahnen.
Und ich Blöde kaufe immer diese teuren Drogen auf dem Schwarzmarkt, dabei müsste ich nur einmal in die Steckdose packen! :D

Nein, im Ernst, danke für deinen Wahnsinnskommentar!
Wäre doch Geschriebenes etwas Vergängliches, nicht Nachschlagbares, das wäre wirklich schön.
Das hat mich total an die eine Szene im "Liebhaber" von Duras erinnert, in der kein Foto gemacht wurde. Mal gelesen?

Aber jetzt mal in den Operationssaal. Ich habe alledings auf alles eine (sinnvolle?) Antwort (Frau halt).
Der Blick wird schärfer und es wird irgendwann die gleich dreifach verwendete „Welt“ auffallen auch buntet es sich doppelt gegen Schluss.
Jep, das hat zwei Gründe. Erstens liebt das Urwesen im Menschen ja die Wiederholung, deshalb haben Rituale sich wiederholende Strukturen, Musikstücke Refrains, Gedichte Reime, usw. Und Märchen sind wie kleine Rituale, ganz nah am Urmenschlichen dran. Ich glaube, ich kenne kein einziges Märchen, in dem nicht bestimmte Handlungen oder Erzählstränge wiederholt werden - oft drei Mal. Und da das Gedicht Märchenthemen hat, werden nicht nur "Welt" und "bunt" wiederholt, sondern auch noch "Stückchen Welt" (was zugleich einen Binnenreim erzeugt), und "weiß", und "mein zartes Grün, mein Blau" spiegelt das Gras und den Himmel aus den Quartetten wieder (auch wenn der Himmel da als magentafarben beschrieben wird), und natürlich "Sehnen". Zweitens wird in den Quartetten und den Terzetten ein starker Kontrast zwischen dem Lyri und der Welt aufgebaut. In den Quartetten wird die Welt von einem nicht darin präsenten Lyri eingefangen, in den Terzetten wird umgekehrt das Lyri in die Welt hinausgeworfen. Deswegen macht die Wiederholung der "Welt" m.E. Sinn (wohingegen "Ist" nicht stark genug wäre). Auch das wiederholte "bunt" betont den Kontrast zwischen den nicht mehr bunten Farben des Lyri und der immer noch und ewig bunten Welt.
Auch hat er, (den Doktortitel hat er nicht nur in der Klugschei … rei) nein, als Pathologe hat er natürlich auch etwas gegen „Fleisch + Knochen + Sehnen“ in ihrem eigentlichen Sinne, auch greift er reflexartig zum Telefon, wenn er das Wort Magenta irgendwo hört oder liest.
Och, was hat Herr Doktor denn gegen das arme Magenta? ;) Aber zugegebenermaßen sind mir die Finger fast an der Tastatur kleben geblieben, als ich das, und auch noch "Lichtprinz" und "Farbenherz" und "weiße Schimmel" tippte :D. Aber das musste sein, eben um den Kontrast zu den Terzetten aufzubauen, womit dann auch die unappetitlichen Bilder in den letzten drei Zeilen ihre Berechtigung erhalten (wobei, Märchen sind doch oft sehr fleischlich und blutig). Und ich brauche die Knochen, um das ambige Sehnen aufzubauen (das würde verlorengehen, wenn ich da Scherben nähme). Jetzt muss ich nur noch überlegen, wo ich den Furunkel einbaue - danke für den Tipp! :p

Jedenfalls, nochmals vielen Dank für die Beschäftigung mit meinem kleinen Gedicht, und ich freue mich, dass ich dir einen Farbtröpfchenmoment bereiten konnte :). Deine Variante hat auch etwas für sich, und da der Leser immer Co-Autor ist, hat sie auf jeden Fall dieselbe Berechtigung wie meine.

Liebe elektrisierende Grüße
von presque
 
M

Marlene M.

Gast
ohne als Purist gelten zu wollen, müssten sich in einem Sonett auch These, Antithese und Synthese inhaltlich wiederfinden.
Allemal ist ein sehr schönes Gedicht.
Zwinkergrüße von Marlene
 

presque_rien

Mitglied
Purist zu sein ist doch nichts Schlimmes! ;) Diese inhaltlichen Aspekte sind extrem wichtig, aber (wiederum nach meinem Kenntnisstand) ist es im italienischen Sonett auch möglich, dass die Quartette die These und die Terzette die Antithese bilden, ohne dass notwendigerweise eine Synthese entsteht. Das ist hier der Fall.

