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Autor: Claudine Borries

Jan van Es: Das Mädchen mit dem Poesiealbum

Jan van Es: Das Mädchen mit dem Poesiealbum

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Bart van Es hat über eine wichtige Episode seiner Familiengeschichte geschrieben.

Er bedient sich dafür sehr genauer Recherchen über die Nazizeit und den Holocaust in Holland. Es ist auch ein Stück schlimmer holländischer Geschichte!

Das Land wurde schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges von deutschen Truppen besetzt.

Einmal mehr aber wird über den Mut und die Hilfsbereitschaft einer großen Anzahl von Hilfswilligen berichtet. Neben einer starken Widerstandsbewegung gab es wie überall auch Mitläufer und Handlanger des Systems.

Betroffen in diesem Bericht ist Bart van Es selber, als er herausfindet, dass seine Großeltern ein kleines jüdisches Mädchen vorübergehend versteckt hielten, bis sie ihr nach einem Verrat keinen Schutz mehr bieten konnten.

Die dramatische Geschichte von Lien de Jong beginnt 1941. Sie wohnte mit ihren Eltern in Den Haag, als es zu den ersten jüdischen Abtransporten kommt. 1942 schicken die Eltern sie mit einem Poesiealbum und einem Brief auf eine Reise ins Ungewisse. Es beginnt eine Odyssee, deren Verlauf voller Schrecken ist. Das kleine Mädchen wird immer weitergeschickt zu fremden Menschen und Orten. Als ihre Reise beginnt, ist sie 9 Jahre alt. Innerlich schottet sie sich allmählich ab. Wie soll ein Kind auch verstehen, was da mit ihm geschieht? Fühlt sie zuerst noch Kummer und Sehnsucht nach der Mutter, wird ihre Gefühlswelt schließlich ganz vom Sog des Untergangs mitgerissen.

Bart van Es holt weit aus, beschreibt Städte, Orte und Unterkünfte und findet vor allem Kontakt zu Lien, die ihm ihre ganze Geschichte nach und nach erzählt.

Die Familie van Es, aus der Bart van Es stammt, spielte die größte Rolle in ihrem Fluchtleben. Lien fühlte sich dort im Kreise der Kinder, die sie wie Geschwister empfand, sehr wohl. Sie muss das Versteckt verlassen, als sie aufgespürt wird. Und weiter geht es von einem Versteck in das andere, von einem Ort zum anderen und schließlich in die bigotte Familie van Laar, wo sie Dienstmädchenaufgaben verrichten muss.

Nach dem Krieg wünscht sich Lien in die Familie van Es zurück, wo sie auch wieder wie ein eigenes Kind aufgenommen wird, da ihre Eltern im KZ umgekommen sind. Unerklärlicherweise riss der Kontakt zu der Familie Jahre später ab. Warum?

Bart van Es beschreibt in einem angenehmen Tempo und mit zahlreichen intensiven und charakteristischen Ausschmückungen, was dem Mädchen Lien in ihrem jungen Leben alles passiert ist. Er folgt ihrer Lebensgeschichte auch nach dem Krieg und bis in ihr hohes Alter.

Man liest die Beschreibung dieser ganzen Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Spannung und Empörung darüber, zu was Menschen, auch die angeblich guten, fähig sind. Immer wieder mag man es nicht glauben, wie die jüdische Tragödie während der Nazizeit und danach unser aller Leben und das unserer Nachbarstaaten verändert hat.

Dass es zu menschlichen Missverständnissen und Brüchen in Beziehungen kommen kann, ist eine der Begleiterscheinungen einer Familiengeschichte, die intensiv auch den zwischenmenschlichen Vorkommnissen nachgeht.

Zahlreiche Fotos dokumentieren Liens Leben und komplettieren eine Lebensgeschichte, die voller Dramatik und an guten und schlechten Erfahrungen reich war.

Wiewohl man  denken mag, nun ist es einmal genug mit den Erinnerungsbüchern an die jüdische Geschichte, ist gerade dieses Buch noch einmal von besonderen Bedeutung. Geht es doch hier um ein Familienporträt von außerordentlicher Brisanz in seiner Komplexität des menschlichen Miteinanders.

Die Aufmachung des Buches ist edel, die Übersetzung aus dem Englischen von Silvia Morawetz und Theresia Übelhör gelungen.

Der Autor lebt mit seiner Familie in England und lehrt Englische Literatur in Oxford.

