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Schlagwort: Erinnerungen

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

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Daniel Schreiber ist ein sensibler, feinfühliger Autor. Das hat er in allen seinen Büchern bewiesen.

Hier schreibt er über die Zeit der Verluste, die unser Leben begleiten.
Ob Menschen, Orte oder Dinge, die wir lieben: alles ist vergänglich! Wir müssen uns mit dem Schmerz der Verluste auseinandersetzen und sie bewältigen.

Schreiber ist in Venedig, einer Stadt, die ihm mit ihren Geräuschen, den Plätzen und der Kunst zutiefst berührt. Er ist hingerissen von seinen Kunstbetrachtungen, von menschlichen Begegnungen und den Gesprächen, die er dort bei Gelegenheit führt.

Rückblickend erinnert er sich an Heidelberg, wo er einen Anruf seiner Mutter erhielt. Er weiß, dass ihn eine sehr schmerzliche Nachricht erwartete: der Tod seines Vaters! Da er jedoch eine Bühne für eine Lesung betrat, rief er die Mutter erst am Morgen zurück. Es kommt ihm so vor, als sei er vor der Nachricht geflohen. Nun ist das Erwartete eingetreten.

Daniel Schreiber ist ein sehr gefühlvoller Mensch, der innige Beziehungen pflegt zu Menschen, die ihm nahestehen. Dazu gehörte sein Vater.
Wie er seinem Schmerz Ausdruck verleiht, das ist anrührend.

Hier in Venedig, gibt er sich seinen Erinnerungen an den Vater, die Mutter und den Beziehungen zu ihnen hin. Den Alterungsprozess seines Vaters hat er genau reflektiert und mit Erschrecken die Monate des Wiedersehens beschrieben, wenn er nach längerer Abwesenheit nach Hause kam. Er ist ganz elegisch bei den Erinnerungen, die auch zahlreiche andere Verluste seines Lebens einschließen. Hinzu kommen der Klimawandel, die Pandemie und der Ukrainekrieg, die eine vermeintlich stabile Welt ins Wanken gebracht haben. In Gesprächen mit einer Freundin haben sie sehr krass diese so genannten „Zeitenwende“ realisiert.

Das Büchlein regt auch den Leser an, sich der eigenen Vergänglichkeit und der erlittenen Verluste zuzuwenden. Zuweilen vergehen Geschehnisse einfach; man verliert Freunde, weil sich die Lebenswege trennen. Eltern und Geschwister treten ein wenig in den Hintergrund. Was bleibt, sind Erinnerungen und die Spuren, die eine jede Zeit hinterlässt.

Insgesamt ist das Erzählte von Trauer durchzogen. Insofern ist die Erzählung besonders geeignet für Leser, die ähnlich traurige Erlebnisse zu verschmerzen haben.

In einem ausführlichen Anhang wird auf Literatur verwiesen, die Schreiber herangezogen hat, um seine Ideen und Vorstellungen über Trauer und Verlust zu belegen.

Daniel Schreiber
Die Zeit der Verluste
Hanser Berlin, 3. Auflage, November 2023
144 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446278001
ISBN-13: 978-3446278004
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Paul Auster: Baumgartner

Paul Auster: Baumgartner

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Paul Auster beschäftigt sich in seinem vorliegenden Roman mit Abschied und Tod.

Zu Beginn sitzt sein Protagonist Seymour Baumgartner am Schreibtisch und arbeitet. Er will eben noch seine Schwester anrufen, und schnell befindet man sich mitten im Leben des 72 Jährigen.
Er ist emeritierter Professor der Phänomenologie und lebt seit vielen Jahren alleine. Seine Frau Anna kam vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben.
In seinen Gedanken ist sie immer noch mit ihm bei allem täglichen Geschehen und in den Nächten, wenn er wach liegt und nachdenkt, wie alles gekommen ist.

In unvergleichlicher Weise werden wir Zeuge, wie das Leben sich verändert hat. In den Erinnerungen und in Aufzeichnungen von Anna, die er gefunden hat, wird über das Kennenlernen und das Leben zu zweit berichtet. Die sechziger Jahre werden lebendig mit ihrem Aufbruch in Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Der Vietnamkrieg mit allen Folgen für Familien und Freunde wird gegenwärtig.

