Weg des Lebens
Die elektronische Schiebetür schloss sich lautlos hinter Jonathan. „Morgen zusammen“, begrüßte er seine Kollegen, während er seinen Mantel an der Garderobe aufhängte.
„Morgen, Jonathan“ ... „Morgen, Jo“...“Hi, Jonathan“, erklang es aus den verschiedenen Ecken des modern eingerichteten Büros. Der Duft von frischem Kaffee hing in der Luft – ein Zeichen, dass der Kantinenautomat wieder funktionierte.
„Was gibt’s heute?“ fragte Jonathan und ließ sich auf seinem Drehstuhl nieder. Er berührte kurz sein Datapad, und der Rechner erwachte leise surrend zum Leben. Ein weiterer Bildschirm flackerte kurz, und Sabrina, die Web-Soziologin, begrüßte die Anwesenden. Sabrina arbeitete im Home-Office und war schon über zwei Jahre im Team.
„Thomas muss heute etwas früher gehen. Ansonsten steht der Fall ‚Schienbacher gegen Global-Investment-Company’ an“, informierte ihn Julia, seine Assistentin.
„Fakten?“ erkundigte sich Jonathan. „Und Kaffee – ich brauche Kaffee.“
„Kommt sofort.“ Julia lächelte. „Hier, Chef.“ Sie goss ihm seine Bürotasse voll mit lebensnotwendigem Koffein und schob ihm die Tasse über den Glastisch zu.
„Nun zu den Fakten. Erst einmal der Vater: Walter Schienbacher ist im Jahr 2002 geboren und in verschiedenen sozialen Brennpunkten aufgewachsen. Eher schlechte Abschlussnoten der Staatsschule. Zuerst Beschäftigung als Tagelöhner auf Spargelfeldern, etc. Dann, 2022, eine Anstellung als Gebäudereiniger bei der Firma Karstenbau. Kurz darauf heiratete er die Marokkanerin Nuheila Jahem – mittlerweile Nuheila Schienbacher.
Geburt des gemeinsamen Sohnes Karim im September 2024. Jetzt, achtzehn Jahre später, steht Karim vor dem Abschluss der Staatsschule. Wohnhaft in Terrensdorf.“
„Gute Noten?“
„Mittelmaß. Er wird aller Voraussicht nach kein Stipendium und somit auch keine Chance für ein Studium bekommen, wenn sein Vater nicht etwas Geld gespart hätte. Es reicht nicht für ein komplettes Studium an einer Elite-Uni – aber es reicht für uns.“ Julia lächelte „Global-Investment-Company hat morgen einen Profiling-Lauf. Es werden sieben Kandidaten für ein Stipendium ausgewählt.“
"Und natürlich wird unser Kandidat dabei sein!" Jonathan war guter Dinge.
"Falls wir Erfolg haben. 24-Stunden sind ein sehr enger Zeitrahmen." gab Markus, der junge Systemprogrammierer, zu bedenken. Er saß am nächsten Schreibtisch und hatte bisher nur zugehört.
"Es wäre nicht das Erste mal, dass wir so knapp ein Profil umgesetzt bekommen." Sabrina schien sehr zuversichtlich.
"Nun, auf uns wartet viel Arbeit. Schauen wir uns als erstes die G-I-C an. Welche Profiling-Software?“ Die Frage richtete sich an Markus. Die großen Unternehmen fällten Personalentscheidungen nur noch mit Profiling-Software und deren Fähigkeit, das Netz nach relevanten Fakten zu durchsuchen.
„Recog Vers. 3.4 – also die neueste Version von New-Public-Soft“, erklärte Markus. Alle kannten sie die neue Software. Norman Trunt, Firmenleiter von New-Public-Soft, bewarb das Produkt mit etlichen Videoclips im Netz.
„Haben wir die Parameter?“ fragte Jonathan.
„Gescanned und ausgewertet“, antwortete Markus.