These: Erwach(s)en als Entfaltung des eigenen Potentials
Anti-These: Erwachsen als Verlust der Unschuld

Der Gegensatz von These und Anti-These wird duch die unterschiedliche Stimmung der Quartette und Terzette gestützt.

Ebenso gehen hier, wie in einer Reihe von Sonetten (vgl. z.B. Gryphius' "Der schnelle Tag ist hin..."), die Quartette "nach Außen" und beschäftigen sich mit der Welt, und die Terzette "nach Innen", und beschäftigen sich mit dem Lyri.

Inhaltlich würde ich also schon sagen, dass der Sonettform entsprochen wird ;).

Lg presque
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

ich danke dir sehr für deinen wie immer einfühlsamen und tiefgehenden Kommentar! Du hast die Bilder und den Hoffnungsschimmer im Gedicht genau richtig gelesen. (Letzterer wird noch vom Bezug auf das Lied von da Silva verstärkt, leider ist das Lied sehr unbekannt.) Ich freue mich auch besonders, dass dir meine ursprüngliche, zweite Fassung besser gefällt und du das Sehnen darin herausliest.
meistens zwingen wir schon von vornherein Allem unsere inneren vorgefertigten Bilder auf.
Ja, das stimmt leider! Meistens sehen wir gar nicht die Welt, sondern nur ein Schema, dass dem jeweiligen unmittelbaren Handlungszweck angepasst ist.
Zwar ist der Lichtprinz schon vorab im Innersten erschaffen, aber wie unser eigenes Farbenherz aussieht, das wird uns immer wieder überraschen, wenn es denn aus seinen Verhüllungen herausgeküsst wird.
:)

Viele liebe Grüße,
Julia
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Rhea,

ich lasse jetzt einfach mal beide Varianten stehen! Ich bin kein entscheidungsfroher Mensch, und zumindest in der Dichtung muss ich mich ja gar nicht entscheiden! Beide Varianten haben ihre Vor- und Nachteile, und ich mag beide :).

Lg presque
 

presque_rien

Mitglied
Lieber gitano,

schön, dass dir das Gedicht auch nach mehrmaligem Lesen noch gefällt :)!
im Terzett 1 steht "mein" in Terzett 2 "ihr"...hm.
"Ihr Fleisch" meint "Das (bunte) Fleisch der (meiner) Farben".
den" bösen" Wolf finde ich klanglich nicht ganz stimmig:
weil das lange und schwer klingende "ö" etwas von dem Klangschwerpunkt "Zähnen" weg nimmt.
Ja, du hast völlig Recht!!! Ich habe auch gefühlt, dass mit "böse" irgendwas nicht stimmt, konnte aber nicht den Finger drauflegen. Ich bin total begeistert davon, wie du Gedichte auf die Klangdetails hin analysierst - hoffentlich kommst du bei meinen nächsten Gedichten auch vorbei und unterziehst sie deiner phonetischen Lupe *liebguck*. Jedenfalls, "schwarz" hatte ich auch schon mal angedacht, aber das war mir auch zu "schwer" und der Kontrast zu den weißen Zähnen zu groß. "Grau" habe ich ja schon in der vorletzten Zeile. Gut gefiel mir die Variante "Zum Silberwolf", weil das die Assoziation mit dem Fleischwolf verstärkt. Aber da habe ich wiederum Angst, dass es zu esoterisch klingt - oder was meinst du? Nicht zuletzt wegen dieses "Dilemmas" war ich ganz froh, diesen Fuß einfach zu streichen ;).

Liebe Grüße,
presque
 

presque_rien

Mitglied
Lieber Herbert,

ich freue mich, dass dir mein Gedicht gefällt, und danke für deine Vorschläge!

Das richtige Adjektiv für den Wolf wird noch gesucht (siehe Kommentar an gitano) - "grau" will ich lieber nicht doppelt verwenden.