Anna war eine Rebellin. Sie hat das reiche Elternhaus hinter sich gelassen und arbeitet in New York in einem kleinen Verlag. Anlässlich eines ungewöhnlichen Ereignisses auf ihrem Heimweg in der Nacht sucht sie bei ihrem Freund und Geliebten Sy, wie er genannt wird, Hilfe. Er macht ihr einen Heiratsantrag. Sie stimmt ihm nach einer glücklichen Nacht freudig zu. In so vielen Dingen waren sie in Übereinstimmung miteinander!

Diese Beziehung dominiert den Roman. Anna und Sy haben eine enge geistig-mentale innere Bindung, die ihresgleichen sucht. Hier denkt man unwillkürlich an das Paar Auster und Siri Hustvedt, die in New York als DAS Intellektuellenpaar gelten mit einer ebenso engen und unverbrüchlichen inneren Bindung.
Im Roman muss Sy schon so viele Jahre alleine leben!

In poetischen Bildern erleben wir ihn bei Betrachtungen der Natur, bei der Erinnerung an einen engen Freund, der im Zuge des Vietnamkriegs tödlich verunglückte und immer wieder in fast surrealen Begegnungen mit der toten Anna. Gespräche, die er in Gedanken mit ihr führt, werden im Wechsel mit seinem täglichen Leben äußerst realitätsnah beschrieben.

Vor uns ersteht ein New York, das in besonderer Weise charakteristisch war oder auch heute noch ist: intellektuell, dynamisch und voller Gegensätze zwischen arm und reich. Gesellschaftlich schien dieser Ort der Mittelpunkt der Welt zu sein. Hier entstanden Freundschaften und bildeten sich Lebensgemeinschaften zu gemeinsamen Spaß, zur Unterhaltung und zu geistigem Austausch. Durch alle Turbulenzen hinweg blieb die Beziehung zwischen Sy und Anna unerschütterlich.

In dem Roman gleiten kleinere Abschweifungen in die Vergangenheit über in die Gegenwart.
Man erkennt klare Strukturen: Vergangenheit, Gegenwart und Bezüge zwischen beiden.
Da geht es weit zurück die Familiengeschichten von beiden Partnern.

Auster beschreibt das Leben, wie es nach dem Tod eines sehr geliebten Menschen sein kann, wenn man fast symbiotisch verbunden war.
Unschwer erkennt man autobiographische Züge, denn Paul Auster hat Krebs und verarbeitet in diesem Roman fiktiv das Leben nach dem Ende eines Partners.

Die Erzählung ist zärtlich, traurig, suchend und zeigt das Bemühen, nach so vielen Jahren nochmal eine Gefährtin zu finden. Ob es ihm gelingen wird?
Eine gewisse Melancholie ist unübersehbar.

Paul Auster kann schreiben! Gelegentlich denkt man beim Lesen an Philip Roth.
Beide gelten als Titanen der Literatur!

Paul Auster
Baumgartner
Rowohlt Buchverlag, 2. Auflage November 2023
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498003933
ISBN-13: 978-3498003937
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David Kermani: Das Alphabet bis S

David Kermani: Das Alphabet bis S

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Dieses Buch fordert dem Leser einiges an Ausdauer und Konzentration ab.

Eine namenlose Schriftstellerin schreibt eine Art Tagebuch. U.a. sortiert sie die Bücher in ihrem Schrank nach dem Alphabet und möchte daran anknüpfend einige noch einmal lesen. Das ist ein zeitraubendes und aufwendiges Unterfangen.

Zunächst aber wird der Alltag beschrieben: was sie so treibt, wie sie ihre Zeit verbringt, wie es um ihr Familienleben bestellt ist und so fort. Die Mutter stirbt, der Mann hat sie verlassen und ihr Sohn erleidet einen Herzinfarkt.

Wie Kermani selber stammt auch seine Erzählerin aus dem Iran, was von keiner geringen Bedeutung ist.

