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Schlagwort: Tod

Paul Auster: Baumgartner

Paul Auster: Baumgartner

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Paul Auster beschäftigt sich in seinem vorliegenden Roman mit Abschied und Tod.

Zu Beginn sitzt sein Protagonist Seymour Baumgartner am Schreibtisch und arbeitet. Er will eben noch seine Schwester anrufen, und schnell befindet man sich mitten im Leben des 72 Jährigen.
Er ist emeritierter Professor der Phänomenologie und lebt seit vielen Jahren alleine. Seine Frau Anna kam vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben.
In seinen Gedanken ist sie immer noch mit ihm bei allem täglichen Geschehen und in den Nächten, wenn er wach liegt und nachdenkt, wie alles gekommen ist.

In unvergleichlicher Weise werden wir Zeuge, wie das Leben sich verändert hat. In den Erinnerungen und in Aufzeichnungen von Anna, die er gefunden hat, wird über das Kennenlernen und das Leben zu zweit berichtet. Die sechziger Jahre werden lebendig mit ihrem Aufbruch in Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Der Vietnamkrieg mit allen Folgen für Familien und Freunde wird gegenwärtig.

Anna war eine Rebellin. Sie hat das reiche Elternhaus hinter sich gelassen und arbeitet in New York in einem kleinen Verlag. Anlässlich eines ungewöhnlichen Ereignisses auf ihrem Heimweg in der Nacht sucht sie bei ihrem Freund und Geliebten Sy, wie er genannt wird, Hilfe. Er macht ihr einen Heiratsantrag. Sie stimmt ihm nach einer glücklichen Nacht freudig zu. In so vielen Dingen waren sie in Übereinstimmung miteinander!

Diese Beziehung dominiert den Roman. Anna und Sy haben eine enge geistig-mentale innere Bindung, die ihresgleichen sucht. Hier denkt man unwillkürlich an das Paar Auster und Siri Hustvedt, die in New York als DAS Intellektuellenpaar gelten mit einer ebenso engen und unverbrüchlichen inneren Bindung.
Im Roman muss Sy schon so viele Jahre alleine leben!

In poetischen Bildern erleben wir ihn bei Betrachtungen der Natur, bei der Erinnerung an einen engen Freund, der im Zuge des Vietnamkriegs tödlich verunglückte und immer wieder in fast surrealen Begegnungen mit der toten Anna. Gespräche, die er in Gedanken mit ihr führt, werden im Wechsel mit seinem täglichen Leben äußerst realitätsnah beschrieben.

Vor uns ersteht ein New York, das in besonderer Weise charakteristisch war oder auch heute noch ist: intellektuell, dynamisch und voller Gegensätze zwischen arm und reich. Gesellschaftlich schien dieser Ort der Mittelpunkt der Welt zu sein. Hier entstanden Freundschaften und bildeten sich Lebensgemeinschaften zu gemeinsamen Spaß, zur Unterhaltung und zu geistigem Austausch. Durch alle Turbulenzen hinweg blieb die Beziehung zwischen Sy und Anna unerschütterlich.

In dem Roman gleiten kleinere Abschweifungen in die Vergangenheit über in die Gegenwart.
Man erkennt klare Strukturen: Vergangenheit, Gegenwart und Bezüge zwischen beiden.
Da geht es weit zurück die Familiengeschichten von beiden Partnern.

Auster beschreibt das Leben, wie es nach dem Tod eines sehr geliebten Menschen sein kann, wenn man fast symbiotisch verbunden war.
Unschwer erkennt man autobiographische Züge, denn Paul Auster hat Krebs und verarbeitet in diesem Roman fiktiv das Leben nach dem Ende eines Partners.

Die Erzählung ist zärtlich, traurig, suchend und zeigt das Bemühen, nach so vielen Jahren nochmal eine Gefährtin zu finden. Ob es ihm gelingen wird?
Eine gewisse Melancholie ist unübersehbar.

Paul Auster kann schreiben! Gelegentlich denkt man beim Lesen an Philip Roth.
Beide gelten als Titanen der Literatur!

