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Thomas C. Boyle: Die Terranauten

Thomas C. Boyle: Die Terranauten

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Big Brother trifft auf das in Südengland beheimatete Eden Project gemischt mit Desparate Housewifes, so könnte man das Thema des Buches kurz zusammenfassen. Vier Frauen und vier Männer werden für zwei Jahre in ein geschlossenes Ökosystem unter einer riesigen Glaskuppel eingesperrt. Sie leben experimentell in einem Terrarium. Die Abgeschlossenheit und das Gefängnishafte gleicht einer Raumstation. So bauen sich Beziehungen auf, aber auch Konflikte.

Boyle hat einen passenden Erzählstil für diese Geschichte, die Anfang der neunziger Jahre handelt, gefunden. Er lässt verschiedene drei Protagonisten in verschiedenen Phasen des Projektes erzählen: vor dem Einschluss in das Terrarium genannt E2 (Ecosphere 2), im ersten Jahr drinnen, im zweiten Jahr drinnen und nachdem sie das E2 verlassen haben. Wie in einem Tagebuch berichten diese Protagonisten, es sind Dawn und Ramsay von innerhalb und Linda, Crewmitglied außerhalb E2, die sich in ihren Erzählungen direkt dem Leser zuwenden und ihn ansprechen mit Sätzen wie: “Glauben Sie nur nicht, dass wir darüber nicht auch nachgedacht haben.“ Das schafft eine Nähe zu diesen Erzählern und lässt das Projekt wie eine Dokumentation wirken. Außerdem lernt man auf diese Weise nicht nur die Erzähler kennen, wie sie ticken, warum sie an dem Experiment teilnehmen, was ihre Motive sind. Der Leser lernt auch die übrigen Teilnehmern der Crew aus den Berichten der Drei kennen. Sowohl denen, die drinnen sind als auch denen, die von draußen das Projekt betreuen. So zeichnet Boyle einen Extrakt der menschlichen Gesellschaft mit allen Schattierungen. Die Leser können sich also auf ausgefeilte Charakterstudien unterschiedlichster Figuren freuen, wie der Boyle-Kenner von diesem Autor gewohnt sein dürfte.

Doch es gibt eine Nachlässigkeit, die mir in diesem Roman nicht ganz so zugesagt hat. Hauptsächlich in der ersten Hälfte gibt es lange, ermüdende Strecken, in denen der Autor bemüht ist, sein bei den Recherchen erworbenes Wissen weiterzugeben. Das ist zwar verständlich, aber hätte nicht sein müssen. Eingebunden in den Kontext zur Erklärung des Lebens in einer abgeschlossenen Ökosphäre, ist dies meines Erachtens etwas zu viel des Guten. So erfährt der Leser zum Beispiel was eine hypothalamische Amenorrhoer ist oder was es mit dem Chadwick-Indikator auf sich hat. In seiner Fülle ausgebreitetes Wissen, was nicht zum Fortgang der Geschichte beiträgt.

Ich kann aber beruhigen, denn in der zweiten Hälfte des Buches wendet sich das Blatt. Denn T. C. Boyle ist bekanntermaßen ein Meister des Showdowns, ein Meister der Zuspitzung. So verwundert es nicht, dass das Buch ab da so richtig Fahrt aufnimmt. Die Konflikte spitzen sich zu und scheinen auf eine Katastrophe zuzulaufen. Ausreichend Fäden und Konflikte wurden zuvor gelegt, die den Roman nun zu einem Pagerturner werden lassen.

Besonders hervorzuheben ist die Übersetzung durch Dirk van Gunsteren, der nach einer adäquaten Sprache im Deutschen gesucht und für mich auch gefunden hat. So fließt an passenden Stellen typisch deutsche Umgangssprache ein, wo im amerikanischen Original amerikanische Umgangssprache vorgelegt wird. Dadurch macht das Buch besonderen Spaß.

Wer die langen, belehrenden Phasen in der ersten Hälfte des Romans übersteht bzw. überspringt, der wird am Ende einen höchst spannenden Roman mit sehr viel Konfliktpotenzial genießen können. Das Thema gibt es allemale her und wurde offenbar noch nicht abschließend behandelt.

Thomas C. Boyle
Die Terranauten
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag, München
ISBN 9783446253865

© Detlef Knut, Düsseldorf 2017
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