„Gut, schieß los.“ Jonathan nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
„Als erstes haben wir eine Genüberprüfung. Diese basiert auf den Genprofilen aller Bundesbürger und den entsprechenden Erbmerkmalen. Ich habe Karims Genprofil mal gecheckt – keine Katastrophen – aber auch nicht besonders top.“
„Ansatzpunkte?“
„Es gibt natürlich ein paar einzigartige Genkombinationen, wie bei jedem Menschen. Ich habe vier Studien vorbereitet, die sich auf diese Genfaktoren beziehen, teilweise hilfreich war die eher untypische Kombination Deutschland-Marokko. Unterschrieben habe ich die Studien mit gehackten Uni-ID`s. Allesamt attestieren Karim eine überdurchschnittliche Intelligenz, gutes Sozialwesen und perfekte Lebenserwartung. Die Studien liegen schon auf unseren Stand-By-Servern und wurden bereits von den Bots der Suchmaschinen erfasst. Damit bekommt Karim bei der Genüberprüfung Bestnoten.“
„Gute Arbeit. Welche Parameter gibt es sonst noch?“
„Zum größten Teil die üblichen. Bisherige Tätigkeiten fließen in die Bewertung mit ein. Aber das ist Sabrinas Fach.“
„Ja, bin auch schon fast fertig.“ Sabrina lächelte in die Web-Cam. “Die Berichte sind vorhin schon als Mail zu dir raus. In der Grundschule Karim Schienbachers gab es im Jahr 2031 einen Datenverlust – ich konnte ihn nachträglich als Klassensprecher eintragen. Da nebenschulische Vereinstätigkeiten erst ab 2037 protokolliert werden, habe ich ihn zudem von 2033 bis `37 für vier Jahre in sportlichen und intellektuellen Mitgliedslisten eingetragen. Für die restliche Zeit habe ich auf drei Vereinslisten unserer Dummy-Vereine zugegriffen, die wir schon bei früheren Fällen benutzt haben. Karim ist seit kurzem – ich meine natürlich seit fünf Jahren – Mitglied namhafter Vereine wie dem „Schwarz-Weiß-Schach e.V.“, dem „Ball-Läufer e.V.“ und sogar Kassenwart im „Globalen Heimatverein".
Soziale Online Kompetenz beweist Karim neuerdings über seine Moderatoren-Tätigkeit im Forum einer Clan-Seite. Durch E-Sports zeigt er Aufgeschlossenheit, schnelle Auffassungsgabe und moderne Lebenseinstellung.“
„Reicht das?“ wollte Jonathan wissen.
„Für ein Stipendium wohl noch nicht. Aber ich konnte aus dem Jahr 2040 einen „Jugend forscht 2.0“-Beitrag finden, der nur eine sehr vage Teilnehmerdefinition aufweist. Mithilfe zwei weiterer fingierter Verweise haben wir eine Spur zu Karim gelegt. Kurz: Er hat mit anderen Jugendlichen den 4. Platz bei Jugend forscht 2.0 belegt.“ Sabrina lächelte.
„Gut, soweit zu seinem außerschulischen Engagement. Was gibt es sonst noch an Kriterien?“
„Das Einkaufsverhalten. Moment ich rufe die Daten ab.“ Markus betätigte sein Datapad und eine lange Liste scrollte auf seinem Bildschirm.
„Verdammt.“ entfuhr es ihm.
„Was ist?“ Jonathan versuchte, etwas auf dem Bildschirm zu erkennen.
„Das sind nur Videospiele – und Jeans, Hemden, Schuhe – Karim hat in den letzten Jahren fast nur Schuhe und Videogames gekauft.“
„Wie biegen wir das jetzt hin?.“ Jonathan rieb sich nachdenklich das Kinn. Er nahm einen Schluck Kaffee und dachte nach. Beim zweiten Schluck hatte er eine Idee. „Wir haben doch bereits mit diesem Kinderheim zusammengearbeitet – die schulden uns noch etwas. Ruft da mal an. Die sollen eine nachträgliche Sachspendeninformation noch heute beim Finanzamt einreichen – Spende: sämtliche Videospiele, die Karim in der Vergangenheit erworben hat, datiert auf die letzten Jahre – Spender ist natürlich Karim Schienbacher.“
„Wird gemacht. Was ist mit den Mode-Artikeln? Auch spenden?“
„Nein, das kauft uns die Software nicht ab. Da hilft uns unsere gute alte Website „Sozio-Line.info“. Thomas, kümmer’ dich bitte um die Veröffentlichung einer Kurzstudie, nach der Jugendliche mit Modebewusstsein allgemein – speziell mit Karims Modegeschmack – hervorragende Betriebsleiter abgeben.“
„Hm?“ Thomas war der älteste des Teams und wirkte noch nicht ganz wach.
„Bring’ die Studie in den Suchmaschinen nach oben. Das hat jetzt höchste Priorität. Schmeiß’ deine Backlink-Generatoren an und optimier’ den Text der Studie für Search-Bots, insbesondere für die vorgegebenen Suchwörter der Recog Software – morgen muss die Studie in den Top-Ten der Ergebnisse stehen.“ Jonathan nahm noch einen Schluck Kaffee, während Thomas sich mit einem kaum hörbaren Stöhnen seinem Computer zuwandte.
