Ich glaube nicht, Ji Rina, dass es hier darum geht, dass der stärkere gewinnt.
Ich sehe diesen Text eher als Versuch, den Täter zu zeigen. @ali hat in seinem Eingangspost so herrlich und wunderbar die Standardknöpfe gedrückt.
ein Irrer, in dessen Hirn etwas herumschwappt, für das "Scheiße" ein noch viel zu freundliches Wort ist
Erst mal kräftig und laut genug ein Pamphlet anrühren, andere werden schon noch mitmachen. Hat immer geklappt. Hat es auch diesmal geklappt? Ich bin mir nicht sicher.
Nein, ich möchte den dargestellten Inhalt (Bombenattentat auf einen besuchten Markt)
nicht gutheißen.
Ich habe mich aber bemüht, mich mit dem Text etwas differenzierter auseinanderzusetzen.
Sind diese Attentäter oder – sagen wir es beim Namen – Terroristen, wirklich „nur“ Irre? Nur „Scheiße“ im Kopp, wie @ali so scheinbar trefflich formuliert?
Ich denke mal: Nein.
Spätestens sei 9/11 wissen wir, dass da auch hochgebildete Menschen dazugehören.
Seit „New York“ erleben wir eine neue „Qualität“ des Terrorismus.
Aber wie setzen wir uns damit auseinander? Sie werden abgestempelt als Idioten. Beweggründe werden nicht hinterfragt.
Eine Hochzeitsgesellschaft stirbt unter Bomben.
Ein liegengebliebenes Auto wird zur Bombenfalle.
Nur zwei weitere Beispiele.
Aus Sicht der betroffenen Bevölkerung – ebenfalls Terrorismus?
Nein, wir nennen es (süffisant) Kollateralschaden.
Was, zur Hölle, ist der Auslöser für diese Gewaltakte?
Jede Seite glaubt sich im Recht.
Jede Seite ist der Überzeugung, das Richtige zu tun.
Jede Seite sieht - keinen anderen Lösungsweg.
Aber was, zur Hölle, ist (oder war) der Auslöser?
Wir (damit meine ich pauschal Deutschland / Europa / die westliche Welt) schotten uns ab, versperren uns vor den Greuel in der „anderen Welt“, versuchen es, zu ignorieren. Aber wir sind daran beteiligt. Nicht nur mit Waffen und Rüstungsexporten. Wir bildeten diese Leute aus, unterstützten sie logistisch, lieferten Informationen.
Und wenn es dann doch hierher kommt, sind wir entsetzt. Warum? Wir leben in einer globalisierten Welt, da ist es doch nur logisch.
Im ersten Golfkrieg (1990-91) ging es faktisch um wirtschaftliche Interessen. Kuwait war ein wichtiger Öllieferant. Aktivisten skandierten: „Kein Blut für Öl“. Nutzlos, es wurde doch vergossen.
Aus dieser „Region“ stammen vorgeblich die Terroristen, die für 9/11 (2001) verantwortlich zeichnen.
Innerhalb von drei Tagen wurde der „Patriot-Act“ durch sämtliche Instanzen der USA gepeitscht und zum Gesetz gemacht. Das Guantanamo-Lager entstand 2002.
Rechtsstaatlichkeit – ausgeblendet.
(Zum Vergleich: Präsident Obama hat es in Acht Jahren nicht geschafft, ein gesetzliches Gesundheitssystem zu etablieren)
Durch gefälschte Beweise zettelten die US-Machthaber 2003 den zweiten Golfkrieg an.
Opferzahlen in der Zivilbevölkerung wurden nie wirklich bekannt gegeben, schätzungen schwanken zwischen 150.000 und über 1 Million.
Kann man da noch zwischen „Gut“ und „Böse“ unterscheiden?
In Afghanistan starben um 2010 deutsche Soldaten bei ihren Einsätzen. Andere Soldaten posierten mit Totenschädeln. Horst Köhler tritt zurück, als herauskommt, das am Hindukusch wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen.
