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Autor: donkelmann

T. C. Boyle: Drop City

T. C. Boyle: Drop City

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Wer diesen Roman zur Hand nimmt, was gleich vorneweg sehr zu empfehlen ist, der wird sich zunächst auf zwei Geschichten einlassen müssen, die im ersten Moment nichts miteinander zu tun haben. In den sechs Teilen, in denen das Buch untergliedert ist, wird im Wechsel zunächst die Geschichte von einer Hippie-Kommune irgendwo in Kalifornien berichtet.

Dabei stehen nicht nur die zwei Personen Star und Ronnie (genannt Pan) im Vordergrund, die den Auftakt bilden. Sondern mit einem detailgetreuen Wissen um die Abläufe in solch einem Mikrokosmos, was eine Kommune ursprünglich auch darstellen sollte, gibt der Ex-Hippie Thomas C. Boyle vielen Figuren Raum in dieser Geschichte. Vielleicht ist aber gerade das der Grund, warum die Geschichte so detailliert und authentisch wirkt. So gibt es Norm und seine Frau, dem das Grundstück gehört, auf dem die Kommune lebt, der dadurch in eine Anführerrolle gerutscht ist, die er gar nicht gewollt hat. Es gibt Alfredo, den Möchte-gern-Chef der Gruppe, mit seiner Familie, es gibt die Clique der Schwarzen um Lester, denen unterstellt wird, dass sie zwar von der Kommune leben, ihr aber nichts beisteuern wollen.

Jeder Tag im sonnigen Kalifornien läuft wie der vorhergehende, und wenn die Kleinkinder mal zu lästig werden, dann werden sie mit LSD im Orangensaft ruhig gestellt. Ein Drink, der eigentlich nur für die Erwachsenen gemixt wurde. Aufregendes, abgesehen von den alltäglichen Problemchen sowie den Klagen der Nachbarn über diese verlausten Nichtsnutze oder gar eine Vergewaltigung innerhalb der Kommune, passiert nicht.

In der Parallelhandlung der anderen Teile im Buch geht es um Sess Harder, ein Mann, der für sich herausgefunden hat, dass ein Leben als einsamer Fallensteller in einer Blockhütte in Alaska das Leben ist, was für ihn nur in Frage kommt. Doch er weiß, dass es sich mit einer Frau an der Seite in der Einsamkeit auch sehr gut anfühlen kann und ist umso mehr überrascht, dass sich Pamela für ihn interessiert. Ursprünglich wollte Pamela nicht ihn, sie kannte ihn da noch nicht, sondern Joe Bosky besuchen. Der jedoch nimmt es seinem Nachbarn später übel, Pamela geheiratet zu haben.
Die Liebesgeschichte um Pamela, Sess und Joe könnte sicherlich auch alleine als spannender Roman funktionieren, wenn Norm, der Chef von Drop City, nicht die Schnauze voll von den Behörden und kein Grundstück in Alaska geerbt hätte. Er setzt allen den Floh ins Ohr, dass sie als Kommune in Alaska ein phantastisches Leben vor sich hätten, ein Leben in völliger Freiheit und Natur, unbelästigt von dem ganzen spießigen Kleinbürgertum.

Man ahnt es: an dieser Stelle werden die beiden Handlungsstränge ineinander geführt. Die Wege von Norm, Ronnie, Star und Sess kreuzen sich und das Desaster nimmt seinen Lauf. Die Hippies treffen in Alaska auf ein Umfeld, mit dem sie nicht gerechnet hatten, so hatten sie dieses Land in ihren Vorstellungen und Träumen nicht gesehen. Es kommt zu einer Vermischung mit den Einwohnern und sie werden in deren Probleme hineingezogen. Die Unterschiede zwischen einer Kommune im ewig sonnigen Kalifornien und einer in einem sechs Monate lang bei Temperaturen weit unterhalb von Null liegendem Alaska sind so gravierend, dass das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft zwangläufig sein muss.

Dass in der Kommune nicht viel passiert, ist natürlich weit untertrieben. Die detailgenaue Phantasie Boyles schafft genügend spannende Momente, die den Leser die Zeilen verschlingen lassen. Aber in der Phantasie des Autors mag zwar die Handlung in der Natur Alaskas gelegen haben, das detailreiche Wissen darüber verdankt er seinen Recherchen. Außerdem ist Boyle eines seit seiner Hippie-Zeit geblieben: die Liebe zur Natur. Auch heute noch wandert er tagelang durch abgeschiedene Landschaften.

Boyle ist ein großes Epos über ein als alternativ möglich gesehenes Gesellschaftsmodell, welches mit dem heutigen Abstand auch in seinen Augen als gescheitert anzusehen ist, gelungen. Er schreibt von Menschen, die davon reden, im Einklang mit der Natur zu leben (wie die Hippies) und von solchen, die es tatsächlich tun (wie die Einsiedler in Alaska). Boyle schreibt von Menschen, deren Naivität schier grenzenlos zu sein scheint, die damit aber nichts anderes als das blanke Chaos hervorrufen. Der Zusammenbruch der Gemeinschaft wird schließlich dadurch symbolisiert, dass die Hippies plötzlich ihre Namen auf das Geschirr kratzen, wo bis dato doch allen alles gehörte.
Ein Buch, welches unbedingt gelesen werden sollte.

