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Autor: Claudine Borries

Anna Enquist: Die Seilspringerin

Anna Enquist: Die Seilspringerin

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Eine Frau um die 40 Jahre steht am Scheideweg: sie ist eine erfolgreiche Komponistin und sehnt sich zugleich nach einem Kind! Doch stete Selbstzweifel und vermeintliche Empfängnisunfähigkeit behindern die Erfüllung dieses Wunsches.

Anna Enquist entwirft das Bild eines Lebens, das düster und lebensunfroh wirkt.

Alice, der Protagonistin der Geschichte, war der Erfolg als Künstlerin nicht in die Wiege gelegt worden. Ihre Eltern waren bildungsfern und bürgerlich angepasst. Eine gute Erziehung, anständige Manieren und ein anerkannter Beruf gehörten zu ihren Lebenszielen. Diesen Ansprüchen will Alice nicht entsprechen! Schon früh zieht es sie zur Musik!

Mit Energie und Ausdauer hat sie es aufs Konservatorium geschafft. Freundliche Lehrer und Dozenten haben sie gefördert. Die eine oder andere Liebesbeziehung verlief nicht glücklich, und Alice sieht in sich immer noch das ungeliebte Kind. Einmal mehr kann man in diesem Roman erfahren, wie sehr die Herkunft das Leben eines Menschen zu beeinflussen vermag.

Eine psychologische Binsenweisheit besteht in der Tatsache, dass Menschen sich in den Augen des Gegenübers spiegeln. Wer als Kind erfährt, dass man dem Idealbild der Eltern nicht entspricht und dadurch ständige Entwertung erfährt, bleibt lebenslang im Zweifel über den Selbstwert.
Das ist keine gute Voraussetzung für ein glückliches Leben.

Alices Ehemann, ein Finanzjurist, bietet ihr äußere Sicherheit. Er wirkt froh, zufrieden und unbeschwert. Für ihre Arbeit interessiert er sich nur nebenbei. Zunehmend wird die Beziehung zu seiner Frau von deren drängendem Kinderwunsch beeinträchtigt.

Alice begibt sich auf eine Gedankenreise in die Vergangenheit. Sie sucht im Vergleich mit bekannten Komponisten Trost für ihr eigenes Los. Haydn hat es ihr dabei besonders angetan. Die Erfolge in der so genannten E -Musik, die sie unzweifelhaft hat, verblassen angesichts ihrer Selbstentwertung, wenn sie bedenkt, dass sie ihr Geld unter einem Pseudonym mit oberflächlichen Werbemelodien verdient. Schließlich begibt sie sich in Therapie.

Bis zuletzt bleibt Alice trotz ihrer wachsenden Erfolge eine von Selbstzweifeln geplagte Frau. Ihr Wunsch nach einem Kind und ihr zunehmender Ruhm als Komponistin zeigen, dass sie von wechselnden Gefühlsausbrüchen gepeinigt wird. Die Autorin überrascht uns mit einem rätselhaften Ende.

Anna Enquist hatte selber eine musikalische Ausbildung und arbeitete nach ihrem Studium der klinischen Psychologie als Psychoanalytikerin.

Das Können und ihr Wissen über musikalische Prozesse, Kompositionslehre und Entstehungsprozesse von Kompositionen aller Art ist beachtlich. Dazu kommt das Wissen der Autorin über seelische Tiefen und Abgründe, das in ihren Figuren ihren Ausdruck findet.

Der Roman ist tiefschürfend, gibt Anregung zum Nachdenken und ist mit den verschiedenen Erzählsträngen zwischen Kinderwunsch, fortschreitendem Alter und Frau unter mehrheitlich männlichen Kollegen ausgesprochen vielschichtig.

Anna Enquist
Die Seilspringerin
Luchterhand Literaturverlag, März 2024
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630877222
ISBN-13: 978-3630877228
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Dani Shapiro: Leuchtfeuer

Dani Shapiro: Leuchtfeuer

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Der vorliegende Roman von Dani Shapiro behandelt eine Familiengeschichte mit berührenden Facetten. Die Erzählung wird nicht chronologisch erzählt, sondern sie verläuft in Zeitsprüngen zwischen 1970, 1985 und 2014 bis 2020.

Die Familie lebt in Avalon im Staat New York.
Beginnend mit einem tragischen Autounfall werden wir den Lebenslinien aller betroffenen Personen folgen.

Sarah ist 17 und Theo 15, als der Autounfall vor ihrem Elternhaus ihr Leben total verändert. Wir erfahren sogleich, was sich zugetragen hat, und wer sich schuldig gemacht hat. In einem stillen Übereinkommen wird über den Vorfall eisern geschwiegen.