Bart van Es
Das Mädchen mit dem Poesiealbum
320 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, Februar 2019
ISBN-10: 3832198563
ISBN-13: 978-3832198565
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Jane Gardam: Weit weg von Verona

Jane Gardam: Weit weg von Verona

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Jessica ist eine aufsässige kleine Person, die immer und fast überall aneckt. Wir erleben sie als Schülerin mit 9 Jahren. Der Zweite Weltkrieg überschattet ihr Leben und das ihrer Mitmenschen an der Nordostküste von England.

Als sie in der Schule einen Schriftsteller kennenlernt, der ihre Art zu schreiben als begabt einordnet, bleibt sie besessen vom Schreiben, das sie schon lange praktiziert. Die Liebe zur Literatur und ihr Bekenntnis, dass sie nicht beliebt ist, sind die ehrlichen Selbsteinsichten dieses eigenwilligen jungen Mädchens.

Ihre Familie ist beschäftigt mit Kriegsbedrohung und Not. Der Vater, einst ein Lehrer, lässt sich an die Nordostküste Englands versetzen, wo er sich als Hilfsprediger betätigt. Jessica muss sich neu in eine fremde Schule eingewöhnen. Die Mädchen und Lehrerinnen sind ihr nicht immer wohl gesonnen!

Von Beginn an bleibt man fasziniert vom Eigensinn und von der Burschikosität, mit der sich Jessica überall ihren Weg bahnt. Sie sagt immer genau das, was ihr in den Sinn kommt und stößt damit so manchen Mitmenschen vor den Kopf.

Voller Witz und Sprachreichtum sind die Lebenserfahrungen der Schülerin, die immer wieder in denkwürdige Abenteuer – und Kriegserlebnisse verstrickt wird. Sie legt sich mit Lehrern und Eltern an und geht zielstrebig ihren eigenen Interessen nach.

Die Unmittelbarkeit und Frische, mit der Jane Gardam ihre Figur agieren lässt, zieht den Leser sogleich in Bann. Mit wehenden Kleidern läuft Jessica z. B. dem Schriftsteller nach der Schulstunde hinterher, um ihm ihre Konvolute in die Hand zu drücken, nicht ahnend, dass dieser sie nach der Lektüre in Anerkennung ihrer Begabung wirklich zu einer Schriftstellerin erklärt.

Leider kann Jane Gardam den Spannungsbogen in diesem Roman nicht durchhalten. Zu abgesetzt und willkürlich erlebt man die Abenteuer der Protagonistin, und zu viele Personen spielen in die Geschichte hinein. Es gehört Geduld dazu, um allen ihren Eskapaden zu folgen. Alleine ihre Liebe und fast Leidenschaft zur Literatur bleibt durchweg erhalten und krönt das Ende der Geschichte.

Die Autorin ist einem breiten Leserpublikum bekannt durch die Trilogie ihrer Romane um den „old Filth“ genannten Anwalt in der Kronkolonie Hongkong. Diese Romane haben die Literaturszene eines breiten Lesepublikums und auch mich zu Begeisterungsstürmen hingerissen.

Jane Gardam ist spät entdeckt worden und feierte ebenso einen späten Ruhm mit ihrem Werk. Der vorliegende Roman ist schon 1971 erschienen und gilt als ihr erster. Er kann m.E. mit den drei berühmten späteren Werken über die Anwälte in der Kronkolonie Hongkong nicht mithalten.

Jane Gardam
Weit weg von Verona
240 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, Juli 2018
ISBN-13: 978-3446260405
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Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter

Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter

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Die Erzählung führt uns in die Mitte der sechziger Jahre an den Rand einer kleinen Stadt bei Köln: hier lebt das Ehepaar Ahrens in einem neu gebauten Einfamilienhaus mit Doppelgarage und Waschbetonterrasse. Tobi, der Sohn und Icherzähler, ist 11 Jahre alt. Schon bald ziehen neue Nachbarn ein. Sie stellen sich vor als Ehepaar Leinhard mit Tochter Rosa, die mit ihren 12 Jahren schon mitten in der Pubertät steckt.

Die sechziger Jahre werden mit diesen beiden Familien, ihrem Leben, ihren Gedanken und ihren Lebensformen vom Autor kolossal gut charakterisiert. Geht es doch darum, über Verklemmung und Fortschritt zu berichten.

Die Eheleute Leinhard verkörpern die intellektuelle Elite ihrer Zeit mit Adorno, Bloch und der Frankfurter Schule. Professor Leinhard lehrt Philosophie und ist Vertreter einer glühenden Weltbesserung. In den abendlichen Unterhaltungen wird viel vom Geist der damaligen Zeit spürbar. Ein wenig Salonkommunismus spielt in die Gespräche hinein.