„Gibt es sonst noch Parameter?“ erkundigte sich Jonathan.
„Tja – die Schulnoten.“
„Einfluss in Prozent?“
„Ca. 22 % der Auswahl.“
„Das gibt uns reichlich Raum für Gegenanalysen. Dennoch möchte ich auf Nummer Sicher gehen. Stellt ein paar Notenspiegel-Listen ins Netz, bei denen Karim eindeutig gut abschneidet.“
„Kein Problem. Allerdings macht mir die neue Profiling-Software noch ein wenig Sorgen. Es gibt einen sogenannten `Social-Check` für Lehrkörper.“
„Davon stand neulich was in der Zeitschrift „Search“. Was schlägst du vor?“
„Vielleicht den Blog eines Lehrers, der Karim als besonders fleißigen Schüler in Erinnerung hat. Blogs lassen sich leicht datieren und liefern viel Textmaterial an die Scannsoftware“
„Gute Idee“, meinte Jonathan „Am besten legst du den Blog so bald wie möglich an. Jetzt zu Nuheila Schienbacher, seiner Mutter – stellt auch ein paar Gedichte und Kurzgeschichten auf marokkanische Webseiten, die auf die Mutter zurückführen. Ein intellektueller Elternteil sollte reichen. Können wir die marokkanischen Noten fingieren?“
„Ja, zu der Zeit, als Nuheila noch in Marokko lebte, war die Datenerfassung des Landes noch lückenhaft.“
„Sehr schön. Wie gesagt – intellektueller Background – aber nichts Radikales. Noch etwas –Terrensdorf ist eine Trabantenstadt – Plattenbau, sozialer Brennpunkt. Durchsucht das Netz nach Wirtschaftsgrößen, die Karims getuntem Profil ähneln, besonders im Hinblick auf die Herkunft. Fasst die Ergebnisse dann in einem Dossier zusammen und macht es den Suchmaschinen schmackhaft.“
„Autor des Dossiers?“
„Mindestens die „Financial Weekend“ – das Übliche – legt Spuren und Zitate des Artikels ins Netz und dann den Zeitungsbericht frei zugänglich auf einen unserer Datenserver.
Thomas – wenn du mit der Studie soweit bist, optimiere noch die restlichen Dokumente für das neue Recog – wir wollen doch, dass unsere „Wahrheiten“ auch an erster Stelle gelesen werden.
Ich wette, morgen findet die Global-Investment-Company einen neuen Kandidaten für ein Stipendium an einer Elite-Universität“, lächelnd rieb sich Jonathan die Hände.
„Chef, wir haben ein Problem“ aufgeregt starrte Markus auf seinen Flatscreen. Es war spät am Abend, Thomas war schon gegangen und sie waren nur noch zu viert im Büro.
„Stimmt was mit den Suchmaschinen-Platzierungen nicht?“ wollte Jonathan wissen.
„Keine Ahnung. Wir haben eben alles fertiggestellt und ich hab` einen Probelauf mit unserer Kopie der Recog V 3.4 gemacht, und diese Ergebnisliste bekommen.“ Markus zeigte auf seinen Bildschirm. Dort standen eine Reihe von Namen, fein säuberlich untereinander.
„Karim Schienbacher ist auf Position 16!“
„16? Auf Position 16? Wie kann das...Wieso?“ Jonathan war sprachlos.
„Ich hab keine Ahnung...ich hab alles geprüft, Parameter, Dokumente, Suchmaschinenplatzierung...“
„Gibt’s versteckte Parameter? Etwas, dass wir übersehen haben“ Jonathan biss sich auf die Unterlippe.
„Es gibt eine Subroutine – ein Unterscript der Recog 3.4 wird mit den Daten der Vorüberprüfung gefüttert und hat ebenfalls Zugriff aufs Netz. Augenblick, ich checke mal den Datenfluss.“ Markus gab Daten über das Datapad ein.
„Da haben wir es! Die Subroutine zieht sich aus dem Netz...Grafikdaten“ Markus klang verblüfft.
„Grafikdaten? Was für Grafikdaten?“ Jonathan war bis ans äußerste gespannt.
„Augenblick...da...Fotos, von den Kandidaten. Profilbilder...“ ließ Markus wissen.
„Die Gesichter der Kandidaten? Warum?“ rief Jonathan.
Markus war in seinem Element. Er rief verschiedene Seiten auf. Blitzschnell bauten sich Programme auf, spuckten Analysen aus, öffneten sich Unterprogramme als auch weitere Fenster und wurden wieder geschlossen.
„Die machen eine Gesichtsanalyse!“ verblüfft scrollte Markus durch die Bildschirmanzeige.