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T. C. Boyle
Drop City
528 Seiten, gebunden
Hanser Verlag
ISBN-10: 3446203486
ISBN-13: 978-3446203488
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010
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Anne-Gabriele Michaelis: Nordische Dichterinnen und Dichter

Anne-Gabriele Michaelis: Nordische Dichterinnen und Dichter

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Mit dem fünften Band in der Reihe „Die Welt der Poesie für neugierige Leser“ stellt Anne-Gabriele Michaelis dieses Mal nordische Dichterinnen und Dichter vor. Nach Bänden mit den Dichtern aus drei Jahrhunderten, den Romantikern aus Schwaben, den deutsch-jüdischen Poeten und den humoristischen Versschmieden nun eine gelungene Zusammenstellung der und Information über die Dichter aus dem Norden. In flüssig und wenig lehrbuchhaft zu lesender Weise widmet sich die Autorin dem Leben und Wirken von Tania Blixen, Theodor Storm, Hans Christian Andersen und Selma Lagerlöf.

Zu keiner Zeit gelangt der Leser zur Ansicht, ein Fachbuch mit schwerem Stoff in den Händen zu halten, wie es bei so manchem Sachbuch der Fall ist. Mit interessanten Details und kleinen Anekdoten aus dem Leben der Schriftsteller plaudert die Autorin über das Heranwachsen, über die ersten Lieben, die ersten Ehen, die Musen, die sie küssten, die Werke, die sie schufen. Nur eine umfangreiche Recherche macht es möglich, mit so viel Lockerheit über das Leben dieser wahrlich in der Literatur anerkannten Menschen zu schreiben. Gespickt werden die Biografien zusätzlich kontextbezogen mit Tipps zum Weiterlesen, in denen auf besondere Verse, Erzählungen und Novellen hingewiesen wird, bei denen es sich lohnt, sie in die Hand zu nehmen.

Anzumerken ist den Texten allerdings, dass sie zeitlich unabhängig voneinander entstanden zu sein scheinen. Obwohl immer in dem lockeren Stil so wirkt die ansonsten eingehaltene chronologische Reihenfolge bei Hans Christian Andersen etwas durcheinander geraten. An manchen Stellen musste die Chronologie dem Verfolgen eines Themas weichen, wodurch dann, wenn das Thema beendet war, ein Zeitsprung eintreten musste, um in die Chronologie zurückzukehren. Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch, genauso wenig wie der fehlende Verweis auf das prominenteste Werk von Tania Blixen: „Jenseits von Afrika“.
Insgesamt ist dieses überaus kurzweilige all jenen literarisch Interessierten zu empfehlen, die ihren Blick nicht nur auf die Werke der Schriftsteller und Dichter sondern auch auf deren Biografie richten.

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Anne-Gabriele Michaelis
Nordische Dichterinnen und Dichter
Sachbuch, Taschenbuch
Engelsdorfer Verlag
ISBN-10: 3869018887
ISBN-13: 978-3869018881
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010
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T. C. Boyle: Zähne und Klauen

T. C. Boyle: Zähne und Klauen

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„Er wusste nicht, wie es passiert war – mangelnde Voraussicht seinerseits, mangelndes Engagement, mangelnde Planung, mangelnde Rücklagen für schlechte Zeiten -, aber in rascher Folge verlor er seinen Job, seine Freundin und das Dach über dem Kopf, und eines Morgens erwachte er auf dem Gehsteig vor der Post.“ („Hier kommt“)

Mit solch faszinierender Spannung, die auf das Porträt eines Verlierers hinweist, kann der Leser rechnen, wenn er sich den vorliegenden Erzählband zur Hand nimmt. Wer Boyle kennt, ist schon gespannt auf das Ende einer Geschichte, bevor er sie überhaupt zu lesen begonnen hat, bevor er weiß, wovon sie handelt. Mit diesem 2005 in den USA erschienenen Erzählband zeigt der Autor einmal mehr seinen Spaß beim Feinschleifen seiner Sätze. Novellen, Erzählungen und Kurzgeschichten haben auf der anderen Seite des Teiches einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland, wo solche Schreibübungen lediglich von preisgekrönten Schriftstellern geduldet werden. Für die Amerikaner gehören solche kürzeren Geschichten ganz einfach zu jedem Autor. Boyle ist die Lust am Gestalten dieser Geschichten anzumerken. Damit schafft er selbst in sehr kurzen Geschichten eine solche Dichte an Umfeld und Geschehen, dass man das Gefühl hat, trotzdem einen ganzen Roman gelesen zu haben. So ist es auch bei den 14 Geschichten dieses Bandes.