Das Ehepaar Ahrens lebt in wirtschaftlich guten Verhältnissen, ist aber sexuell verklemmt, was auch dem Sohn aus nächtlich belauschten Gesprächen seiner Eltern ein wenig spürbar wird. Er kennt sich aber mit der Sexualität noch nicht so aus, denn seine Interessen liegen eindeutig bei der Erforschung des Weltraums.

Herr Ahrens ist ein liebevoller und partnerschaftlicher Vater für seinen Sohn und hält dennoch die Generationenschranke ein, “weil Kindheit schön ist“.

Als seine Frau der neuen Nachbarin nacheifert und Englisch lernen will, um wie diese Kriminalromane aus dem Englischen übersetzen zu können, ist er vollends ratlos! Was sollen die Freunde und Kollegen denken, da er doch gut verdient, und sie ihr Auskommen haben? Bürgerliche Wohlanständigkeit und eben solche Regeln vereinbaren sich schlecht mit der allgemeinen Aufbruchsstimmung hinzu mehr Freizügigkeit in allen Bereichen.

Mit dem Zusammenspiel der beiden Paare wird eine leicht erotisierende Stimmung erzeugt, die auch die beiden Kinder zusammenführt.

Woelk lässt die Zeit der sechziger Jahre neu erstehen. War es doch der Beginn gesellschaftlicher Umwälzungen in Form von Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, Befreiung der Frauen aus sexueller und wirtschaftlicher Abhängigkeit und ganz allgemein in weiten Kreisen auch Befreiung aus bürgerlichen Zwängen. Kindern wurde Freizügigkeit gewährt, und die Formen pädagogischer Allmacht lösten sich auf. Jeder wollte auf seine Weise an der allgemeinen Aufbruchsstimmung teilhaben.

Aus der Perspektive des 11 jährigen erscheinen die Beobachtungen teilweise naiv und sind von Ahnung, Unwissenheit, Hoffnung und Neugierde gekennzeichnet. Die Sätze sind knapp und kurz und zuweilen in ihrer Naivität auch drollig.

Dass die Geschichte einen unerwarteten und tragischen Ausgang nimmt, lässt sich zu Beginn nicht ahnen. Alles in Allem ist es Ulrich Woelk gelungen, ein Zeitkolorit mit adäquaten Stimmungsbildern zu erfassen. Das Büchlein ist konzentriert und inhaltsreich und sehr empfehlenswert!

Ulrich Woelk
Der Sommer meiner Mutter
189 Seiten, gebunden
C.H.Beck, Januar 2019)
ISBN-10: 3406734499
ISBN-13: 978-3406734496
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Pedro Lenz: Die schöne Fanny

Pedro Lenz: Die schöne Fanny

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Drei Freunde leben in diesem Roman in den Tag hinein: Frank alias Jackpot, Louis und Grunz; letztere sind Maler, Jackpot freier Schriftsteller. Während die beiden Maler noch etwas zustande bringen, ist der Schriftsteller immer vermeintlich auf Erfolgskurs, hat aber fast noch keine Zeile für seinen neuen Roman geschrieben. Sie leben in der kleinen Stadt Olten in der Schweiz.

Die beiden Maler sind schon an die 70 Jahre alt, Jackpot ist nur halb so alt.

Alles dreht sich um die schöne Fanny, ein Modell der beiden Maler, in die sich Jackpot unsterblich verliebt. Er wartet, sucht und findet sie ab und zu wieder, aber sie bleibt nie lange, und für ihn ist sie geheimnisumwittert. Wie sich später rausstellen soll: zu Recht!

Mit einem lockeren, amüsierten Tonfall mit zahlreichen lakonischen Einschüben hat Pedro Lenz seinen Roman garniert. Man liest ihn mit Schmunzeln und ergötzt sich an dem leichtlebigen Dasein der drei Künstler. Der Roman gemahnt an eine Art Schelmenroman, in der es um die unbeschwerte Lebensart und die heitere Liebe geht. Der Ton bleibt immer witzig und locker. Man zieht sich gegenseitig ein wenig auf und verbringt viele Stunden beim gemeinsamen Essen und Trinken. Ausstellungseröffnungen und Begegnungen mit vielerlei Charakteren geben den Roman den Pfiff und eine gewisse Aktualität. Der Text ist angereichert mit durchaus klugen, zuweilen gar philosophischen Gedanken und setzt eine gewisse Bildung voraus. „Ich beschloss, mit dem Nachdenken aufzuhören. Aber mach das mal bewusst, nicht mehr zu denken. Das funktioniert nicht, weil auch der Gedanken, nicht denken zu wollen, gedacht werden muss“. Logisch, nicht wahr?