Eingeflochten in das tägliche Geschehen beobachtet sie mit feinem Gespür den menschlichen Geist und Umgang und lässt ihren Reflexionen freien Lauf.
Da geht es um die sterbende Mutter und um das Altwerden allgemein, um Krankheiten und Lebenseinsichten, um Generationenkonflikte wie z.B. „…weil Eltern an ihren Kindern schuldig werden, ihnen unrecht tun, Fehler begehen, genauso wie umgekehrt, umgekehrt meistens noch mehr“. (S. 27) Es geht um die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln und Erinnerungen an frühe Kindheitserfahrungen. Auch das Alter mit seinen Erscheinungsformen wird gestreift. Z.B. …“Alter bedeutet, Stück für Stück zu verlieren, was selbstverständlich war, nach den Eltern die Freunde, die Geschwister, die Frau oder den Mann, Organ um Organ zu bemerken, das nicht mehr will etc…..“(S.28)
Es gäbe hier noch so vieles aufzuzählen!

Die Notizen sind ehrlich in der Selbsterkenntnis und von tiefer Wahrheit.
Es geht aber beileibe nicht nur um Altersbetrachtungen, sondern um alles, was bemerkenswert ist.
Oder gibt es Tage, wo nichts geschieht?

Das Leben als Schriftsteller bietet zahlreiche Gelegenheiten, um sich mit Alltagsfragen auseinanderzusetzen. Menschen begegnen einem, die Liebe verlässt einen und Einsamkeit umfängt einen.

Obwohl aus dem Blickwinkel einer Schriftstellerin geschrieben, erkennt man doch in jedem Satz Navid Kermani selbst, der seine Gedanken, Fantasien und Erkenntnisse hier zu Papier bringt.

Es ist ein umfangreiches Werk. Wenn auch als Roman deklariert, so möchte man das Buch doch als Sachbuch sehen. Philosophische Einsichten und die zahlreichen Autoren, die zitiert werden, lassen keinen Zweifel, dass persönliche Erfahrungen mit Erkenntnissen aus der Philosophiegeschichte in den Text einfließen.

Da es keinen Handlungsstrang gibt, sondern Ereignisse, Beobachtungen und Gedanken fast übergangslos ineinanderfließen, bedarf es der Muße, um sich auf diese langen Ausführungen einzulassen.

Navid Kermani ist ein anerkannter Dichter, der viele Auszeichnungen aufzuweisen hat.
Für mich gehört er zu den Ausnahmeschriftstellern!

Navid Kermani
Das Alphabet bis S
Carl Hanser Verlag, 3. Auflage, September 2023
592 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446277455
ISBN-13: 978-3446277458
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Helga Schubert: Vom Aufstehen

Helga Schubert: Vom Aufstehen

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Sie ist alt geworden! Und jetzt kommen ihr so viele Erinnerungen an ihre Heimat, ihr Leben in der DDR, Überwachung durch die Stasi und die Wende 1989!

Nun sollte alles anders werden.

In einer wunderbaren Sprache erzählt uns Helga Schubert, wie sehr sie das Land liebt, in dem sie lebt. Vor-und Hinterpommern, später Mecklenburg sind ihre Sehnsuchtsorte aus der frühen Kindheit. Über die Weiten der Felder und das Aufwachen in der Hängematte im Garten ihrer Großmutter in den Sommerferien in Greifswald erzählt sie voller Hingabe. Und wie man im Winter durch die zugefrorenen Furchen des Ackers gehen kann. Imme wieder blitzen die Erinnerungen über die Schönheit des Landes auf.

Schon die ersten Sätze des Buches voller Erinnerungen sind bestrickend und ziehen uns zu dieser Frau hin, die mit so viel Wärme zu erzählen weiß. Die Großmutter ist die Mutter von Helgas Vater, der im Krieg gefallen ist, und auf den die Großmutter so stolz war. Zu ihrer Schwiegertochter, Helgas Mutter, pflegt sie keinen Kontakt.

Helga Schubert fallen so schöne kleine Gedichte ein, die sie als Kind lernte! Das ist rührend mit zu erleben. Die Sommer ihrer Kindheit bei der Großmutter waren glücklich, und „sie fühlte sich geborgen bei einem unsichtbaren Vater“.

Das Leben als Schriftstellerin in dieser DDR war ein Leben, wie sie schreibt, in dem sie sich in verschiedenen Rollen fühlte. Sie war Mitglied der Kirche, sie zitiert kenntnisreich sicher Zitate aus der Bibel und von Brecht, aber auch von längst vergangenen Berühmtheiten wie Heine und Kleist; und sie spricht über den Besuch von der Mayröcker, die spontan sagt „hier könnte ich nicht leben“.