Und nun, nach all diesen Verflechtungen, sehen wir uns mit Terrorismus konfrontiert. Und wir lassen uns erzählen, die Leute, die diesen Terrorismus betreiben, seien alle Vollidioten. Und wir gehen hin, und glauben, vor lauter Angst, denen, die die Ängste schüren.
Da werden Asylheime angesteckt, Flüchtlingsunterkünfte gehen in Flammen auf, private Wachschutzleute prügeln Asylanten Krankenhausreif.
Und wir stehen hier, und zerreißen uns gegenseitig bei einer Diskussion um einen Text, in dem uns der Autor zeigt: Dieser Attentäter ist auch nur ein – Mensch.
Ist es das, was uns hier so entsetzt? Diese Feststellung – diese mögliche Erkenntnis?
In diesem Text wird uns ein Mensch gezeigt, der aus irgendeinem Grund (den ich nicht als „Entschuldigung“ sehen will) etwas grauenhaftes tut (welches ich nicht gutheißen will).
Warum machen wir uns nicht die Mühe, die dargestellten Argumentationsketten zu hinterfragen? Warum fällt es uns so sehr viel leichter, Terroristen als Schwachköpfe mit „Scheiße im Hirn“ abzufertigen?
Leider gibt uns dieser Text auf diese Fragen keine Antworten.
Gibt dieser Text auch keine Antworten auf die Frage, wie man sich gegen den Terrorismus erfolgreich zur Wehr setzt? Wie man den Terror „ausmerzt“?
Wir schmeißen doch Bomben um Bomben auf die Keimzellen dieser „Terrorbruten“, warum nutzt das nichts?
Weil Bomben nicht die Lösung sind?
Weil dort Menschen leben, auf die die Bomben geschmissen werden?
Weil es egal ist, ob wir die Bomben selber schmeißen, oder sie an die Bombenwerfer verkaufen?
Weil diese Menschen sich zu „wehren“ glauben?
Dies wäre das entsetzlichste Resummee diese Textes. Wäre das vorstellbar? Wäre das eine mögliche Erklärung?
Das würde ja bedeuten – wir sind selber schuld?
Aber nein, das kann nicht sein. Wir sind doch die „guten“.
Wir schicken Flüchtlingskinder doch nicht aus Boshaftigkeit wieder zurück in ihre Länder.
Wir zerschießen Flüchtlingsboote, um den Schleppern das Handwerk zu legen.
Nun ja, brennende Asylheime sind halt ein Ausdruck unserer Willkommenskultur und gehören im Zuge der freien Meinungsäußerung zum Grundgesetz.
Manch einer wird sich jetzt fragen:
Was hat das alles mit diesem Text zu tun?
Alles. Es ist fast eine vorprogrammierte Denkschablone. Texte, in denen ein Terrorist eine Hauptrolle spielt, „dürfen“ einfach nichts taugen.
Es sei denn, es kommt plötzlich ein Superheld, der alle rettet und den Terroristen tötet.
Hmm, Tötungsbefehl – hatten wir auch schon.
Wer jetzt gerade an Salman Rushdie denkt, dessen „Kopfgeld“ (seit 1988 ausgesetzt) bei mittlerweile fast 4 Million Dollar liegt, täte gut daran, sich auch noch an den Tötungsbefehl für Osama bin Laden zu erinnern.
Nein, ich weine dem Typen nicht nach – aber „Rechtsstaatlichkeit“ geht etwas anders.
Käme irgendjemand auf die Idee, die Amerikaner würden uns „terrorisieren“, indem sie „Bedingungen“ diktieren? Beim Besuch des Präsidenten – es werden Gulli-Deckel zugeschweißt, niemand darf hinter der Gardine stehen, überall sind Scharfschützen postiert ... und wir werden auch weiterhin abgehört. Und warum machen sie das? Weil sie es können.
Vorratsdatenspeicherung. Schlagwort für „zur Terrorabwehr“. Hatten die Franzosen seit Jahren und hat ihnen nichts genutzt.