In der Erzählung von Pedro Lenz geht es u.a. auch um die ganz alltäglichen Dinge wie die Beschaffung von Geld.

Der immer wieder angekündigte Roman von Jackpot bleibt lange nur Fiktion, denn es fehlt ihm an Eingebung. Sein Bruder, ein erfolgreicher Geschäftsmann, unterstützt ihn großzügig mit Geld, so dass er seinem Bohèmeleben frönen kann, ohne zu verhungern.

Man wartet geduldig darauf, dass seine Liebesgeschichte und die Gestaltung seines Romans Formen annimmt. So lange darf man weiter an den ergötzlichen Tagesereignissen teilnehmen.

Ach, aber alles kommt am Ende ganz anders als erwartet! Die Geschichte steuert auf ein gutes Ende zu.

Das Leben: es spielt zuweilen verrückt. In diesem Roman dürfen wir der Leichtigkeit des Seins nachspüren. Spannung darf man nicht erwarten. Man freut sich am Ende an der Auflösung des Rätsels um Fannys Leben und Jackpots Roman und hat unterhaltsame Stunden gehabt. Die Empfehlung des Schweizer Literaturclubs ist gerechtfertigt!

Pedro Lenz
Die schöne Fanny
256 Seiten, gebunden
Kein & Aber
ISBN-10: 3036957677
ISBN-13: 978-3036957678
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Jeffrey Eugenides: Das große Experiment

Jeffrey Eugenides: Das große Experiment

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Jeffrey Eugenides gehört zu den großen amerikanischen Erzählern, die in einem Atemzug mit Jonathan Franzen, Siri Hustvedt und Richard Powers genannt werden.

Mit seinem Roman „Middlesex“ machte er vor Jahren Furore.

Nun also hat er einen Band mit Erzählungen vorgelegt.

Auch hier begibt sich der Autor in die Welt der Menschen mit ihren Kümmernissen, Erfolgen und Niederlagen, es geht um Alter, Sterben und Tod. Sehr schön nimmt Eugenides in seiner ersten Erzählung Bezug auf das Buch von Wallis: „Zwei alte Frauen“, die von ihrem Stamm im Norden Alaskas abgehängt wurden, weil sie zu nichts mehr taugten. Hier sind es Cathy und Della, die Freundinnen sind und sich immer umeinander gekümmert haben. Als Della wegen Demenz ins Altenheim abgeschoben werden soll, packen sie die Sachen und entfliehen dem Heim. In Gedanken spult der Autor das Leben der beiden zurück. So entsteht eine Geschichte, die wie ein eigener kleiner Roman anmutet.

Eine Geschichte nach der anderen enthüllt die Wirklichkeit der Protagonisten, ihre Sorgen, Nöte und Liebesabenteuer. Die Geschichten sind nicht immer heiter. So ist das Leben: geprägt von Höhen und Tiefen und immer wieder von Familienbanden, die uns Menschen umgeben und so manche Missgeschicke neben der Nähe und Fürsorge offenbaren. Wir hören von Rodney und Rebecca: sie näht Stoffmäuse, von deren Verkauf die Familie lebt. Rodney frönt der alten Musik und hat sich mit dem Kauf eines Clavichords so übernommen, dass die Schulden ihm über den Kopf wachsen. Wieder eine andere Protagonistin versucht verzweifelt, durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden. Mit den Männern hat es nicht geklappt, jetzt ist sie schon vierzig und es wird höchste Zeit für eine Schwangerschaft.

So reiht sich eine Erzählung an die andere. Man sollte Pausen machen zwischen dem Lesen, denn so inhaltsreich, persönlich und empathisch ist jede Erzählung für sich, dass man sie erst in sich nachwirken lassen will, bevor man sich an das nächste Kleinod wagt.

Alles in Allem sind die Geschichten tragisch. Sie handeln von vergehender Liebe, von Vergänglichkeit, von Alter und Tod. Sie handeln davon, wie das Leben ist!

Die Feinsinnigkeit, mit der die Figuren gezeichnet sind, machen das Leseerlebnis aus. Atmosphärisch dicht und wahrheitsgetreu wird hier gezeigt, wie wenig vielversprechend Leben sein kann. Die glücklichen Momente sind nicht von Dauer. Und doch gibt es auch Erfolge beim Lebenskampf und gelegentlichen Überlebensstrategien, die man nur bewundern kann.