Sie darf abwechselnd als gerühmte Schriftstellerin ausreisen, ein anderes Mal nicht. Es ist ein unsicheres Pflaster, auf dem man sich als SchriftstellerIn bewegt.

Das Buch atmet den Geist der Vergänglichkeit! Der Vater, der so früh im Krieg fiel, und von dem sie nur aus Erzählungen erfährt. Großmütter, die starben, Verwandte, die sie und die Mutter auf der Flucht zurückließen; kann man sich in so einem Leben überhaupt freuen?

Ja, sie hat Erfolg als Schriftstellerin, und sie hat einen langjährigen Gefährten, um den sie sich im Alter sorgt, und den sie versorgt.

Über der ganzen Erzählung liegt ein Schatten von Melancholie. Assoziativ folgt eine Erinnerung der nächsten. Eine kalte und böse Mutter hat es ihr schwergemacht, diese zu akzeptieren. Zu ihr blieb das Verhältnis zeitlebens getrübt. Sie fühlt diese Beziehung als Last und Schuld, mit der sie nicht umzugehen weiß.

In der Kirche sucht sie Trost, findet ihn höchstens in den Versen von Bonhoeffer und Paul Gerhard.

Gegenwart vermischt sich mit Vergangenem, Liebevolles mit Boshaftigkeit.

Man folgt diesen Reflexionen und empfindet mit, wie sie die Jahre mit den Erschwernissen von Vertreibung, Flucht und Neubeginn überlebt und eine anerkannte Schriftstellerin wird. Es ist ein zu Herzen gehendes Vermächtnis, das sicher Leser mit ähnlichen Erinnerungen ansprechen wird. Aber auch andere, die sich auf Erinnerungen über das Altwerden einlassen wollen, werden dieses Buch gerne lesen. Ich empfehle es sehr!

Helga Schubert
Vom Aufstehen
dtv Verlagsgesellschaft, März 2021
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423282789
ISBN-13: 978-3423282789
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Monika Helfer: Die Bagage

Monika Helfer: Die Bagage

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In einem Bergdorf in Österreich fernab größerer Siedlungen leben Maria und Josef mit ihren zahlreichen Kindern. Maria ist schön, so schön, dass sich ihrer Anziehung kein Mann entziehen kann.

Sie sind arm, leben in einer Hütte und gelten als die „Bagage“. Sie schlagen sich nur mühsam durch.

1914 muss Josef in den Ersten Weltkrieg ziehen. Er lässt seine Frau unter dem Schutz des Bürgermeisters im Bergdorf zurück.

Ein schöner Mann erscheint eines Tages: Georg! Er kam aus Hannover. Kurze Zeit nur weilt er hier. Dann ist er wieder verschwunden. Auch er kann sich der Anziehung der schönen Maria kaum entziehen. Was mag sich zwischen ihm und Maria abgespielt haben? Das Verhalten des Bürgermeisters treibt die Geheimnisse um die schöne Frau auf die Spitze.

Eine archaische Welt tut sich vor uns auf!

Die zentrale Figur dieser mit kurzen Sätzen und in einem stoischen Stil verfassten Geschichte ist die schöne Maria. Sie ist sehr auffallend. Von ihr geht eine erotische Strahlkraft aus, die fast alle Männer in Sehnsucht, Bewunderung und Begierde treibt.

Monika Helfer verfasst ihre Geschichte in Erinnerungssprüngen an die verschiedenen Generationen.

Maria ist die Großmutter, aus deren Schoß so viele Kinder geboren wurden. Mutter der Icherzählerin ist Marias Tochter Grete, ein Mädchen, dessen Herkunft während der Kriegszeit nicht so ganz sicher zu bestimmen ist.

Schaut Josef sie deswegen nie an und spricht auch nie ein Wort zu dieser Tochter? Hat er Zweifel an seiner Vaterschaft für dieses Kind?

Mit spröden Sätzen und in faszinierenden Bildmalereien ersteht ein Panorama, das Landluft und Natur mit einbezieht in die Geschichte einer großen Familie. Die Icherzählerin befasst sich mit den einzelnen Charakteren ihrer Onkel und Tanten, und es kommen skurrile Naturen zum Vorschein. Hervorstechend bleibt die Großmutter mit ihrer starken Anziehungs- und Verführungskraft.