Uff – ich will mal langsam zum Ende kommen.
Texte wie dieser sind kritisch. Hier werden gewohnte Denkschablonen angeregt – hier wird der Leser angeregt, über die Denkschablonen nachzudenken.
Nein, ich will hier keine Lanze für den Terrorismus brechen.
Ich verabscheue Gewaltanwendungen in jeglicher Form.
Aber im dargestellten Text geht es weniger um den Gewaltakt, es geht mehr darum, das derjenige, der diesen Terrorakt ausführt, ein ganz normaler Mensch ist.
Dies löst nach reiflicher Überlegung bei mir aus oben aufgeführten, querverketteten Argumenten den Wunsch aus, mein bisheriges Denkmuster zu hinterfragen.
Ein Terrorist ist kein Terrorist weil er dumm ist. Er ist es aus einer uns unverständlichen Überzeugung.
Die Ursprünge für diese Welle der Gewalt ist wesentlich vielfältiger und lässt sich nicht durch einfache „Gut und Böse“-Litaneien erklären.
Mit Pauschalverurteilungen (alle Islamisten sind Terroristen) gehen wir den falschen Rattenfängern auf den sprichwörtlichen Leim.
Die Lösung für das Problem des Terrorismus muss eine andere sein, als alles, was nach „böse“ aussieht, niederzubomben.
Damit schließt sich wieder der Kreis zu Dir, Ji Rina:
Falls es darum geht, Gewalt nur an Gewalt zu messen - Gewalt, durch vorherige Gewalt, "zu verstehen", na dann, nur zu...Der stärkere gewinnt.
Möge Gott, welcher auch immer, uns beistehen, führen und leiten, damit wir endlich diese Schablonen aus Hass und Gewalt, die sich gegenseitig aufrechterhalten, abstreifen und niederlegen.
Wir brauchen keine neue braune Leitkultur des Schreckens.
Ich habe Angst um die, die nach mir kommen. Ich habe keine eigenen Kinder, aber ich habe Nichten und Neffen.
Und wenn ich mich in diesem, unserem Lande, umschaue, dann sehe ich eher den braunen, gewalttätigen Mob als Gefahr für uns. Diese Hassprediger, dies Un-Menschen.
Dazu zähle ich auch jene, die fordern, derartige Texte zu entfernen, zum Wohle von – was auch immer – Heuchelei.
Jetzt habe ich auch ein Pamphlet verzapft, bin mal neugierig, wen es alles sauer aufstösst.
Und ja, es sieht oberflächlich so aus, als hätte es nichts mit dem Text zu tun. Aber all diese Dinge kamen mir genau durch diesen Text in den Sinn.
Ich habe keine Patentlösung gegen Terrorismus.
Ich heiße Gewalt in keiner Form „gut“.
Ich bringe kein Verständnis für Terroristen auf.
- Ich danke @aligaga für seine wundervolle Demonstration von Vorurteilen.
- Ich danke DocSchneider, die als erste eine tollerantere Haltung zum Text eingenommen hat.
- Ich danke Wipfel, der zwar vom Text an sich abgestossen ist, sich aber dennoch die Mühe machte, die schriftstellerische Qualität etwas unter die Lupe zu nehmen.
- Ich danke Ji Rina, die sich mehrfach mit dem Text auseinandersetzte und sich redlich bemüht, ihn zu verstehen. Ich weiß nicht, ob meine ellenlangen Ausführungen Dir behilflich sind.
- Und jetzt sehe ich auch noch Petra, deren Kommentar aufbaut. Ich ahne, dass sie den Text ähnlich betrachtet wie ich. Ich danke Dir.
- Ein Danke gilt vor allem Isegrims, der sich diesen Text hat einfallen lassen und uns präsentiert. Vermutlich wohl ahnend, welch eine Lawine er damit lostritt. Daumen hoch.
Allen noch eine angenehme Nachtruhe
und schöne Träume von grünen Frühlingswiesen und Märchen-Prinzen und –Prinzessinnen.
Grüße aus Westfalen
Frank