Bei „Windsbraut“ entwickelt sich auf einer stürmischen Insel eine romantische Liebesbeziehung zwischen einem eher zurückgezogen lebenden Inselbewohner und einer amerikanischen Vogelkundlerin, die von den Inselbewohnern nur die Frau mit den Vögeln oder die Vogelfrau genannt wird. Sehr humorvoll wird eine Romanze aufgebaut, bis es schließlich in einem Desaster endet.
In „Der freundliche Mörder“ geht es um einen Rekordversuch im Wachsein eines Radiomoderators, bei dem er die Leute auf der Straße durch ein Schaufenster zuschauen lässt.
In „Chicxulub“ erfährt ein Ehepaar vom Unfall ihrer Tochter, auf dem Weg in die Klinik leiden sie Qualen.
Meteoriteneinschläge in Sibirien und in Mittelamerika demonstrieren die Unabwendbarkeit mancher Ereignisse und erhöhen mit ihrer ständigen Unterbrechung der laufenden Handlung die Spannung, die darin besteht, zu erfahren, wie es der Tochter geht.
„Hier kommt“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der alles verloren hat und gerade auf der Straße wach geworden ist. So langsam wird ihm bewusst, dass ihn der Alkohol im Griff hat, weil alle seine Probleme verschwinden, sobald er etwas getrunken hat. Bis er schließlich ein Verbrechen beobachtet.
„Geblendet“ spielt auf den südamerikanischen Estancias, auf welcher sich ein Wissenschaftler an die Untersuchung der UV-Strahlung macht. Doch so unaufhörlich er den Estancieros von den negativen Auswirkungen der Strahlung auf Mensch und Tier predigt, so unnachgiebig muss er von einer Estancia zur nächsten ziehen.
„Gegen die Wand“ wird sprichwörtlich das Leben eines jungen Mannes gefahren, der sich vor dem Vietnamkrieg drückt, vom Kiffen auf harte Drogen umsteigt und nichts anderes als Rausch im Sinn hat, obwohl sich ihm Alternativen bieten.

Fingerübungen sind diese Geschichten vom amerikanischen Autor, der selbst einen Großteil seiner Jugend als Hippie durchlebte, allemal. Dem Boyle-Leser wird die eine oder andere Figur nicht ganz fremd vorkommen. So weisen die Inselbewohner in „Windsbraut“ eine gewisse Ähnlichkeit mit den kauzigen Einwohnern des Alaska-Örtchens Boynton auf und von dem rauschbesessenen Typen in „Gegen die Wand“ gibt es in „Drop City“ gleich eine ganze Kommune. Die Geschichten gleichen Charakterstudien, die früher oder später den Protagonisten und Antagonisten in seinen Romanen als Grundlage dienen. Die behandelten Themen sind sehr vielschichtig und obwohl so manche von ihnen mit einem Desaster endet, in welcher der Protagonist ein Chaos hinterlässt, sind viele sehr humorvoll geschrieben und treiben dem Leser ein Schmunzeln oder gar die Tränen ins Gesicht. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er nicht alles so ernst nehmen sollte, wie es am Ende aussieht. Boyle ist perfekt in der Lage, mit dem zwinkernden Auge und eine alle Sinne ansprechende Weise seine Geschichten an die Leser zu bringen.
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T. C. Boyle
Zähne und Klauen
384 Seiten, broschiert
DTV, Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3423211946
ISBN-13: 978-3423211949
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Truman Capote: Sommerdiebe

Truman Capote: Sommerdiebe

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Der Roman erzählt die Geschichte der schönen, reichen und widerspenstigen Grady, einem 17-jährigen Mädchen von der Upper East Side New Yorks. Sie hat einen ganzen Sommer sturmfreie Bude, denn die Handlung beginnt, als Grady zusammen mit ihrer Schwester die Eltern auf ein Kreuzfahrtschiff begleitet, weil diese mit der „Queen Mary“ eine mehrmonatige Reise nach Europa antreten. Obwohl sich die Mutter sorgt, die Tochter, die nach den Ferien ihr gesellschaftliches Debüt in der oberen Gesellschaft bestreiten soll, alleine daheim zulassen, kann sie dem Willen ihrer Tochter nichts entgegen setzen.

Noch bevor der Ozeanriese in See sticht, lernen wir den langjährigen Freund und ehemaligen Spielgefährten Gradys kennen und ahnen, dass zwischen ihnen eigentlich mehr als nur eine dicke Freundschaft stecken müsste. Doch es vergehen viele Wochen und die Hitze des Sommers im flirrenden und brodelnden New York, bis Grady in einem Anflug von Schimmer auf solche Gedanken kommt. Grady lernt in dieser Zeit ihre Heimatstadt von einer anderen Seite kennen, lernt Menschen kennen, die bislang in ihrem Umfeld keine besondere Rolle spielten.

Erst 2004 ist das ein halbes Jahrhundert verborgen gebliebene Manuskript dieses Erstlingswerks des amerikanischen Schriftstellers (bekannt geworden mit „Frühstück bei Tiffany“) wieder an die Oberfläche gelangt. Er selbst hatte immer wieder Andeutungen gemacht, dass er mal einen ganzen Roman vernichtet hatte, weil er ihn nicht für veröffentlichungswürdig hielt. Die Literaturexperten waren nach dem plötzlichen Auftauchen des Manuskripts ganz anderer Meinung. Zeugt der Roman doch von einer Reife, die für ein Erstlingswerk ungewöhnlich verfestigt scheint. Doch wäre an dieser Stelle auch anzumerken, dass das Manuskript zwar 1943 begonnen wurde, jedoch feilte Capote noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein daran, obwohl er zwischenzeitlich längst Erzählbände herausgebracht hatte.