In dieser Erzählung macht die Armut nicht hilflos und schwach, sondern sie erzeugt kraftvolle Menschen. Sie sind stolz und trotzen dem Hunger, der Kälte und der Armut. Auch verbindet die ganze Sippschaft eine enge Zusammengehörigkeit. Es gibt die Liebe, aber sie bleibt verhalten und man spricht nichts aus.

Zarte Beobachtungen der Natur und der Vogelwelt sind von poetischer Schönheit. Man fühlt sich hautnah dem Winter, dem Schnee und der Kälte ausgesetzt.

Die Autorin hat es geschafft, eine magische Welt zu beschreiben. Der Leser bleibt bis zuletzt im Banne der Geschichte und ist fasziniert, wie aus jedem skizzierten Leben eine ganz eigene Geschichte entsteht.

Das schmale Bändchen mit nur 158 Seiten hat das Zeug zu einem wirklich großen Roman.

Hervorragend!

Monika Helfer
Die Bagage
160 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Februar 2020
ISBN-10: 3446265627
ISBN-13: 978-3446265622
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Charles J. Shields: Der Mann, der den perfekten Roman schrieb

Charles J. Shields: Der Mann, der den perfekten Roman schrieb

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„John Williams, der den Roman „Stoner“ schrieb, wurde erst lange nach seinem Tod berühmt und gilt heute als Ikone in der amerikanischen Literatur“. So lautet es auf dem Klappentext. Und in der Tat ist der Roman „Stoner“ ein unerhörtes Leseerlebnis.

Charles Shields hat sich auf Spurensuche begeben und eine wunderbare Biographie dieses Ausnahmetalentes geschrieben.

In vielen Details, mit klugen Gedanken arbeitet er heraus, wie sehr John Williams’ Leben dem seines Romanhelden „Stoner“ glich.

Aus einfachen Verhältnissen stammend arbeitete Williams sich in zahlreichen Nebenjobs hoch, so dass er schon in jungen Jahren einen kleinen Verlag leitete. Bis dahin arbeitete er als Regisseur kleinerer Theater, war Radiomoderator, kämpfte in Zweiten Weltkrieg in der amerikanischen Luftwaffe, war schon mit 24 Jahren zum zweiten Mal verheiratete und so fort. Er lebte in verschiedenen mittelwestlichen Staaten der USA und kam viel herum. Doch dann begann er ein Literaturstudium, und er begann zu schreiben.
In der vorliegenden Biographie beschwört Shields die literarischen und verlegerischen Größen der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Westen und Süden Amerikas herauf. John Williams geriet unweigerlich in diese Kreise und nahm bald einen festen Platz unter ihnen ein.

Die Vielzahl der Namen von Professoren, Schriftstellern, Verlegern u.a. sind für den Leser nicht immer leicht zu behalten. Charles Shields’ Arbeit ist detailreich, genau und gleicht fast einer literarisch wissenschaftlichen Arbeit. Unter den äußeren Daten spürt man sehr genau, wo „Stoner“ biographische Züge seines Erfinders trägt. Wie „Stoner“ kam Williams aus einfachen Verhältnissen. Ein gemeinsames Merkmal scheint auch die Einsamkeit zu sein, unter der beide litten, auch wenn John Williams äußerlich einen großen Bekannten- und Berufskreis hatte. Wie sein Protagonist ist Williams besessen von seiner schriftstellerischen Arbeit und hat wenig Zeit für sein Privatleben. Kein Wunder, dass er vier Ehen hinter sich hat!

Shields versäumt nicht, auf die landschaftlichen Schönheiten der Aufenthalte von John und seiner vierten Frau hinzuweisen. Denver, Key West, Missouri, Boston und wie die Orte alle heißen, an denen John Williams lebte und arbeitete. Sie werden äußerst malerisch beschrieben. Wildes, schönes Amerika!

In dem ausführlichen Lebenslauf von Williams gab es Höhen und Tiefen, es gab viel Alkohol, es gab Stimmungsschwankungen, aber es gab auch eine Vielzahl von Begegnungen mit anerkannten Größen des Literaturbetriebs, Freundschaften, Feindschaften, Rivalitäten und nicht zuletzt zahlreiche anerkannte Preise.

Während der Roman „Stoner“ in Amerika in Vergessenheit geriet, entdeckte ihn die französische Schriftstellerin Anna Gavalda 2007 für Europa neu. Der Roman begann mit der Übersetzung in fast alle Sprachen von Belang seinen Siegeszug um die Welt.