Paul Auster
Baumgartner
Rowohlt Buchverlag, 2. Auflage November 2023
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498003933
ISBN-13: 978-3498003937
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Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet

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Joachim Meyerhoff ist uns wohl bekannt durch seine urkomischen, höchst amüsanten und skurrilen Erinnerungsbücher früherer Jahre, in denen schon die Titel auf die zu erwartende Komik hindeuten.
Nun aber hat es ihn schwer erwischt: ein Schlaganfall ereilt ihn im Alter von nur 51 Jahren . Er merkt schnell, dass etwas nicht stimmt und nimmt die Symptome ernst.
Es gilt, schnellstens in ein Klinikum zu kommen, wobei sich seine inzwischen 18 jährige Tochter als resolut und hilfreich erweist. Selbst in dieser angespannten Lage sieht Meyerhoff mit scharfem Blick, wie sich Verantwortung verkehrt: nicht mehr der Vater führt Regie, sondern die Tochter übernimmt das notwendige Handeln.
In der Klinik angekommen wird er auf die Intensivstation gebracht und seine Eigendiagnose ist richtig: er hat einen Schlaganfall erlitten!

Sein Kopf aber arbeitet unentwegt weiter. Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung nehmen ihren Lauf.
Wenn ihm auch zuerst mehr nach Weinen als Lachen zumute ist, so entdeckt sein wacher Geist sehr bald die skurrilen Seiten der Intensivstation. Ob Schwestern, Ärzte, sonstiges Fachpersonal oder Mitpatienten: in ihm formen sich Bilder, die in ihrer Komik unübertroffen sind. Der LeserIn muss laut lachen, wie diese wortreichen Assoziationen in seinem Kopf beim Beobachten Gestalt annehmen. Die Sätze sprudeln nur so aus ihm heraus.
Zu seiner Beruhigung kommen Erinnerungen hoch, die ihn rühren, ihn an gute und schlechte Zeiten erinnern und seinen Zustand erträglicher machen.

Er ist von entwaffnender Offenheit, kennt kein Tabu und LEBT, selbst im Zustand der Schwäche. Mag sein, dass manche Episode im Nachhinein beim Schreiben eingefügt wurde. Mag auch sein, dass er zuweilen fast ein wenig über die Grenzen des Anstands hinausgeht, wenn er die Kranken bei ihren Gehversuchen und Essübungen karikiert: er bezieht sich immer selber mit ein, und der trockene Humor und die Komik gehören fast zum Charakterbild dieses Schauspielers und Autors witziger Lebensbetrachtungen. Passagen wie die über die mögliche Senkung der Todeszahlen älterer Leute im Straßenverkehr „lieber an der Ampel flitzen als wochenlang im Rollstuhl sitzen“ (S. 199) bieten einen Eindruck vom lakonischen Witz des Erzählers Meyerhoff.
Es ist sein Weg, sich mit Distanz aus der Hilflosigkeit, die diese Krankheit mit sich bringt, zu befreien.

Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass ein ernster Unterton hinter den Worten des Autors zu spüren ist: die Erkenntnis, dass unser Leben endlich ist, und von einem Tag auf den anderen alle bisherigen Sicherheiten dahin sein können.

Der Ernst hinter der Komik ist das Geheimnis des Erfolges von Joachim Meyerhoff.

Joachim Meyerhoff
Hamster im hinteren Stromgebiet
320 Seiten, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, September 2020
ISBN-10: 3462000241
ISBN-13: 978-3462000245
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David Grossmann: Was Nina wußte

David Grossmann: Was Nina wußte

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Geheimnisvoll, widersprüchlich und zugleich realistisch erzählt uns David Grossmann eine Geschichte. Eine Geschichte von drei Frauen und ihrem jeweiligen Schicksal, das sie einerseits zusammenschweißen sollte,das aber alle drei Frauen voneinander getrennt hat.