Mit sensibler Wortakrobatik und einer eigenen Stilistik, die sich in grammatikalisch falscher Interpunktion äußert, wird das Leben dieses jungen Mädchens mit all seinen Wünschen und Träumen gezeigt. Capote führt den Leser von einem Bild zum anderen und lässt ihn am Leben der Upper Class teilhaben. Lange, verschachtelte Sätze, die aber nie so lang sind, dass man den Anschluss verliert, gestalten Bilder von der drückenden Hitze im Central Park oder dem Vorbehalt der Mutter während der anfänglichen Trennungsszenen. Malerisch lässt Capote seine Protagonistin bekifft durch die Augen die Welt betrachten.

Doch so schön und gelassen sich anfangs noch die „heile Welt“ eines jungen Mädchens mit ihren Schulmädchenproblemchen ausnimmt, umso rasanter geht es mit den Gefühlen zu, je mehr Seiten umgeschlagen werden, bis der Leser schließlich einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr aussteigen kann, an dem ihn die Spannung festhält und er wissen möchte, welchen Weg Grady einschlägt.
Eine kurze und packende Sommergeschichte, die das Bild einer Gesellschaft zu Mitte des vorigen Jahrhunderts widerspiegelt und auf ein spannendes Ende hinausläuft.
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Truman Capote
Sommerdiebe
145 Seiten, gebunden
Kein & Aber
ISBN-10: 3036951571
ISBN-13: 978-3036951577
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Siegfried Lenz: Fundbüro

Siegfried Lenz: Fundbüro

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Henry Neff, ein junger Mann Anfang Zwanzig und in seiner Art ein Aussteiger aus dem System, hat den Platz in seinem Leben, an dem er sich wohlfühlt. Er arbeitet im Fundbüro am Hauptbahnhof. Zwar hatte auch er sich anfangs gefragt, was das wohl für ein Arbeitsplatz wäre, auf den er sich beworben hatte und den er anstrebte. Aber dann stellt er fest, dass es Spaß macht und befriedigen kann, sich mit all den verlorenen Gegenständen und mit den damit verbundenen Lebensgeschichten ihrer Verlierer zu befassen. Dabei trifft er auf so sympathische Leute, dass er manchmal in seine eigene Tasche greift, um die für die Herausgabe fälligen Gebühren zu zahlen. In Gesprächen mit Kollegen, Verwandten und Bekannten lässt er unmissverständlich anklingen, dass er nicht daran interessiert ist, das Spiel von der Karriereleiter mitzuspielen. Selbst sein Chef geht anfangs davon aus, dass Henry nur ein durchlaufender Mitarbeiter wäre. Henry jedoch beweist das Gegenteil.
Doch eine heile Welt, wie Henry sie sich wünscht, sind auch der Arbeitsplatz im Fundbüro und der Kiez, in dem er lebt, nicht. Irgendwann muss er erkennen, dass er sich nicht immer nur heraushalten und von den netten Geschichten im Fundbüro leben kann.

Eine ruhige und einfühlsame Geschichte, wie von Siegfried Lenz nicht anders zu erwarten. Ein filigranes Wortspiel, wenn vom interessanten Leben der „Verlierer“ gesprochen wird, mit einer Doppeldeutigkeit, wie sie selten zu finden ist und die dadurch eine Art von Humor an den Leser vermittelt, auf die er sich zurückgelehnt einlassen kann. Das Fundbüro als Mikrokosmos der heilen Welt, die doch so leicht von außen bedroht werden kann. Beim Dahingleiten im Text mit seinem beruhigenden Schreibstil hatte ich das Gefühl, dass die Geschichte wie Öl die Speiseröhre hinunter läuft. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Menschen im Buch soviel Gemeinsames mit den Menschen in meinem Bekanntenkreis haben, dass es nicht um Helden und Antihelden geht, sondern um „Normalos“ in der heutigen Gesellschaft.

Ein schnell zu lesendes Buch mit einem ironischen Blick auf die heutige Gesellschaft, welches für jede Stimmungslage empfohlen werden kann.
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Siegfried Lenz
Fundbüro
335 Seiten, gebunden
Hoffmann und Campe
ISBN-10: 3455042805
ISBN-13: 978-3-455-04280-1
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Klaus Stickelbroeck: Fischfutter

Klaus Stickelbroeck: Fischfutter

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Protagonist des neuen Krimis aus der Feder des Düsseldorfer Polizisten und Autors Klaus Stickelbroeck ist erneut der Privatdetektiv Hartmann, ein ehemaliger Fußballer von Fortuna Düsseldorf, der sich nach einem Unfall beruflich umorientieren musste. Sein ehemaliger Trainer Budde, genannt Buddel, der mittlerweile als Obdachloser im Brückenpfeiler der Hammer Eisenbahnbrücke im Düsseldorfer Hafen lebt, wird Zeuge eines Mordes, der seiner Meinung nach von Polizisten begangen wurde. Die Angst treibt ihn zu Hartmann. Dieser, gerade dabei einen Ladendiebstahl aufzuklären, gewährt ihm Unterkunft. So richtig mag er die obskure Geschichte seines alten Trainers nicht glauben, bis er schließlich von der an der Kaiserswerther Fähre angespülten Leiche erfährt. Das macht ihn neugierig und er muss feststellen, dass diese Leiche eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von Buddel beschriebenen Mordopfer hat. Diese Neugier lässt ihn auf eigene Faust und ohne Auftrag ermitteln. Letztendlich ist ihm nicht daran gelegen, Buddel auch aus dem Rhein fischen zu müssen, zumal dieser plötzlich aus der Wohnung verschwunden ist.