Am Ende scheint es, dass Williams gar nicht so unbekannt war, wie es der Klappentext vermuten lässt.
Er war Dozent, Professor, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller aus Passion. Man liest das Buch voller Staunen über die Vielzahl an Ereignissen, die den Weg dieses Ausnahmeautors bestimmten.

Für Freunde der amerikanischen Literaturwissenschaft ist das Buch eine reiche Quelle, aus der man über die diversen Strömungen und Entwicklungen im Literaturbetrieb der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts etwas erfahren kann.

Meine Achtung gilt dem Autor Charles J. Shields für dieses umfassende Werk!

Charles J. Shields
Der Mann, der den perfekten Roman schrieb
384 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Oktober 2019
ISBN-10: 342328191X
ISBN-13: 978-3423281911
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Jean-Philippe Blondel: Ein Winter in Paris

Jean-Philippe Blondel: Ein Winter in Paris

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Victor studiert am Lycée D. Paris in der Vorbereitungsklasse. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und ist froh, nun ein eigenes Leben zu haben. Doch es fällt ihm nicht leicht, dem Druck standzuhalten. Das Studium überfordert in. Dazu kommt, dass er kaum wahrgenommen wird. Freunde findet er nicht, dabei sehnt er sich nach Halt und Austausch. Aber vielleicht lässt sich mit Mathieu etwas aufbauen. Hin und wieder eine Zigarette zusammen zu rauchen, könnte der Anfang einer Freundschaft sein, auch wenn Mathieu einen Kurs unter ihm ist. Victor nimmt sich vor, ihn zu seinem Geburtstag einzuladen.

Doch soweit kommt es nicht. Mathieu stürmt nach einem Vorfall aus dem Klassenraum und springt über das Geländer. Victor sieht ihn am Boden liegen und kann es nicht fassen. Nur langsam realisiert er, was geschehen ist.
Auch wenn beide sich kaum kannten, wird er nun als Freund des Opfers für die anderen sichtbar. Mathieus Vater kommt nach Paris. Er will wissen, was geschehen ist und hofft darauf, dass Victor ihm helfen kann.

Das Buch ist sehr ergreifend. Es geht nicht so sehr um Mathieu und die Gründe für seinen Selbstmord, auch wenn das starre Schulsystem zusammen mit dem tyrannischen Lehrer Clauzet zur Sprache kommt. Vielmehr ist Victor die Hauptperson. Er lernt Mathieu erst nach dessen Tod besser kennen. Er wird erst jetzt zu einem Freund, so seltsam das klingt. Victor ist verstört und angreifbar, wie sollte es auch anders sein? Dadurch gelingt es Mathieus Vater Patrick Lestaing ihn für sich zu instrumentalisieren. Vielleicht geschieht das nicht bewusst. Aber Victor ist der Einzige, der ihn seinem Sohn noch einmal näher bringen kann. Er hat viel versäumt als Vater.

Die Geschichte wird im Rückblick erzählt. 30 Jahre sind vergangen, aber nichts ist vergessen. Das bietet viel Raum für Interpretationsmöglichkeiten. Der Schluss im Buch ist kein Ende. Es lässt den Leser zurück mit seinen Gedanken über das eigene Leben. Die melancholische Atmosphäre bleibt. Die Geister der Vergangenheit bleiben. Das Buch ist sehr traurig und doch auch melancholisch schön und anrührend.

Rezension von Heike Rau

Jean-Philippe Blondel
Ein Winter in Paris
Aus dem Französischen von Anne Braun
192 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-13: 978-3552063778
ISBN-10: 3552063773
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Annie Ernaux: Die Jahre

Annie Ernaux: Die Jahre

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Die 1940 geborene Annie Ernaux erzählt in ihrer hier vorliegenden Biographie „Die Jahre“ zunächst ausführlich über ihre Kindheit und Jugend in Frankreich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Lebenserinnerungen reichen weit bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus.

Sie schreibt ihre Biographie nicht in der Ichform, sondern verfremdet. Von „dem Mädchen“ oder „der Frau“ ist die Rede. Es geht um Bilder in Worten, in denen sie ein Gesellschaftsbild über ein halbes Jahrhundert vor uns ausbreitet.