Jeffrey Eugenides
Das große Experiment
336 Seiten, gebunden
Rowohlt Buchverlag, November 2018
ISBN-10: 349801675X
ISBN-13: 978-3498016753
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Emmanule Carrère: Der Widersacher

Emmanule Carrère: Der Widersacher

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Emmanuel Carrère hat sich eines Genres für seine Geschichte angenommen, die man nicht anders als eine romanhafte Dokumentation beschreiben kann.

Als er in der Zeitung von einem Hochstapler liest, der innerhalb kurzer Zeit seine nahe Familie umgebracht hat, kann er nicht anders, als sich dieses Falls literarisch anzunehmen.

Diese Erklärung setzt er seiner Erzählung voran.

Er hat Kontakt zu dem Ungeheuer und verfolgt dessen Prozess.

Nun aber einmal langsam: minutiös geht er dem Geschehen nach und erkennt, dass hier wirklich ein kranker Mensch gehandelt hat.

Am 19.Januar 1993 erschlug der vermeintliche Arzt und hoch angesehene Wissenschaftler Jean-Claude Romand zuerst seine Frau, kurz darauf seine beiden kleinen Kinder und danach auch noch seine beiden Eltern mit dem geliebten Familienhund. Er zündete sein Haus an und nahm Schlaftabletten. Unglücklicherweise für ihn rettete ihn die Feuerwehr und seine ganze erlogene Existenz flog auf.

Hier setzt Carrère mit seinem Bericht an. Er befragt die Freunde von Romand, seine Nachbarn und erkundet sein Umfeld. Erschrocken nimmt er zur Kenntnis, dass hier die Abgründe der menschlichen Psyche ihren Ausdruck gefunden hat. Unter der Maske bürgerlicher Wohlanständigkeit mit erfolgreichem Lebensweg verbirgt sich ein Mann, der nichts zuwege gebracht hat: weder sein Arztexamen ist echt noch seine Anstellung bei der WHO in Genf mit häufigen Dienstreisen und Vorträgen überall in der Welt.

Grundlage der finanziellen Existenz dieses Lebens waren großzügige Finanztransaktionen, mit denen Romand vorgeblich durch Anlagen in der Schweiz den arglosen Geldgebern riesige Gewinne versprach. Und hier lauerte denn auch der Fallstrick, der ihn buchstäblich zu Fall brachte.

Wie E. Carrere das alles langsam aufdeckt und den Leser an dieser Erkundungsreise teilnehmen lässt ist atemberaubend und lässt den Leser erschauern. Seine Sprache wird der Brutalität der Vorgänge gerecht; sie ist lebendig und lebensnah, doch lässt sie sowohl den Autor als auch den Leser erstaunen, mit welch einer Leichtigkeit sich Verbrechen begehen lassen.

Wie konnte nur niemand darauf kommen, dass dieses ganze Leben eine Fiktion war?

Man liest das Buch mit höchster Spannung, weil es auch eine Studie über die Psyche eines Mannes birgt, der sich und andere in ein vollständiges Missverhältnis zwischen Wahn und Wirklichkeit führt.

Obwohl ich kein wirklicher Krimifan bin, reizt dieses Buch bis zuletzt als gelungene Sozial- und Psychostudie.

Emmanuel Carrere
Der Widersacher
195 Seiten, gebunden
Matthes & Seitz Berlin, August 2018)
ISBN-10: 3957576121
ISBN-13: 978-3957576125
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Michelle Obama: Becoming

Michelle Obama: Becoming

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Die ungewöhnliche Biographie einer First Lady im Weißen Hause in USA

Von 2009 bis 2017 war Barack Obama der erste farbige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Frau Michelle hat seinetwegen ihre eigene erfolgreiche Karriere als Juristin an den Nagel gehängt.

Sie wäre aber nicht die Frau, die sie ist, wenn sich ihr nicht neue Möglichkeiten für gesellschaftliche und politische Veränderungen erschlossen hätten.

Von den Anfängen ihres jungen Lebens an beschreibt sie in ihren Erinnerungen ein Leben, das von liebevoller Geborgenheit, Ermunterung und Zuversicht getragen wurde.

Aus einer hervorragenden Schülerin gelingt ihr der Aufstieg hin zu einer erfolgreichen, emanzipierten Frau und nach einem Studium in Harvard zu einer ebenso erfolgreichen Anwältin.