Nun beginnt eine wilde Raserei, die das Buch auf jeden Fall für jeden Düsseldorfer lesenswert macht. Aber nicht nur, denn als Krimi ist auch für Nicht-Düsseldorfer genügend Spannung und Action dabei, um es nicht aus der Hand zu legen. Mit Augenzwinkern und Humor werden Plätze, Milieus, Gegenden und Personen beschrieben, die mehr oder weniger jedem bekannt sind und in ähnlicher Weise in jedem Ort existieren.
Wenn man den Protagonisten selbst beschreiben sollte, dann könnte man aus Zeitgründen den Privatdetektiv und Antiquar Wilsberg aus Münster bzw. der gleichnamigen ZDF-Fernsehserie bemühen. Immer klamm in der Kasse, immer einen flotten Spruch auf den Lippen und immer den richtigen Riecher. Dabei aber ein sehr offenherziger und engagierter Mensch. Hartmann ist eine Figur, die viel Sympathie erzeugt. Mit von der Partie ist wieder Krake, der einarmige Wirt aus der Stammkneipe von Hartmann. Krake ist mittlerweile ein Markenzeichen für alle Geschichten, an denen der Autor mitwirkt, denn Stickelbroeck ist nicht nur solo „unterwegs“, er gehört auch zu den Krimi-Cops, den sechs netten Polizisten, die gemeinsam Krimis schreiben.

Flüssig und rasant lesbar ist der vorliegende Krimi auch wegen des umgangssprachlichen Schreibstils. Wenn dem Erzähler solche Gedanken wie „Hartmann wartete ein paar Sekunden, aber Schotter ließ sich bitten. Na gut.“ heraus rutschen, dann hat die Geschichte etwas von dem, als würde sie abends am Tresen erzählt werden. Und zu erzählen gibt es jede Menge. Schließlich ist der Protagonist ein fleißiger Ermittler. So habe ich beim Lesen insgesamt fünf Fälle gezählt. Mit dabei: Ladendiebstahl, Mord, Erpressung, Mädchenhandel und der Big Bang. Spannend bleibt es also immer und trotz aller Erfolge in der Aufklärung der Fälle bleibt für mich noch eine Frage am Schluss: Bekommt der erfolgreiche Hartmann tatsächlich seinen Führerschein nicht zurück?

Zusatzempfehlung: Zuerst hinten im Buch die Liste der gespielten Musiktitel aufschlagen, die Musik als MP3 zusammenstellen und anschließend beim Lesen an den entsprechenden Stellen einspielen. Damit rückt der Leser noch mehr an Hartmanns Gefühle. … Oder die des Autors?
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Klaus Stickelbroeck
Fischfutter
273 Seiten, Softcover, Taschenbuch
KBV Verlag
ISBN-10: 3940077836
ISBN-13: 978-3940077837
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Jennifer Lauck: Der Sommer liegt noch vor dir

Jennifer Lauck: Der Sommer liegt noch vor dir

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Die Mutter des fünfjährigen Mädchens Jenny ist schwer krank, jedoch verstehen sich beide gut. Nur mit ihrem älteren Bruder, der ihr schroff und abweisend gegenüber ist, hat sie so ihre Probleme. Der Vater wiederum ist sehr liebevoll zu ihr. Für eine schwere Operation der Mutter zieht der Vater mit den Kindern in die Stadt mit der Klinik. Die Therapie ist langwierig und mehrfach wechselt die Mutter zwischen Klinikaufenthalt und Aufenthalt daheim. Dabei kümmert sich die kleine Tochter, sie ist inzwischen etwas älter geworden ist, um die Mutter, sie wäscht sie manchmal, sie reinigt ihr Bett, macht das alles ohne Meckern und Murren. Ihr großer Bruder aber stänkert immer noch und erzählt ihr, dass sie nicht seine richtige Schwester wäre, sondern adoptiert ist.