In seiner unvergleichlich assoziativen und in Andeutungen sich ergehenden Diktion schält sich erst allmählich die ganze Wahrheit über das Leben der drei Frauen heraus.
Wir befinden uns in Israel. Vera feiert ihren 90. Geburtstag. Aus diesem Anlass erscheinen ihre Tochter Nina, ihr Stiefsohn Rafael und deren gemeinsame Tochter Gili, ihre Enkelin. Letztere dreht einen Film über ihre Großmutter. Dazu führt sie Gespräche und schreibt alles auf. Sie ist zugleich eine der Protagonistinnen.
Wie soll man über etwas schreiben, das Gefühle ausdrücken und zugleich verbergen soll?

Vera und auch Nina schweigen beharrlich über ihre Vergangenheit. Nur in kurzen Ansätzen kann man Hinweise auf außergewöhnlich harte Jahre bekommen. Vera und Nina sind aus Jugoslawien nach Israel eingewandert. Milos, Ninas Vater und Veras Mann, ist tot. In Israel treffen sie auf Tuvia, der seine Frau nach langem Leiden verloren hat. Er hat drei Kinder u.a. den Sohn Rafael. Vera und Tuvia verbinden sich aus Liebe und Einsamkeit.

In sporadischen Episoden berichtet Vera, wie es zu dieser Ehe kam.
Gili sucht in den Gesprächen mit der Großmutter und ihrem Vater hinter Ninas geheimnisvolles Leben zu kommen. Es ist bemerkbar, dass da vieles nicht stimmt.
Ihre Nachforschungen haben ergeben, dass sich Nina und Rafael begegneten, als sie siebzehn und er fünfzehn Jahre alt waren.
Er ist hingerissen von ihr und wird es ein Leben lang bleiben. Nina aber findet nie zur Ruhe.

Die Spuren der Vergangenheit verdichten sich, als alle genannten Personen beschließen, in die ehemalige Heimat von Vera und Nina nach Jugoslawien, jetzt Kroatien, zu reisen. Was hat sich damals vor so vielen Jahren zugetragen?
Das ist eine lange Geschichte! Sie hat mit dem Jugoslawienkrieg unter Tito zu tun, mit Verrat, Folter, Shoah, Tod und grausamen Verlusten.

Menschen verlieren sich, bleiben sich treu oder geraten durch schwere Schicksalsschläge ganz aus den Fugen. Vera ist zutiefst durchdrungen von ihrer Liebe zu Milos. Aus Liebe zu ihm durchstand sie grausamste Folter, nur um ihn nicht zu verraten. Nina, ihre gemeinsame Tochter, ist das Opfer.

Wie David Grossmann diese Geschichte erzählt, das erinnert sehr an seinen großen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“.
Auch hier wird geschwiegen, erduldet und mit unbekannten Mächten gerungen um der Wahrheit willen, oder um ihr zu entgehen.
Gebannt folgt man den Lebenswegen der drei Frauen. Die starke Vera bestimmt das Geschehen.

Die Erzählung hat einen wahren Hintergrund: das Schicksal der Jüdischen Kommunistin Eva Panic-Nahir.
Grossmann macht daraus eine Geschichte von gewaltiger Tragweite.
Wieder gelingt es ihm, die Geschehnisse um Verfolgung, Krieg und Shoah ins Bewusstsein der Gegenwart zu holen.
Spannend, beklemmend und eindrucksvoll bleibt der Eindruck eines herausragenden Werkes in der Übersetzung von Anne Birkenhauer.

Davod Grossmann
Was Nina wußte
352 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, 2. Auflage, August 2020
ISBN-10: 3446267522
ISBN-13: 978-3446267527
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Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds

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Melitta Breznik zeichnet mit feinem Stift und reflektierenden Gedanken ihre Stimmungen nach, die sie beim Sterben ihrer Mutter hat. Sie begleitet sie über Tage und Wochen bei diesem schmerzlichen Abschied.

Eine unheilbare Diagnose hat den Tod angekündigt.