Wir sehen Jahre später, wie Sarah sich zu einer erfolgreichen Drehbuchvermittlerin-und Produzentin entwickelt hat.
Sie hat Zwillinge und einen Mann Peter, der nicht gar so erfolgreich ist. Von New York ist ihre kleine Familie nach Los Angeles gezogen, wo sie im Kreise mehr oder weniger erfolgreicher Filmleute ihrem Alltag nachgehen.
Es geht ihnen wirtschaftlich gut. Leise deutet sich an, dass Sarah an einem geheimen Kummer leidet, der sie innerlich peinigt und unüberlegte Handlungen auslöst.

Theo ist am Ende seiner Jugend für viele Jahre verschwunden.
Ben und Mimi Wilf, die Eltern, altern über die Jahre. Auch an ihnen zehrt ein Kummer.

Das alltägliche Leben wird mit allen Schattierungen in den Fokus gerückt.
Jede Figur kommt in einem eigenen Kapitel zur Geltung.
Mimi, die fröhliche und glückliche Frau und Mutter, wird am Ende dement sein.

Wenn ein Kapitel endet, gerät für den Augenblick auch die Figur aus den Blick.

Es gibt neben den Wilfs noch eine Familie in der Nachbarschaft, die Shenkmans. Ben hat als Arzt dem kleinen Sohn ins Leben verholfen, als die Notfallhilfe zu spät kam. Der inzwischen zehnjährige Waldo hat eine tiefe Neigung zur Astronomie. Er ist hingerissen von fremden Himmelskörpern und verbringt viel Zeit damit, das Universum zu erforschen. Sein Vater ist streng und versucht, dem Sohn diese Leidenschaft auszutreiben. Später werden Waldo und Ben dem Rahmen der Handlung einen nachdenklichen Schlusspunkt verleihen.

Die Familien sind ihren Ritualen nach jüdische Familien.
Die eigenen Charaktere aller Protagonisten gewinnen durch die Schilderungen von Dani Shapiro Konturen.
Wie sie ihre Geschichte angeht, zeugt von überragender Fähigkeit, Geheimnisse als solche zu belassen. Sie baut Spannung auf, die den Leser fasziniert und irritiert zugleich.

Kleine Begegnungen, Gespräche und Handlungen leuchten kurz auf, um dem großen Ganzen wieder Raum zu geben. Die Nebengeschichten sind wichtig, weil sie den Blick öffnen, um die Lebensschicksale zu beleuchten und zu verstehen. Warum über das Geheimnis, das alle plagt, nicht gesprochen wird, und zu welchen Konsequenzen unausgesprochene Ereignisse mit belastendem Charakter führen können, das führt Dani Shapiro mit klugen Einlassungen aus.

Diese Familiengeschichte umfasst viele Jahre. Vom Beginn des Lebensglücks bis zu ihrem Fortgang und Ende sehen wir, was mit dem Vergehen der Zeit aus allen geworden ist.
Es ist ein faszinierendes Familienporträt.

Dani Shapiro
Leuchtfeuer
hanserblau, Februar 2024
288 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446279350
ISBN-13: 978-3446279353
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Elizabeth Strout: Am Meer

Elizabeth Strout: Am Meer

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Lucy Barton ist die Heldin dieses Romans. Wir kennen sie schon aus früheren Werken, so wie E. Strout ihre Protagonisten in ihren Romanen häufig wiedererstehen lässt.

Aufhänger für die Erzählung ist die sehr dramatische Geschichte der Pandemie, die uns vor einigen Jahren heimsuchte, und durch die so viele Menschenleben ausgelöscht, jedenfalls aber aus der Bahn geworfen wurden.
Um dieses Geschehen entwickelt E. Strout ihre Geschichte von Liebe und Vergehen.

Lucy, die erfolgreiche Schriftstellerin, ahnt nichts, als ihr Exmann William sie auffordert, schnell und unvorbereitet mit ihm einige Zeit nach Maine ans Meer zu fahren. Ihr Mann David ist kürzlich verstorben, und William ist gerade von seiner dritten Frau verlassen worden. Er ist emiritierter Professor.

Sehr bald wird auch Lucy klar, wie ernst die Lage für uns Menschen überall auf der Welt geworden ist. Die Behörden in New York werden kaum fertig mit den zahlreichen Kranken und Toten.
Wie aber werden zwei ehemals sich sehr nahestehende Menschen auf engem Raum diese Lage bewältigen?
Lucy trauert um ihren zweiten Ehemann, an den sie so herzliche und gute Erinnerungen hat. William aber war ihr immer ein Freund geblieben.