Nachdem die Mutter verstorben ist, zieht der Vater mit den Kindern nach Los Angeles, aber die Großstadt gefällt Jenny nicht. Der Vater lernt eine neue Frau kennen, die ihrerseits drei Kinder hat. In dieser Gemeinschaft fühlt sich Jenny nicht wohl und wünscht sich nichts sehnlicher, als bei ihrer Mutter zu sein. In einem Ferienlager wird Jenny vom Schwimmlehrer schikaniert, muss Strafarbeit erledigen und wird schließlich von diesem sexuell missbraucht. Obwohl der Vater viel arbeitet, bekommt er mit, dass sich seine Tochter nicht besonders wohl fühlt und so macht er ihr zu ihrem neunten Geburtstag eine Überraschung über die sie sich freuen kann. Es scheint einige Zeit in der Familie besser zu laufen. Doch dann erleidet der Vater einen Herzinfarkt und die Patchworkfamilie steht nach dreitägigem Klinikaufenthalt ohne Ernährer da. Jenny wird von der Stiefmutter in einem kirchlichen Obdachlosenheim allein gelassen und muss für ihren Lebensunterhalt hart und viel arbeiten. Auch ihr Bruder wurde verstoßen. Beide hatten instinktiv gespürt, dass es irgendetwas mit dem Geld des Vaters zu tun haben musste.

Der auf autobiographische Erlebnisse basierende Roman ist aus der Sicht eines Ich-Erzählers verfasst. Während es sich anfangs scheinbar um eine Milieustudie handelt, in der die amerikanische Gesellschaft beschrieben wird, stellt sich immer wieder die Frage, worauf die Geschichte hinauslaufen soll. Uninteressant wird sie deshalb allerdings nicht, weil das Interesse des Lesers alleine deshalb schon geweckt ist, weil ein kleines fünfjähriges Mädchen etwas zu erzählen hat. Doch nach einer gewissen Zeit stellt sich die Frage ein, die man am Ende auch beantwortet haben möchte. Nach so vielen Schicksalsschlägen, die das Mädchen im Laufe der Handlung immer wieder hinnehmen muss, bleibt am Ende nur noch die Frage, wird ist ein Happy End geben oder nicht? Obwohl das Buch an manchen Stellen etwas langatmig wirkt, fasziniert doch der Umstand, wie geschickt die Autorin ihre eigene Kindheit in einer solch dramatischen Romanhandlung festhalten konnte. Zwar erlebt jeder Mensch in seinem Leben Schicksalsschläge, aber diese jeweils in eine Beschreibung so auf einen Höhepunkt zu treiben, bedarf meistens besonderen Geschicks. Das Bild einer amerikanischen Familie im Zeitraum 1969 bis 1975 gibt das Buch sehr gut wieder, was auch an der bildhaften Beschreibung liegen mag.

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Jennifer Lauck
Der Sommer liegt noch vor dir
Softcover, Taschenbuch
Goldmann Verlag
ISBN-13: 978-3442457465
ISBN-10: 3442457467
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Jonathan Frantzen: Die Korrekturen

Jonathan Frantzen: Die Korrekturen

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Der amerikanische Gegenwartsautor erzählt in diesem umfangreichen Roman die Geschichte einer in der Mittelschicht angesiedelten Familie.

Enid und Alfred sind beide im Ruhestand, leben in ihrem mittlerweile sehr großen Haus und Mutter Enid wünscht sich nichts sehnlicher als noch ein einziges Mal die gesamte Familie, eine Tochter und zwei Söhne, zu Weihnachten bei sich zu Hause bewirten zu können. Ihre Geschichte wird in abwechslungsreichen Episoden erzählt, die jede für sich genommen eine eigenständige Novelle sein könnte. Mit den Episoden wechselt der Fokus der Erzählung auf die Person, die in dieser Episode die Hauptrolle spielt. So wird der Leser im ersten Abschnitt mit dem Sohn Chip und seinen Versuchen, erfolgreicher Autor zu werden und sein Leben in den Griff zu bekommen, bekannt gemacht. Der Sohn Gary wird mit seiner Familie in der zweiten Episode vorgestellt. Er ist ein erfolgreicher Investmentbanker und bemüht sich redlich um seine Familie, was ihm schwerlich zu gelingen scheint. Besonders seine Frau hält gar nichts davon, das nächste Weihnachten bei den Schwiegereltern zu verbringen. In einem weiteren Abschnitt werden schließlich Enid und der an Demenz erkrankte Alfred vorgestellt. Frantzen bedient sich dabei diverser Rückblenden, in denen er die Lebenswege der beiden aufzeigt und eine Zeit beschreibt, in der ihre Kinder noch Kinder waren. Eine Urlaubsbekanntschaft auf einem Kreuzfahrtschiff wird als Mittel benutzt, um das kleinbürgerliche Denken von Enid, die intellektuell nicht an die Bekannte heranreicht, mit all seinen Facetten zum Vorschein zu bringen. Eine vierte Episode gibt den Blick frei auf das Leben der Tochter Denise, die sich als Starköchin einen Namen gemacht hat und ebenso Mühe hat, ihr privates Leben in den Griff zu bekommen. In der fünften und letzten Episode steht Weihnachten schließlich unmittelbar bevor, alle Stränge werden zusammengeführt und zum Höhepunkt gebracht.