Die Familie lebt in Österreich, wo der Vater herstammte, und wo er seine Arbeit hatte.
Melitta Breznik kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück und überlässt sich neben der Fürsorge für ihre Mutter ihren Erinnerungen an die Tage ihrer Kindheit.
Sie enthüllt offen ihre Gedanken und Gefühle, die sie in diesen langen Wochen mit ihrer Mutter bewegen.

Unweigerlich melden sich Erinnerungen, die während der vergangenen Jahre verborgen waren. Danach war das Einvernehmen zwischen den beiden Frauen nicht immer sehr einfach. Es gab innere und äußeren Trennungen und Unvereinbarkeiten, die Wunden schlugen.

Während der Vater hart arbeiten musste, blieb die Mutter ihrem Hausfrauenleben verhaftet, etwas, das Melitta Breznik für sich nie anstrebte. Man ist erstaunt, wie Melitta aus diesem Kinderleben herausgefunden hat.

Sie ist seiner Zeit dem häuslichen Umfeld entkommen, lebt in der Schweiz, hat studiert und wurde Ärztin. Insofern musste sie Zeit und Orte überspringen, um hier zu ihren Wurzeln zurückzufinden.

Es gab Familiengeheimnisse, es gab Verluste von ungeborenen Kindern, den Tod eines älteren Bruders, und es gibt einen jüngeren Bruder, der eine Familie gründete und in der Nähe der Eltern blieb.

In wunderbaren Worten, mit Herz und Verstand beschreibt die Autorin Augenblicke der wehmütigen Erinnerungen. Die Landschaft bietet ihr Anregung, sich dem Leben als Kind noch einmal zuzuwenden. Der Herbst, der kommende Winter, Kälte und Schönheit: alle diese Eindrücke bieten ihr die Möglichkeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Zugleich erlebt man eine Frau, die sich mit viel Mühen und fast zärtlichen Gefühlen der Frau widmet, die ihre Mutter war und ist. Sie umgibt sie mit Fürsorge, umsichtig und einfühlsam, zuweilen auch verzagt.

Man erlebt die Wandlung einer Beziehung, die im Angesicht des Todes manches verzeiht.

In dem schmalen Büchlein berichtet Melitta authentisch über die körperlichen und geistigen Veränderungen der Mutter während des Sterbens, das bis zum Ende nicht leicht war. In kurzen, prägnanten Sätzen lässt sie uns zu Teilnehmern ihrer inneren Bewegungen werden.

Ein anrührendes und liebevolles Porträt der Vergänglichkeit gemahnt den Leser an eigene Erfahrungen und Vorgänge, die auf das Lebensende hinweisen.

Die Autorin zeigt ungeschminkt ihre einfühlsamen, teilnehmenden, sensiblen und auch ambivalenten Empfindungen, mit der sie sich von ihrer Mutter verabschiedet.

Melitta Breznik ist Autorin, Ärztin und Psychotherapeutin. Sie lebt in der Schweiz.

Melitta Breznik
Mutter. Chronik eines Abschieds
160 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, Mai 2020
ISBN-10: 3630875068
ISBN-13: 978-3630875064
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Katharine Dion: Die Angehörigen

Katharine Dion: Die Angehörigen

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Es handelt sich in diesem Roman um eine Familiengeschichte der besonderen Art.
Genes Frau ist kürzlich verstorben. Nicht ihr plötzlicher Tod wird von Katharine Dion analysiert, sondern durch die Augen und Worte seiner Freunde und seiner Tochter lernt Gene, der Icherzähler, eine Frau kennen, von der er in dieser Form nichts wusste.

Sie hatten ein gutes, bescheidenes und auskömmliches Leben. Noch aus gemeinsamen Studienzeiten stammt die Freundschaft zu Ed und Gayle. Sie haben zusammen Urlaube verbracht, haben nach und nach ihre Kinder bekommen, zu denen sich inzwischen noch Enkel und Enkelinnen gesellten, und fühlten sich in dieser Gemeinschaft geborgen. Das waren „die Angehörigen“ als Ersatz für die nicht vorhandenen wirklichen Angehörigen.