Wie Elizabeth Strout die Gefühle und den Umgang der beiden miteinander beobachtet und nachfühlt, macht ihr so schnell keiner nach! Die zwei erwachsenen Töchter, um die Lucy sich sorgt, spielen keine geringe Rolle im Leben der zwei.

Neue Begegnungen, Erinnerungen an Vergangenes, ihre Töchter und deren Lebenswege, Veränderungen vielfältiger Art: das alles nimmt Elizabeth Strout zum Anlass, uns davon zu erzählen. So entsteht ein Kleinmosaik der Welt, in der die großen und gravierenden Ereignisse ebenso ihren Platz haben, wie die Schicksale im Kleinen. Die Autorin nutzt wie immer ihre Fähigkeiten, uns so nah wie möglich am äußeren und inneren Leben ihrer Protagonisten teilnehmen zu lassen. Lucy ist in ihren Schilderungen eine warmherzige und mitfühlende Seele. Sie kann trösten, und sie ist interessiert am Geschehen um sie herum. Sie pflegt Freundschaften und gesteht sich zugleich ihre eigenen Schwächen ein.
Der Leser fühlt sich unmittelbar mit einbezogen in ihr Leben.

Es geht um Verluste, um Ängste, um Glück und verlorenes Glück, um Beziehungen der Menschen untereinander, um Irrtümer und Erfahrungen, die Vielfalt des Lebens und „Welches Glück, dass wir nicht wissen, was uns im Leben erwartet.“ (Klappentext)
„Es ist unsere Pflicht, die Bürde des Unerklärlichen mit so viel Anstand zu tragen, wie wir können.“(S. 159)
Sätze wie diese bilden in zahlreichen Passagen die Essenz der Lebenserfahrungen.

Der Leser erfährt Dinge, die ihn anregen, an eigene Erinnerungen anzuknüpfen. Der Roman ist im besten Sinne Unterhaltungsliteratur mit feinem Gespür für die seelischen Verwerfungen, denen wir Menschen anheimfallen können. Liebe, Trennungen, unerwartete Ereignisse, die aus der Bahn werfen, Glück und Freude: das alles finden wir hier wieder.

Elizabeth Strout
Am Meer
Luchterhand Literaturverlag, Februar 2024
288 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630877486
ISBN-13: 978-3630877488
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Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

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Daniel Schreiber ist ein sensibler, feinfühliger Autor. Das hat er in allen seinen Büchern bewiesen.

Hier schreibt er über die Zeit der Verluste, die unser Leben begleiten.
Ob Menschen, Orte oder Dinge, die wir lieben: alles ist vergänglich! Wir müssen uns mit dem Schmerz der Verluste auseinandersetzen und sie bewältigen.

Schreiber ist in Venedig, einer Stadt, die ihm mit ihren Geräuschen, den Plätzen und der Kunst zutiefst berührt. Er ist hingerissen von seinen Kunstbetrachtungen, von menschlichen Begegnungen und den Gesprächen, die er dort bei Gelegenheit führt.

Rückblickend erinnert er sich an Heidelberg, wo er einen Anruf seiner Mutter erhielt. Er weiß, dass ihn eine sehr schmerzliche Nachricht erwartete: der Tod seines Vaters! Da er jedoch eine Bühne für eine Lesung betrat, rief er die Mutter erst am Morgen zurück. Es kommt ihm so vor, als sei er vor der Nachricht geflohen. Nun ist das Erwartete eingetreten.

Daniel Schreiber ist ein sehr gefühlvoller Mensch, der innige Beziehungen pflegt zu Menschen, die ihm nahestehen. Dazu gehörte sein Vater.
Wie er seinem Schmerz Ausdruck verleiht, das ist anrührend.

Hier in Venedig, gibt er sich seinen Erinnerungen an den Vater, die Mutter und den Beziehungen zu ihnen hin. Den Alterungsprozess seines Vaters hat er genau reflektiert und mit Erschrecken die Monate des Wiedersehens beschrieben, wenn er nach längerer Abwesenheit nach Hause kam. Er ist ganz elegisch bei den Erinnerungen, die auch zahlreiche andere Verluste seines Lebens einschließen. Hinzu kommen der Klimawandel, die Pandemie und der Ukrainekrieg, die eine vermeintlich stabile Welt ins Wanken gebracht haben. In Gesprächen mit einer Freundin haben sie sehr krass diese so genannten „Zeitenwende“ realisiert.