Bei der unter der Lupe betrachteten Familie handelt es sich keineswegs um eine typisch amerikanische Familie. Viele ihrer Züge, Befindlichkeiten und Eigenheiten sind schlichtweg menschlich und können ebenso in einer deutschen oder anderen, zumindest westeuropäischen, Familie wiedererkannt werden. Die prägnante Erzählweise von Frantzen, der dem Leser jedes Detail durch Handlung – lange bevor das Wort Demenz oder Altzheimer fällt, ist dem Leser klar, woran Alfred leidet – und nicht nur durch bloße Beschreibung miterleben lässt, erzeugt einen Klangteppich von Atmosphäre, die es unmöglich macht, dieses Buch aus der Hand zu legen. Die Charaktere sind mit solch einer Fülle an Eigenschaften, Emotionen, Gedanken und Handlungen ausgestattet, dass es nicht schwer fällt, sie als eigenes Familienmitglied zu akzeptieren. Ein Grund dafür, dass die einzelnen Episoden zwar so lang sind, sie aber nie zu lang wirken und der Wechsel zum nächsten Abschnitt durchaus von Wehmut begleitet wird, weil dieser dann den Fokus auf ein anderes Familienmitglied legt. Einen Wehrmutstropfen hatte für mich allerdings eine Geschichte, die von Chip und dessen leicht unmoralischer Arbeit in Litauen erzählt. Dient sie doch lediglich dazu, aufzuzeigen, dass Gary seinen Bruder verabscheut, weil er in seinen Augen reiche Amerikaner ausnimmt. Sie ist meines Erachtens zu lang gestreckt und jede andere Handlung außerhalb von Litauen hätte denselben Zweck erfüllt.

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Jonathan Frantzen
Die Korrekturen
Softcover, Taschenbuch
Rowohlt Taschenbuch Verlag
ISBN-10: 3499235234
ISBN-13: 978-3499235238
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Lothar Eichler: Gedankenspiele

Lothar Eichler: Gedankenspiele

Ein kleines, schmuckes Büchlein mit sage und schreibe 33 kleinen und feinen, nachdenklich und schmunzelnd machenden Geschichten über das alltägliche Leben. Der Autor gewährt Einblick in seiner Gedankenwelt, er zeigt, wie er denkt, welche Themen ihn beschäftigen, und das sind nicht gerade wenige. Dabei wird nichts ausgespart. Geht es in der einen Geschichte um die Liebe zwischen Mann und Frau, so geht es in der anderen um die der Kinder zu ihren Eltern und umgekehrt, oder es geht um die Entstehung der Pommes frites oder die Globalisierung der Gesellschaft, es geht um das Arbeitsklima in der Firma oder um Menschen, die viel Zeit haben. Eichler beobachtet, beschreibt, denkt nach und erzählt. Die keineswegs langweilig wirkenden Gedankenspritzer, die von ihm aufs Papier gebracht wurden, sind nicht ohne verborgene Anspielungen. Sie decken so manche Unzulänglichkeit unserer Gesellschaft auf oder stellen vermeintlich fest vorgegebene Wege in Frage.

Trotz der höchst unterschiedlichsten Texte zieht sich ein roter Faden durch das Büchlein. Es ist der Faden der Liebe. So findet dieses Thema schließlich seinen Höhepunkt in der letzten Geschichte, die in ihrer Form eine starke Ähnlichkeit mit einem Liebesbrief aufweist und ein Kompliment darstellt. Wenn auch in jeder Geschichte unterschiedliche Fragen aufgeworfen werden, so gibt es letztendlich eine Antwort auf alle Fragen: wo der Verstand seine Grenzen erreicht, da ist die Liebe die Antwort.

Eine nette Lektüre, die sich in jeder Situation sehr gut für Zwischendurch eignet, ob im Zug, im Flugzeug, oder im Warteraum des Zahnarztes. Die Geschichten, von denen viele nur zwei Seiten lang sind, passen immer. Und manch eine sehr philosophisch erscheinende Geschichte lädt auch noch beim zweiten und dritten Lesen zu neuen Entdeckungen zwischen den Zeilen ein.

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Lothar Eichler
Gedankenspiele
Softcover, Taschenbuch
Centrum Verlag in der WFB Verlagsgruppe
ISBN: 978-3-86672-988-9
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Rebecca Gablé: Hiobs Brüder

Rebecca Gablé: Hiobs Brüder

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Erneut stellt die Autorin Rebecca Gablé, die sich nach ihren ersten Krimis nun schon viele Jahre als Schriftstellerin von historischen Romanen einen Namen gemacht hat, unter Beweis, wie gekonnt sie die historisch belegten Wahrheiten mit einer fiktiven Handlung verbinden kann. Gleichzeitig mit dem Roman erschien bei Lübbe Audio das inszenierte Hörbuch, welches als Grundlage dieser Rezension zur Verfügung stand.