In der Vorbereitung auf eine Gedenkfeier für die verstorbene Maida, Genes Frau, treffen alle zusammen. Gene ist verwirrt, fühlt ich einsam und ist verunsichert, wie unterschiedlich die Berichte über Maida klingen. Zwischen seiner Tochter Dary und ihm herrscht ein angespanntes Verhältnis.

Inzwischen lässt Gene seine Gedanken zurückschweifen, und man erfährt einiges über sein gemeinsames Leben mit Maida. Sie waren 49 Jahre verheiratet. Die Fragen, die sich für Gene aufwerfen, sind existenziell, weil er sie sich so noch nie gestellt hat. Standen sich Ed und Maida näher, als er dachte? Ist Dary womöglich nicht seine Tochter?
Insgesamt ist er verunsichert, scheu und ratlos. Eine kurze von ihm allzu ernst genommene Beziehung zu seiner Putzfrau zeigt einen einsamen alten Mann, der sich ratlos durchs Leben bewegt.

Katharine Dion hat mit diesem Debütroman ein reifes und ansehnliches Werk geschaffen. Die nachhaltigen Fragen und Gefühle, die sie aufzeigt, bringen auch den Leser zum Nachsinnen. Unwillkürlich fragt man sich: wie war das denn bei Dir? Man fühlt mit Gene mit, der in Trauer erlebt, dass er seine Tochter gar nicht richtig kennt und versteht. Die vielen Szenen und Bilder, seien sie aus der frühen Zeit seiner Ehe oder in den späteren Jahren, werfen ein farbiges Bild auf eine Gesellschaft, in der nach außen hin alles in Ordnung erscheint. Aber gibt es nicht auch die Schattenseiten des Lebens? Die schmerzlichen Erfahrungen, Entbehrungen und das Ungesagte? K. Dion findet die richtigen Worte, mit denen sie den Fragen nachgeht. Sie bringt uns das Geschehen nahe und lässt uns teilnehmen an einem Leben, das durch den Tod einen schmerzlichen Bruch erlebt.

Das Buch ist nicht spannend aber in seinen Ausführungen z.T. sehr tiefsinnig. Wer sich für die Psyche des Menschen, seine Abgründe und die nach außen gezeigte Eintracht fasziniert fühlt, der wird mit diesem Roman belohnt für ein wenig Ausdauer, die durchaus erforderlich ist.

Katharine Dion
Die Angehörigen
288 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, April 2019
ISBN-10: 3832198946
ISBN-13: 978-3832198947
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Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer

Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer

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Es hätte ewig so weitergehen können mit dem Hotel „Lindenhof“ am Bodensee. Sonja Bräuning war hier, bis zum Tod ihres Mannes Bruno, die Chefin. Vielleicht hätte sie auch ohne Bruno, der eine Zeit lang als Sternekoch ausgezeichnet war, weitermachen können. Brunos Bruder Arno will jedoch das Hotel mitsamt den Schulden übernehmen. Aber ohne Sonja. Nun muss sie sehen, wo sie bleibt, mit ihren 62 Jahren. Mr. Pettibone, ein ehemaliger Stammgast, rät ihr ab, die heruntergekommene Pension seines Onkels zu übernehmen. Doch das stürmische Meer ist herrlich hier in Wales! Viele Gäste sind nicht zu erwarten.

Es ist ein hartes Schicksal, mit dem Sonja fertig werden muss. Ihre Gedanken umkreisen das, was sie verloren hat. Der Autor betrachtet die Tragödie recht nüchtern. Sonja, die so viel geleistet hat in ihrem Leben, steht vor dem Nichts. Sie muss sich neu orientieren, ihre Verbitterung überwinden und wählt, so mag es scheinen, den einfachsten Weg. Vielleicht ist es auch eine Flucht oder ein Rückzug. Aber das, was sie erarbeitet hat, ist nicht mehr von Bedeutung. Gnadenlos wird reflektiert, dass man sich nie zu sicher fühlen darf.