Mittlerweile war auch Sabrina dazugekommen.
„Eine Gesichtsanalyse? Was muss ich mir darunter vorstellen?“ fragte die junge Frau.
„Die scannen den Abstand der Augenbrauen, Form der Nase, Mundwinkel, Wangenknochen, Stirn...einfach das ganze Gesicht – und dann...“
„Ja?“
„Dann gleichen sie das mit ihren Datenservern von Gesichtsprofilen ab. Anscheinend gibt es da verlässliche Werte.“
„Du meinst, Karim ist der Software unsympathisch vom äußeren Eindruck her?“ spottete Sabrina.
„So ähnlich, ja.“
Jonathan kaute nun mechanisch an seiner Unterlippe. „Gut, zieh die Gesichtsparameter des Scripts aus der Analyse und schieb sie mir auf den Rechner. Julia, komm mal bitte“ rief Jonathan seine Assitentin.
„Komme sofort“ rief Julia von der anderen Seite des Raumes, wo sie gerade Dokumente eingescanned hatte. Julia kam zu den dreien herüber und blickte fragend.
„Du hast doch auch eine Ausbildung als Grafikerin gemacht.“
„Ja, aber das ist schon lange her...“
„Egal. Du musst uns helfen. Hier – das ist ein Foto von Karim Schienbacher - von seiner Webpage. Kannst du mit einem Grafikprogramm folgende Veränderungen an seinem Gesicht vornehmen....“
Als sie mitten in der Nacht fertig waren, luden sie das neue Bild ins Web. Nicht nur auf Karims Webpage, sondern noch in etlichen anderen Artikeln und Fotoseiten erschien „der neue Karim“, wie sie ihn nannten.
„So!“ frohlockte Markus schließlich. „Die neuen Ergebnisse unseres letzten Probelaufs sind da. Karim steht...an Platz Nummer Eins!“
Seufzer der Erleichterung gingen durch das Team.
„Mein Gott. Er sieht auf den Bildern jetzt wirklich aus wie...“ Jonathan rieb sich nachdenklich das Kinn.
„Ja, die Ähnlichkeit ist verblüffend...“ staunte Julia.
„Aber fällt das nicht auf – ich meine, das Bild sieht aus wie... und Karim sieht eben ganz anders aus.“ zweifelte Sabrina.
„Das guckt sich nur die Software an, keine Sorge.“ beruhigte Jonathan
Jonathan blickte auf das Foto, welches sie ausgedruckt hatten. Es zeigte „den neuen Karim“.
Auf dem Foto war ein junger Mann zu sehen, der beinahe aufs Haar dem Firmenchef von New-Public-Soft glich. Der „neue Karim“ hätte ein Sohn von Norman Trunt sein können.
„Ich schätze, da ist ein gutes Maß an Firmenpolitik im Spiel.“ vermutete Jonathan. „Na, Hauptsache, unsere Ergebnisse stimmen.“
„Ich frage mich nur, ob die ‚Auserwählten’ danach ihren Mann stehen...“ überlegte Sabrina. Jonathan packte gerade zusammen und die meisten Computer waren schon heruntergefahren..
„Wie meinst du das?“
„Na, wir fingieren die Auswahl – sind die Leute, die wir auf den Thron setzen, ihren künftigen Aufgaben überhaupt gewachsen?“
„Keine Sorge, da fragt später niemand mehr nach. Wir kleiden die Menschen im Prinzip doch nur neu ein. Lügt ein Schneider? Ein Friseur? Wir schaffen ein Daten-Outfit für die Welt da draußen – etwas, dass die Welt gern sehen will. Wir verhelfen Menschen zu einer neuen, einer besseren Existenz. Das Leben sucht sich seinen Weg, selbst wenn es ein digitaler ist.“
„Aber hast du nie Zweifel, dass unsere Kandidaten versagen?“
Jonathan lächelte. „Mach’ dir keine Sorgen. Sabrina – mit einem guten Profil stehen einem alle Türen offen – der Rest ist ein Kinderspiel.“ Er schaltete das Terminal ab.
Nein, er machte sich keine Sorgen – er selbst hatte schließlich nie versagt. Trotz seiner zwei Vorstrafen wegen Betruges und einem – ehemals - äußerst fragwürdigen Lebenslauf war er seit drei Jahren Abteilungsleiter bei der „Profila Nova AG“ und alles lief wie am Schnürchen. Sein – zugegebenermaßen nicht preiswertes - Profil hatte damals alle weiteren Bewerber auf diesen Spitzenjob in den Schatten gestellt – er konnte stolz auf sich sein.