In der Anwaltskanzlei begegnet ihr Barack Obama. Nach anfänglicher Freundschaft beginnen sie ihre Beziehung, die trotz langer Trennungen in die Ehe mündet. Beide sehen die Charakterstärke, die innere Haltung, die menschliche Wärme und die intellektuelle Verbindung zwischen sich und verbinden sich zu einer Gemeinschaft von anhaltender Gleichgesinntheit.

Michelle Obama schreibt einen flüssigen Stil, zuweilen sehr weit ausholend, doch vermag sie sehr hautnah zu beschreiben, wie ein Leben in der Öffentlichkeit dieses Amtes aussieht.

Man hat ja keine Vorstellung davon, wie einschränkend und beengend die Sicherheitsvorkehrungen in einem solchen Amt jedes Privatleben fast unmöglich machen. Dennoch bekommt man mit, wie sie sich kleine Freiheiten erobern und gelegentlich den Sicherheitsbeamten auch ein Schnippchen schlagen können. Es sind nur Augenblicke. Letztlich geht das Amt immer vor, und Michelle hat sich in ihr Schicksal als öffentliche Person gefügt. Sie macht das Beste daraus und initiiert vielerlei öffentliche Aufgaben, denen sie sich mit ganzer Energie widmet.

Es ist gut vorstellbar, wie erleichtert man nach acht Jahren im Weißen Haus das Amt aufgibt, um endlich wieder frei zu sein und zu leben.

Michelles Bilanz der Jahre im Weißen Haus bietet tiefe Einblicke in das Leben immer auf dem Präsentierteller, auf die Schwere der Verantwortung für Krieg und Frieden in aller Welt, und auf die Möglichkeiten und Grenzen für Gestaltungen zur Veränderung im eigenen Land. Für die Arbeit an der Spitze eines so großen, demokratisch geprägten Landes bedarf es besonderer Persönlichkeiten.

In Michelles Mann Barack Obama hatte das Land eine starke, moralisch und ethisch außerordentliche Persönlichkeit, an dessen Würde und Anstand kein Zweifel aufkam.

Michelle Obama hat ein umfassendes Zeitdokument zu einer ungewöhnlichen Präsidentschaft hinterlassen. Es geht nicht um einen hohen literarischen Anspruch sondern um sachlich und fachlich kompetente Aussagen. Wer sich eine Bild darüber machen möchte, findet in ihrem Buch reichlich Anschauungsmaterial.

Michelle Obama
Becoming
544 Seiten, gebunden
Goldmann Verlag, November 2018
ISBN-10: 3442314879
ISBN-13: 978-3442314874
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Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte

Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte

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Mit einer Widmung an seine Geliebte Stella beginnt Ford Madox Ford seinen Roman, ursprünglich „The Good Soldier“ betitelt, über zwei Ehepaare zu Beginn des Ersten Weltkriegs.

Die Geschichte ist sehr geheimnisvoll, steckt voller ahnungsvoller Gedanken über ein Geschehen, dass wir zu Beginn noch nicht erkennen. Edward Ashburnham, seine Frau Leonora, der Erzähler John Dowell und dessen Frau Florence verbringen jeden Sommer Tage der Kur in Bad Nauheim. Man ist sich in allem einig und es herrscht eitel Harmonie. Doch war das wirklich so?

Ein wenig mühsam muss man sich durch die einzelnen Episoden hindurchquälen, bis man einen roten Faden erkennt.

Langsam gewinnt man Einblick in das Leben und Treiben der vier Personen.

Florence und Dowell stammen aus Amerika, die anderen sind Engländer. Florence ist sehr krank, das darf man schon bald erfahren. So denkt man zunächst an eine gesellige Zeit der Kur für alle Beteiligten.

Die Geschichte entwickelt sich jedoch zu einer unendlichen Liebesgeschichte. Sie betrifft vor allem Edward Ashburnham, der seine Finger von keiner neuen Begegnung mit einer Frau lassen kann. Ob es sich um Florence oder andere weibliche Bekannte aus seinem Umkreis handelt: er scheut keine Mühen und kein Geld, um sich mit Damen aller Couleur zu verlustieren. Leonora ist die Leidtragende, die seine vielfachen Liebschaften erträgt und seine Finanzen in die Hand nimmt, um den totalen Ruin zu verhindern. Der 4. August ist ein magisches Datum, an dem sich immer wieder Entscheidendes ereignet. Der 4. August 1913 ist der letzte Abend in Bad Nauheim, bevor eine Katastrophe dem hässlichen Spiel zunächst ein Ende macht.