Auch wenn das Buch sehr traurig auf mich wirkt, habe ich es gern gelesen. Ich kann mir vorstellen, dass es Sonja da am Meer besser geht. Denn so wirklich positiv ist ihr Leben als Hotelchefin für mich nicht gewesen und auch ihre Ehe war nicht eben glücklich. Nun ist noch die Demütigung durch Arno dazugekommen. Der Sturm an der Steilküste wird das das alles wegblasen. Er ist kraftvoll und unnachgiebig!

Einen umfassenden Einblick in Sonjas Leben bekommt man nicht. Ich habe nicht das Gefühl, sie auch nur halbwegs zu kennen. Ich kann nicht einmal sagen, dass sie mir sympathisch ist. Aber die Details, die der Autor aufgegriffen hat, sind gut gewählt, sodass ein bestimmtes Bild entsteht, das eine Wirkung hat, die nicht sofort beim Weglegen des Buches verblasst.

Rezension von Heike Rau

Karl-Heinz Ott
Und jeden Morgen das Meer
144 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag
ISBN-10: 3446259953
ISBN-13: 978-3446259959
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Dorothy Baker: Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

Dorothy Baker: Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

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Rick Martin ist ein begnadeter und musikbegeisterter Junge. Dorothy Baker hat sich von dem Jazz-Genie Bix Beiderbecke (1903 -1931) zu diesem Roman inspirieren lassen.

Rick stammt aus den Slums von Los Angeles. Jeden Morgen sitzt er am Klavier der All Souls’ Mission und formt auf dem Klavier Töne nach, die er einmal gehört hat. Dafür versäumt er die Schule und nimmt allerlei Unbilden auf sich.

Schließlich lernt er den farbigen Jazzmusiker Smoke Jordan kennen. Die beiden Jungen werden unzertrennlich und sind vereint in der Musik. Rick beneidet Smoke um die Geborgenheit seiner Familie, die ihm, Rick, in seiner Onkel-Tante -Familie nicht vergönnt ist.

Man begleitet Smoke und Rick auf ihren Streifzügen durch die Musikhalls und dort finden sie eines Tages ihren Platz. Rick wird Trompeter, wird entdeckt und nach New York engagiert.

Wunderbar versteht Dorothy Baker in das Milieu der Musikszenen einzutauchen und einen teilhaben zu lassen an musikalischen Entwicklungen. Sie zeigt uns, wie durch die Besessenheit vom Klang und Rythmus aus Laien professionelle Trompeter, Klavierspieler oder Drummer werden.

Höhen und Tiefen des vom Jazz besessenen Rick ziehen sich durch alle Stadien seines Lebens. Es endet früh, noch nicht einmal 30 Jahre alt, wie bei so vielen Genies seines Genres.

Man liest das Buch mit Aufmerksamkeit und Interesse. Sind doch Existenzen wie die von Rick Martin häufig in den Jazzszenen zu finden. Alkohol und der Rausch der Musik mit den exzessiven Konzerten in langen Nächten bringen nicht nur Rick Martin den Tod. Betrauert von der Jazzgemeinde enden diese von ihrer Musik Betäubten häufig in Einsamkeit und körperlichem Ruin. Auch Ricks tragisches Schicksal vollendet sich mit seinem Tod. Er blieb bei seinen zwei engen Freunden Jeff Williams und Smoke Jordan unvergessen und tief betrauert.

Freundschaften, Begegnungen und immer wieder die Musik schaffen das Klima, in das uns Dorothy Baker entführt. Es sind die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die in ihrem Roman vor uns erstehen und uns Erinnerungen bescheren an eine Zeit unvergesslicher Jazzgrößen. Ein gelungener Roman für alle, die sich dem Jazz zugeneigt fühlen.

Dorothy Baker
Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft
272 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, November 2017
ISBN-10: 3423281359
ISBN-13: 978-3423281355
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Jess Jochimsen: Abschlussball

Jess Jochimsen: Abschlussball

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Eine ganz und gar skurrile und aberwitzige Geschichte beschert uns der Schriftsteller und Kabarettist Jess Jochimsen!