Hingegen gefällt mir die Wiederholung von "Stückchen Welt", weil das für mich gut in ein Märchenschema passt (siehe Kommentar an Spätschreiber).

Ich fürchte auch, ich bin jemand, der es Lesern gerne schwer macht ;). Deshalb würde ich nur ungerne die Ambiguität des "Sehnen" hervorheben - ich riskiere lieber, dass es von einigen nicht verstanden wird, als dass jene, die es auch so verstanden hätten, sich mit der Nase draufgestoßen fühlen. Wobei ich aber denke, dass die Doppeldeutigkeit sowieso durch die Wiederholung schon relativ klar wird.

Liebe Grüße
presque
 
M

Marlene M.

Gast
irgendwie- Stator machte mich darauf aufmerksam - habe ich wohl überlesen, dass du weiblich bist, liebe preque, obwohl du es ja extra dokumentiert hattest. Ich bitte , meine männliche Anrede zu entschuldigen. Ich wollte dich sicherlich nicht brüskieren. Ich habe es wirklich überlesen.
LG von Marlene
 

Rhea_Gift

Mitglied
Wie wärs mit "dunklen Wolf" ? Oder "finst'ren Wolf" ? Oder zum "schwarzen Wolf" - dann auch was farbig-nichtfarbig drin?
Oder "hechelnd Wolf" - oder Kontrast - zum "lächelnd Wolf" - Bezug Zähne dann auch verstärkt mit blendend und weiß (lächelnd) da...?

LG, Rhea
 

presque_rien

Mitglied
Ist nicht schlimm, liebe Marlene - passiert mir hier irgendwie öfter - obwohl ich eigentlich finde, dass ich eine sehr weibliche Art zu schreiben habe ;D. Anscheinend finde das aber nur ich.
 
G

gitano

Gast
Hallo nochmal!
Ich möchte Dir keinen konkreten Vorschlag machen –es ist ja Deine Klangidee und auch Deine Kompositionsidee (auch inhaltlich) aber ein paar Entscheidungshilfen:
Für Terzett1 Z3 (Adjektive oder Umschreibungen zu Wolf die nicht klanglich stärker wirken als „Zähnen“)
greise Wolf (man achte auf das passende „gr“)
lose Wolf (sittlich gemeint)
stumpfe (geistig)
krause (Fell, ungepflegt, rauh)
rauhe

Wenn Du aber für Terzett 2 Z2 anstelle von „grau“ etwas findest wie z:B.
und spuckt’ es in die bunte Welt so rau.

Dann kannst inhaltlich verdichten zu Knorpel etc. und das grau nach oben transferieren in T1 Z3
Reim/Klang blieben erhalten…meiner Meinung nach würde das „rau“ hier sogar noch etwas mehr „peppen“. …und wie gesagt, klanglich passt das „gr“ besser zum Wolf (also graue, greise)…solche Klangeindrücke bewegen Assoziationen (abneigende).

Der Klangschwerpunkt bliebe jeweils am Ende des Verses…so wie Du es entworfen hast.
Der Klang in Texten ist schon etwas sehr Unmittelbares…
Vielleicht genügt dies für eine Inspiration…
Gern lasse ich Deine Texte in mich hinein klingen.
Liebe Grüße
gitano
 

presque_rien

Mitglied
Lieber Herbert, lieber gitano,

vielen Dank für eure coolen Ideen, und tut mir leid, dass ich erst jetzt antworte - ich brauchte etwas Abstand von dem Gedicht.

Ein "gr"-Wort vor dem Wolf ist echt ne gute Idee. Hmm, aber leider kann ich das "grau" in der vorletzten Zeile nicht ändern, denn es ist zentral, dass das Fleisch der Farben jetzt grau ist.

"Zum greisen Wolf" gefällt mir auch sehr gut! Das ergibt dann auch ein schönes klangliches Wechselspiel mit "weiß", und betont den Aspekt des Alterns.

Aber ich glaube, am meisten gefällt mir jetzt "Isegrim"! Ich hatte ganz vergessen, dass es dieses Wort gibt - danke!

Ich ändere's mal. Hoffe, es gibt jetzt keine Proteste.

Lg presque
 



 
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