Die Handlung beginnt im England des Jahres 1147 auf einer kleinen Insel vor der Küste Yorkshires. Hierher werden Menschen verbannt und verbracht, von denen man an anderer Stelle nichts mehr sehen und hören will. Dazu gehören nicht nur Krüppel und Aussätzige, sondern auch Mörder und Menschen, die so manchem Machthaber im Wege stehen. Einer der Protagonisten ist Losian, der auf der Insel so genannt wird, weil er nicht mehr weiß, wer er ist. Er sowie Edmund, der sich für einen Märtyrerkönig hält, Regy, ein hinterhältiger Mörder, Godric und Wulfric , siamesische Zwillinge, und schließlich Oswald, die wohl wegen ihrer geistigen Zurückgebliebenheit liebenswerteste Person dieses Buches, nehmen den jungen Simon de Clare, der wegen seiner Fallsucht (Epilepsie) verstoßen wurde, in die Gemeinschaft der verfallenen Inselfestung auf. Ein mächtiges Unwetter, welches über die Insel hinwegfegt, öffnet der verstoßenen Gemeinschaft unverhofft einen Weg in die Freiheit, den die Männer nicht ungenutzt lassen. So kehren sie in einer waghalsigen Flucht auf das Festland zurück und begeben sich auf die Wanderschaft. Ein nahezu unendliches Abenteuer in einer sehr kriegerischen Zeit Englands beginnt und Losian, der von allen als Anführer akzeptiert wird, beschleicht das Gefühl, Schuld am Krieg um die Königskrone zu sein. Doch auf der Suche nach Losians Herkunft, denn nur seine wahre Identität kann ihm Aufklärung darüber geben, ob er tatsächlich schuldig ist, treffen die Gesellen nicht nur auf feindselige Raufbolde und machthungrige Ritter, sondern sie machen auch die Bekanntschaft eines Henry Plantagenet. Dieser Henry ist kein Geringerer als der Sohn der Kaiserin Maud, die eigentlich anstelle des Königs Stephen de Blois auf dem englischen Thron sitzen sollte.

Die fiktive Handlung um Losian und seiner Freunde wurde äußerst geschickt in die Ereignisse um den Machtkampf zwischen dem späteren Heinrich II. und seinem Widersacher Stephen de Blois gesponnen. Die Autorin schafft es auf diese Weise, dem Leser bzw. Hörer die historischen Ereignisse in fast spielerischer Weise nahe zu bringen, ohne dass dieser das Gefühl hat, ein Lehrer mit erhobenen Zeigefinger würde vor ihm stehen. Anhand dieses Buches bzw. Hörbuches macht das Eintauchen in die Geschichte Englands besonders viel Spaß. Die Beschreibung winziger Details ist so vollkommen, dass man glauben könnte, die Autorin hätte mit einer Kamera im mittelalterlichen England gestanden und alles festgehalten. Selbst die Zweikämpfe und Schlachten, die genau wie die Liebe und Zweisamkeit unweigerlich zu einem Abenteuerroman gehören, sind wegen ihrer unnachahmlichen Darstellung fest im Gedächtnis eingebrannt. In Sachen Liebe wird nicht nur die zwischen Mann und Frau zum Thema, sondern einnehmend ist immer wieder die Fürsorge der Schicksalsgesellen untereinander, die wirklich aus tiefem Herzen zu kommen scheint.

Da sich die Handlung über fast zehn Jahre hinzieht, ohne dabei auch nur ein einziges Mal von ihrer Spannung einzubüßen, ist die personelle Ausstattung erwartungsgemäß nicht gerade gering. Die auf dem Hörbuchcover enthaltene Liste der historisch belegten Personen ist dabei sehr hilfreich. Bewusst wurde dieses Mal bei der Gestaltung darauf geachtet, die fiktiven Personen nicht in einer Liste zu benennen, um dem Leser/ Hörer die Unterscheidung zwischen realen und fiktiven Personen zu erleichtern. Von besonderer Stärke aber erweist sich die Darbietung des Hörbuches als inszenierte Lesung. Mit opulenten mittelalterlichen Klängen wird in die einzelnen Kapitel und Abschnitte eingeführt, die den mit sehr subtilen Stimmen agierenden Berliner Schauspieler Detlef Bierstedt, auf besondere Weise unterstützen. Musikalisch werden verschiedene Themen benutzt, so dass der Hörer anhand der Klänge auf die Handlung hingewiesen wird: kraftvolles Orchester für Schlachtszenen oder Szenen am Hofe, sanfte Melodien für Momente der Zweisamkeit. Aber nicht nur Musik, sondern auch Geräusche lassen den Hörer in die Handlung eintauchen: Pferdegewieher, Schlachtgetümmel, das Aufeinanderprallen der Schwerter, die Schreie der Besiegten. Alles das, verbunden mit den höchst unterschiedlichen Stimmen des Vorlesers, macht das fast 15stündige Hörbuch zu einem Hörgenuss.

Die Inszenierung der Lesung bietet weitaus mehr als nur einen vorgelesenen Roman und stellt aus meiner Sicht deshalb einen Vorteil gegenüber der gebundenen Ausgabe dar. Alleine deshalb, aber nicht nur, ist dieses Hörbuch zu empfehlen. Die Verbindung der historischen Ereignisse mit einer abenteuerlichen Handlung stellt mindestens einen ebenso großen Grund dar. Selbst der Geschichtsinteressierte, der sonst kaum etwas anderes als ein Fachbuch vor der Nase hat, wird seinen Gewinn aus den spannenden Geschichten um Losian und seiner Weggefährten ziehen.

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Rebecca Gablé
Hiobs Brüder
Historischer Abenteuerroman, gelesen von: Detlef Bierstedt
Hörbuch, 12 CD,
Lübbe Audio, Bergisch-Gladbach
ISBN: 978-3-7857-4182-5
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2009