Zumal das erste Kapitel zeigt uns einen Trompeter der Extraklasse: er spielt auf Beerdigungen, da es zum Konzertmusiker nicht gereicht hat.

Einmal im Monat wird vom Bestatter Berger ein als „Abschlussball“ titulierter Abgesang auf einen Toten abgehalten. Zumeist gilt dieser einem Armenbegräbnis. Komisch und witzig sind die Reden, die da auf die Toten gehalten werden.

Marten, unser Begräbnistrompeter, erfährt von Schocht, einem ehemaligen Klassenkameraden und Klassenprimus, der unter den Toten weilt. Auch zu seiner Beerdigung spielt er auf. Alleine der Aufzug der Trauernden bei dieser Gelegenheit ist höchst amüsant und komisch dargestellt, denn sie stammen aus den so genannten Randgruppen der Gesellschaft. Es handelt sich um ehemalige Bohemiens und Unterweltler, die sich zum „Abschlussball“ an Schochts Beerdigung einfinden. Man sieht sie förmlich in einem schleppenden Trauerzug aufmarschieren.

Nun, in weiteren Kapiteln kann man Marten in seiner Familie und auf seinem Lebensweg kennenlernen. Lakonisch, trocken und insgeheim äußerst witzig erfährt man von einem absoluten Individualisten und Außenseiter der Gesellschaft, der sich nie und nirgends auf Dauer festlegen kann. So lebt er vor sich hin, umgeben von skurrilen Einzelgängern wie ihm selbst.

Das Buch ist etwas für Menschen mit Sinn für abseitigen Humor und die skurrile Neigung zum Einzelgängertum. Man kommt die ganze Zeit aus dem Schmunzeln nicht heraus.

Immer wieder spielt der Friedhof, das Leben und der Tod die entscheidende Rolle in diesem witzigen, geistreichen und bildungsfreudigen Roman. Von Goethe bis Cioran werden die Dichter und Philosophen im passendem Zusammenhang zitiert. Man glaubt es kaum, dass man einen ganzen Roman damit bestreiten kann. Nichts ist wirklich traurig, denn der Tod gliedert sich umstandslos in das hiesige Leben. Die Musik bleibt schließlich das einzige Medium, das quasi unsterblich ist. In diesem Rankwerk um den Tod spielen frühere und späte Begegnungen hinein, sie geben dem Ganzen den lebendigen Touch, so dass man bis zuletzt gut unterhalten und immer wieder amüsiert bleibt.

Herrlich und lesenswert!

Jess Jochimsen
Abschlussball
312 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Juni 2017
ISBN-10: 3423281162
ISBN-13: 978-3423281164
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Elly Griffiths: Engelskinder

Elly Griffiths: Engelskinder

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Ein typisch britischer Kriminalroman mit dem ganzen Flair von Ermittlern wie Lynley, Lewis oder Barnaby. Dabei wird ein historischer Kriminalfall ebenso aufgeklärt wie ein aktueller. Doch zunächst zum Geschehen.

Als die forensische Archäologen Dr. Ruth Galloway in einer Burg ein Skelett aus viktorianischer Zeit freilegt, glaubt sie, die Gebeine der berüchtigsten Mörderin Norfolks gefunden zu haben. »Mother Hook« soll zu Lebzeiten Kinder in Pflege genommen und getötet haben. Infolgedessen tritt ein Fernsehteam auf die Bühne, um die Folge einer Mystery-Doku-Serie mit der Archäologin zu drehen.
Parallel dazu knüpft sich DCI Nelson eine junge Mutter vor, der bereits das dritte Kind nur wenige Monate nach dessen Geburt gestorben war. Ein- und derselben Mutter. Nelson glaubt nicht mehr an Zufälle. Er fühlt der Mutter und auch ihrem Ex-Mann auf die Zähne. Doch abgelenkt werden er und sein Team von plötzlich verschwundenen Kindern. Sogar Kinder aus seinem engsten Bekanntenkreis.