Mit treffend und sprachgewaltig formulierten Sätzen, prägnant und genau, fängt sie die Atmosphäre einer ganzen Generation ein. In Frankreich sieht das genauso aus wie in Deutschland. Man spielt in der Kindheit die gleichen Kinderspiele wie Ringlein du musst wandern, Plumpsack oder Hinkelkästchen. Man hatte wenig zu essen, und es gab Läuse und zahlreiche andere mehr oder weniger dramatische Kinderkrankheiten. Fernsehen gab es noch nicht, aber die Erwachsenen sprachen viel von der Vergangenheit. „In den Erzählungen der Vergangenheit gab es nichts als Hunger und Krieg.“ (S. 23)

Man benutzte Plumpsklos und erfreute sich an den kleinen Dingen des Alltags. „Man lebte in der Nähe der Scheiße. Und machte Witze darüber.“ (S. 39) Man hörte Schlager und wünschte sich als Kind, nur schnell erwachsen werden zu können. „Wenn jemand starb, konnte uns das nichts anhaben“ (S.33) Im Flüsterton nur wurde über Dinge gesprochen, von denen die Erwachsenen nichts wissen durften.

Die katholische Kirche spielt eine zentrale Rolle, und dass „Lehrer und andere Gebildete nicht an Gott glaubten, war eine Anomalie.“ (S.46)

Später folgen die Studienjahre, Sex und andere Fragen, die die Autorin und ihre Altersgenossen von den Themen der Elternhäuser entfernen. Die Suche nach der eigenen Identität spielt eine raumgreifende Rolle. Sartre, Camus und Simone de Beauvoir begeistern die intellektuelle Jugend.

Weiter geht es durch die Jahre des Wandels in der Moral und mit der Rebellion der 68ziger.

Man studiert, bekommt Kinder, Ehe und Scheidungen schließen sich an.

Die Erzählung folgt dem Lauf der Jahre mit den eigenen Veränderungen und der neuen Rolle zwischen Eltern und Kindern. Freiheit und Gleichheit werden gelebt. Das Alter oder der Tod betrifft die „Älteren“ nicht aber einen selber.  Leider lässt sich auf Dauer nicht leugnen, dass das Älterwerden in mentaler und physischer Hinsicht ein unaufhaltbarer Prozess ist, der niemanden verschont! Auch das wird vermerkt.

Geschichtliche Veränderungen und Ereignisse bringen neue Kriege und Unruheherde in die Welt.

In distanziertem Stil wird ein Zeitkolorit entworfen, das seinesgleichen sucht: treffend und genau, witzig und humorvoll werden die Lebensabschnitte abgehandelt.

Die verfremdete Form, mit der die Autorin über ihre Vergangenheit berichtet, gibt dem Ganzen eine Allgemeingültigkeit, die ihre Aufzeichnungen wirklich denkwürdig machen.

Wer in dieser Zeit Kind und Heranwachsender war, wer die Jahre bis zur Jahrtausendwende erlebt hat, wird alles genauso beschrieben finden, wie es war.

Der Bericht rührt an die eigenen Gefühle und Erinnerungen. Damit bietet er einen Wiedererkennungswert, der anrührend ist. Der letzte Satz lautet “Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird“. Das ist es!

Annie Ernaux lebt in Frankreich und ist vielfach ausgezeichnet.

Annie Ernaux
Die Jahre
255 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, Auflage 2, September 2017
ISBN-10: 3518225022
ISBN-13: 978-3518225028
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Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war

Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war

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Eines Tages taucht ein Mädchen auf einem niederösterreichischen Bauernhof auf. Es ist Oktober 1944. Niemand vermag zu sagen, was ihr passiert ist. Sie scheint keine Erinnerung zu haben. Man nimmt an, dass ihre Eltern bei einem Luftangriff umgekommen sind. Das Mädchen wird von der Familie Leithner, die selbst viele Kinder hat, aufgenommen und Nelli genannt. Das geschieht auf eine sehr selbstverständliche Art und Weise.
Einige Monate später kommt ein junger Russe dazu. Er hat eine geheimnisvolle Leinwandrolle dabei, sonst nichts. Er ist kein Maler. Auch er fügt sich in das vorgegebene Leben ein.