Es soll nicht zu viel des Inhalts verraten werden, denn genau genommen geht es um den Stil und die atmosphärische Widergabe einer längst vergangenen Welt. Es geht um die s.Zt. herrschende Moral und den gesellschaftlichen Umgang in bestimmten Kreisen. Verwirrend ist die Vielzahl an Männern und Frauen, die sich lieben, hassen, betrügen und verlassen. Immer im Zentrum sind die oben genannten Ehepaare. Die bizarren Verbindungen zeigen uns das verblasste Gesellschaftsbild der zwanziger Jahre in England, Frankreich und Deutschland.

Man liest das Buch in Muße und Geduld, um sich noch einmal auf die ferne Zeit   einzulassen. Literarisch vollkommen und doch breit angelegt werden wir mit einem Autor bekannt gemacht, der nur diesen einen Roman geschrieben haben soll. Er erschien 1915. Ford Madox Ford  (1873 -1939) war bekannt und befreundet mit zahlreichen Schriftstellern seiner Zeit: Hemingway, Henry James, Galsworthy  und Joseph Conrad, mit dem ihn „eine tiefe Freundschaft verband“( Wikipedia).

Julian Barnes gibt im Anhang einen Einblick in das Leben des Autors.

Der Roman ist lesenswert für Menschen mit literarisch hohen Ansprüchen.

Die Aufmachung des kleinen Werks ist edel gestaltet und bietet den Hinweis auf eine wertvolle Lektüre.

Ford Madox Ford
Die allertraurigste Geschichte
320 Seiten, gebunden
Diogenes; Auflage: New edition, November 2018
ISBN-10: 3257070381
ISBN-13: 978-3257070385
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Elizabeth Strout: Alles ist möglich

Elizabeth Strout: Alles ist möglich

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Wie immer nimmt sich Elizabeth Strout des Lebens der kleinen Leute an. Sie leben im Mittelwesten in Illinios oder Iowa. Man betreibt Mais- und Sojaanbau oder Milchwirtschaft, womit der Lebensunterhalt je nach Erntelage gesichert scheint. Tommys Hof ist abgebrannt, so dass er sich als Hausmeister einer Schule verdingt. Da bekommt man einiges mit, was in den Familien passiert.

Es gibt die Eheleute mit einem langen gemeinsamen Leben, in dem sich dennoch ihr Glück nicht erfüllt; man findet verkorkste junge und ältere Leute, liebestolle Partner und impotente Ehemänner. Auch der nicht erfüllte Kinderwunsch findet sich unter den Ehefrauen. Eine jede Person hat ein ihr eigenes Schicksal. Es gibt Kinder, die den elterlichen Schlägen ausgesetzt waren, und aus denen nichts geworden ist. Aber auch eine erfolgreiche Schriftstellerin findet sich unter den beschriebenen Menschen, die E. Strout mit ihrem unnachahmlichen Erzähltalent der Realität der kleinen Provinzstädte nachempfunden hat.

Sie fängt ein Klima der Kleinbürgerlichkeit und der Engherzigkeit, der Intimität und der Absurdität ein, wie es ihresgleichen sucht. Ihre Erzählweise ist so lebendig und berückend, dabei keineswegs herablassend, dass man unwillkürlich in das Leben der von ihr beschriebenen Menschen reinschaut und zum Teilnehmer der vielen unterschiedlichen Lebensentwicklungen wird. Verbindungen der einzelnen Schicksale ergeben sich aus Nachbarschaft, Familienkonstellationen, Mitschülern und Ähnlichem. Man kann kaum glauben, wie beredt Elizabeth Strout sich in die Menschen einfühlt, denen sie Gesichter und Farben gibt. Und dann finden sich einfache Sätze wie „Sie berührte nur kurz seinen Arm. Da saßen sie, in der Sonne“, mit dem ein Kapitel schließt. (S.64) Besser kann man kaum ausdrücken, wie sich ein Ehepaar auch ohne große Worte versteht.

Liebesglück und Alterseinsamkeit, Eifersucht und Armut, Anhänglichkeit und nachbarschaftlicher Tratsch füllen ihren Roman, und wir erleben, wie die Welt wirklich ist.

Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, Gelassenheit und „sich abfinden“ sind die wahren Grundlagen für ein glückliches Leben. Aber wer findet zu dieser Weisheit? Es sind nur wenige, doch auch sie haben ihren Platz in der Erzählung.