Die Ablenkungsmanöver der Autorin sind schon etwas sehr Besonderes. Sie lenken nicht nur die Ermittler ab, sondern auch als Leser ist man beinahe geneigt, den Todesfall des sechs Monate alten Babys komplett zu vergessen, weil zunächst die verschwundenen Kinder im Mittelpunkt stehen.
Die Verflechtung der Toten und verschwundenen Kinder aus dem Hier und Jetzt mit denen aus der viktorianischen Zeit um »Mother Hook« bereitet ein ebenso interessantes Vergnügen. Aufklärung über forensische Arbeit inklusive.
Das durchaus wirre Beziehungskonzept der auftretenden Figuren hinterlässt zunächst etwas Chaos im Kopf des Lesers. Wer von wem der Ex ist und wer der Vater von welcher Figur ist, hätte ein bisschen weniger Verstrickung gut getan.

Dennoch alles in allem ein empfehlenswerter Roman, bei dem streckenweise keine Mordermittlung im Zentrum steht. Außerdem fasziniert er mit dem britischen Charme einer Val McDermid oder eines Simon Beckett. Daumen hoch!

Elly Griffiths
Engelskinder
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Wunderlich Verlag, Hamburg
ISBN 9783805250962

© Detlef Knut, Düsseldorf 2017
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Kristina Ohlsson: Bruderlüge

Kristina Ohlsson: Bruderlüge

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Dieser Roman ist ein zweiter Teil zu dem vor wenigen Monaten erschienenen Teil „Schwesterherz“. Aber keine Bange! Gute Nachricht für so manchen Leser: Man muss nicht zwangsläufig den ersten Teil gelesen haben. Alle zum Verständnis notwendigen Informationen gibt es in komprimierter Form auch in diesem Thriller.

Die Struktur für die Übersichtlichkeit des Lesens entspricht der von „Schwesterherz“. Zu Beginn jedes Kapitels gibt es ein Interview des Protagonisten Martin Benner mit einer Journalistin. Hiermit wird kurz, aber präzis die Spannung für das folgende Kapitel aufgebaut. Ein Stil, den ich bereits in meiner Besprechung zum Vorgänger positiv hervorhob.

Ähnlich wie in anderen Serien (Roman und oder TV) wird der erste Teil zwar mit einer Auflösung abgeschlossen. Doch es gibt da noch einen winzigen Punkt, vielleicht ist er auch nur nebensächlich, der nicht aufgelöst wurde. Diese „winzige Nebensächlichkeit“ ist der Ausgangspunkt für „Bruderlüge“. Somit beginnt eine weitere Jagd. Den Auftrag dazu hat Martin Benner vom großen Unbekannten mit dem Spitznamen Lucifer. Zum Teufel aber auch, dass Martins Freundin Lucy heißt. Martin ist sich sicher: Den Auftrag Lucifer’s kann er nur lösen, wenn er weiß, wer Lucifer ist. Ihm rennt aber offenbar die Zeit davon, während ein Unterstützer von ihm nach dem anderen umgebracht wird und er selbst immer wieder als Tatverdächtiger in den Fokus der Polizei gerät.

Kristina Ohlsson hat auch in diesem zweiten Teil von Martin Benner auf Spannung gesetzt. Immer wieder zwingt sie den Leser zu einer gedanklichen Kehrtwende. Immer wieder scheinen die Spuren ins Nirgendwo zu führen. Das macht riesigen Spaß beim Lesen. Wer den ersten Roman nicht kennt, muss nicht unbedingt davor zurückschrecken, mit dem zweiten zu beginnen. Wer aber die Gelegenheit hat, beide Romane in der richtigen Reihenfolge nacheinander zu lesen, sollte auf dieses spannende Lesevergnügen nicht verzichten.

Kristina Ohlsson
Bruderlüge
Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
Limes Verlag, München
ISBN 9783809026679

© Detlef Knut, Düsseldorf 2017
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