Ein mühevoller Alltag wird gelebt, so wie es eben geht zu Kriegszeiten, bis sich eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten auf dem Bauernhof einquartiert. Die Angst wächst. Jetzt zählt der Zusammenhalt der gesamten Familie. Nelli beobachtet die Situation genau. Sie analysiert das Geschehen. Malt sich aus, was passieren könnte und sieht ein wenig zeitversetzt, was wirklich geschieht. Die Situation der Familie wird immer schwieriger. Sie sieht sich einer ungeheuren Provokation gegenüber, der sie begegnen muss, ohne zu reagieren. Aber es geht so nicht. Es mindert die Gefahr nicht. Letztendlich dreht sich alles um das Kunstobjekt in der Rolle und das Geheimnis, das damit bewahrt werden soll.

Der Autor erzählt die Geschichte, die mit Erinnerungen seines Großvaters verbunden ist, sehr anschaulich aus der Sicht der 13-jährigen Nelli. Die angespannte Lage ist jederzeit spürbar, auch wenn er hier nicht ins Detail geht. Nelly analysiert jede Situation und stellt sich immer vor, wie diese ausgehen könnte. Sie baut auf diese Weise eine Mauer und versucht, sich als Beobachter abzugrenzen. Ihre Vorstellung und die Wirklichkeit triften oft auseinander. Es gibt keine Sicherheit. Sie kann Situationen zu diesem Zeitpunkt nicht beeinflussen.

Der Autor beschreibt sehr bildhaft und mit psychologischem Feingefühl, wie es der Familie geht. Er nutzt dafür das, was die Kinder sagen. Oft sind es Sätze, die so erstaunlich sind, so naiv und doch so wahr! Die Geschichte geht sehr nahe und wirkt lange nach.

Rezension von Heike Rau

Paulus Hochgatterer
Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war
Erzählung
112 Seiten, gebunden
Deuticke Verlag
ISBN-10: 3552063498
ISBN-13: 978-3552063495
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Peter Henisch: Suchbild mit Katze

Peter Henisch: Suchbild mit Katze

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Der Autor Peter Henisch erzählt in diesem Buch von seiner Kindheit. Es sind die ersten Erinnerungen, die er hat, und die dann folgenden in einigen späteren Jahren, die ihn bewegen. Es ist eine Zeit, die er auf etwas melancholische Art und Weise betrachtet und beschreibt. Was weiß man schon als kleines Kind von den Vorgängen? Und doch gibt es immer etwas, das ihm nahe ist und an das er sich auch im Alter sehr genau zurückerinnern kann. Seine Kindheit verbringt Peter Henisch in Wien in der Zeit nach dem Krieg. Er ist ein verträumtes Kind, das auch einfach mal damit zufrieden ist, mit der Katze aus dem Fenster zu sehen. Das Fenster wird zum Rahmen für Gedanken und Träume. Auch in diesem kleinen Umfeld gibt es immer etwas zu beobachten. Auch kleine Veränderungen können interessant sein und die Fantasie beflügeln. Langeweile kennt der kleine Junge nicht.

Ich habe diese Autobiographie sehr gerne gelesen. Zumal die Erinnerungen, trotz der schwierigen Zeit, auch immer wieder sehr schön sind. Ruhig fließen die Zeilen dahin, fließt die Zeit dahin. Peter Henisch ist noch zu klein, um zu verstehen. Er arrangiert sich mit den Gegebenheiten im zerbombten Wien und mit dem schwierigen Alltagsleben für seine Eltern, den anderen Familienangehörigen und den Nachbarn. Aber natürlich hat der Autor nun den Blick in seiner Gesamtheit auch auf das Zeitgeschehen gerichtet und sieht mit anderen Augen in die Vergangenheit zurück. Der Bogen wird bis in die Gegenwart gespannt. Es sind Momente, die ihn heute noch prägen, an die er sich nun erinnert. Ganz allein ist er mit seinen Gedanken nicht. Die Erinnerung findet statt im Rahmen einen Interviews mit einer jungen Frau, die seine Bibliographie kennt. Eine Auseinandersetzung mit Nachfragen wird hier also realisiert. Das hilft den Erinnerungen auf die Sprünge und lässt interessante Überlegungen zu.

Rezension von Heike Rau

Peter Henisch
Suchbild mit Katze
Deuticke Verlag
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552063277
ISBN-13: 978-3552063273
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