Sich in diesem Kosmos zu bewegen und den Figuren zu folgen schafft dem Leser Glück und Anregung, sich über das Leben in seinen verschiedenen Schattierungen eigene Gedanken zu machen und zu den eigenen Erfahrungen neue Erkenntnisse hinzuzufügen. Am Ende heißt es in einem melancholischen Abgesang „Alles war möglich, für jeden“.

Ein rundum gelungener Roman liegt mit dieser Neuerscheinung vor.

Elizabeth Strout lebt in New York und Maine. Sie wurde für ihre Romane vielfach ausgezeichnet.

Elizabeth Strout
Alles ist möglich
256 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, November 2018
ISBN-10: 3630875289
ISBN-13: 978-3630875286
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John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie

John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie

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Dieser Roman erzählt in fachlich kompetenter Weise von einer Ehetherapie.

Das Paar Stev und Charlotte haben sich getrennt und wollen einen letzten Versuch wagen, ihre Ehe zu retten. Sie ist Universitätsdozentin und er Teilhaber an einer großen Kapitalinvestmentfirma. Sie haben zwei kleine Kinder und wohnen bereits in getrennten Wohnungen.

Sandy, die Eheberaterin, führt gekonnt in die Gesprächstechnik ein, mit der sie sich den Menschen in ihren besonderen Konfliktsituationen nähert.

Feinfühlig sind ihre Fragen und Aufforderungen, mit denen sie die Partner animiert, sich zu dieser oder jener Situation zu äußern.

Sie registriert in Zwischengedanken ihre Eindrücke, die sich ihr aus den Worten der Klienten erschließen.

Worum geht es?

Wie in so vielen Ehen haben Steven und Charlotte aufgehört, miteinander zu reden.
Jeder ist seiner Wege gegangen bis hin zu neuen Partnerbeziehungen. Das allerdings haben sie beide so nicht ausgemacht! Diese Beziehungen werden folglich als Seitensprünge bezeichnet.

So wie sich die Beziehung der beiden entwickelt, sieht es nicht danach aus, dass sie wieder zusammenkommen könnten. Charlotte ist aufmüpfig und wütend über Stevs Seitensprünge, während Stev nach heftigem Zerwürfnis immer neue Versuche startet, um Charlotte zurückzugewinnen, die ebenfalls inzwischen außereheliche Beziehungen eingegangen ist. Er ist eifersüchtig, spioniert ihr nach und macht ihr Zusammensein fast unmöglich.
Da beide zusammen eine Ehetherapie beginnen, scheinen sie die Hoffnung zu hegen, vielleicht noch etwas retten zu können.

Man merkt, dass der Autor Jay Osborn genaue Kenntnis vom unterschwelligen Miteinander ratsuchender Kontrahenten hat.

Die Gespräche mit der Therapeutin werden als Versuch dargestellt, erst einmal Ordnung in die Gefühlswelt der Ratsuchenden zu bringen d.h., sich selbst bewusst zu machen, wo sie überhaupt stehen, und was sie wollen. Es ist ein mühsames Unterfangen!

Es gibt Szenen von wütendem Aufbegehren und Missverstehen und langsam wachsender Einsicht, wie sehr einer den anderen verletzt hat.

Menschen wissen oft nicht, wie sie über ihre Gefühle sprechen sollen und geraten gerade dadurch in so genannte „Kommunikations Sackgassen“. Erst, wer seine eigenen Gefühle kennt und direkt darüber sprechen kann, wird im Leben Frieden finden und sich nicht im Netz von Missverstehen, falschen Verdächtigungen und Kränkungen verfangen.

Die Therapeutin Sandy sucht immer neue Wege, um die Klienten zu Selbsteinsichten zu führen. Diese könnten eine Änderung im Verhalten erst möglich machen.

Man wird als Leser quasi zum voyeuristischen Zuschauer beim Aufblättern zweier unterschiedlicher Charaktere und deren Ausdrucksformen. Der Roman wird zu einer Lehre in Sachen „Eheberatung“.
Dieses Fazit lässt sich aus den hervorragenden Beschreibungen von John Jay Osborn ziehen. Der Roman ist nicht nur von literarischem Wert sondern bietet auch lehrreiche Einblicke in therapeutische Abläufe.

John Jay Osborn ist Juraprofessor, Anwalt und lebt in Palo Alto.

John Jay Osborn
Liebe ist die beste Therapie
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Diogenes, Oktober 2018)
ISBN-10: 3257070438
ISBN-13: 978-3257070439
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