Das Büchlein regt auch den Leser an, sich der eigenen Vergänglichkeit und der erlittenen Verluste zuzuwenden. Zuweilen vergehen Geschehnisse einfach; man verliert Freunde, weil sich die Lebenswege trennen. Eltern und Geschwister treten ein wenig in den Hintergrund. Was bleibt, sind Erinnerungen und die Spuren, die eine jede Zeit hinterlässt.

Insgesamt ist das Erzählte von Trauer durchzogen. Insofern ist die Erzählung besonders geeignet für Leser, die ähnlich traurige Erlebnisse zu verschmerzen haben.

In einem ausführlichen Anhang wird auf Literatur verwiesen, die Schreiber herangezogen hat, um seine Ideen und Vorstellungen über Trauer und Verlust zu belegen.

Daniel Schreiber
Die Zeit der Verluste
Hanser Berlin, 3. Auflage, November 2023
144 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446278001
ISBN-13: 978-3446278004
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Bernhard Schlink: Das späte Leben

Bernhard Schlink: Das späte Leben

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Ein Mann von 76 Jahren erfährt, dass er nur noch kurze Zeit zu leben haben wird. Er hat einen kleinen Sohn von sechs Jahren und eine vierzig Jahre jüngere Frau. Wie richtet man sich damit ein?

Bernhard Schlink, der Autor dieses kurzen Romans, ist ein Meister der Reflexion. Zügig und ohne überflüssige Worte beschreibt er das vergangene Leben seines Protagonisten; wie es zur Ehe mit dieser jungen Frau kam, und sich auch noch das Söhnchen unerwartet eingestellt hat.

Man kann sich vorstellen, was es bedeuten mag, unerwartet mit dem baldigen Tod konfrontiert zu werden. Fragen und Ängste tun sich auf, wie das restliche Leben und das Ende sein wird.

Schlink versteht es, die Situation nachfühlend zu beschreiben. Er lässt einen jeden nach seiner Art zu Wort kommen. Gefühle werden angedeutet. Schlink bemüht sich in seiner Geschichte um größtmögliche Nüchternheit.
Doch kann man so ein Geschehen wirklich in seiner ganzen Dimension begreifen?

Ulla, die Frau, zeigt Gefühle, die ihr Mann gelegentlich bei ihr vermisst hat. Und David, das Söhnchen, fragt nach Gott und dem Himmel.
Der Alltag geht weiter. Zuweilen glaubt Martin, die Diagnose stimmt gar nicht.
Er ist Professor im Ruhestand und nimmt noch zahlreiche Aufgaben wahr.
Schlink vermittelt das Bild einer ruhigen und zufriedenen Familie. Das drohende Ereignis schwebt unablässig über ihr.

Doch dann kommt als weiteres Erschwernis die Entdeckung der Untreue von Martins Frau hinzu.
Wie der Protagonist damit umgeht, das wird im zweiten Teil des Romans kunstvoll wiedergegeben.
Es stellt sich die Frage: kann man im Leben alles richtigmachen?
Der Versuch, sich in Briefen und Ereignissen unsterblich zu machen, mag ein jeder fühlen und sich danach verhalten.
Offen und klar beschreibt Schlink, wie sich die Krisen in der Ehe darstellen, welche Versuche Martin startet, um dem geliebten Söhnchen in Erinnerung zu bleiben.
Zahlreiche Selbstzweifel kommen auf und alles unterliegt der kritischen Reflexion des Hauptdarstellers.

Schlink hat ein feines Gespür für seelische Nöte und Krisen in verschiedenen Lebensaltern. Und er kann sie wunderbar in gelebtes Leben umsetzen.

Vielleicht ist die Güte zu groß, die im Verhalten von Martin sichtbar wird. Krisenhafte Entwicklungen in der beschriebenen Form sind jedoch sehr gut nachvollziehbar.

Der Leser folgt gebannt den Ausführungen, denn sie erscheinen wie eine echte Biographie.
Sicher greifen Autoren in ihren Werken auf eigene Lebenserfahrungen zurück. Das macht ihre Werke so anrührend und glaubhaft.
Ein besinnliches, nachdenkliches Werk ist Bernhard Schlink gelungen. Man liest es mit großem Gewinn!

Bernhard Schlink
Das späte Leben
Diogenes, Dezember 2023)
240 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072716
ISBN-13: 978-3257072716
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Florian Illies: Zauber der Stille

Florian Illies: Zauber der Stille

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Florian Illies hat sich in seinem neuen Buch mit dem Maler Caspar David Friedrich (1774–1840) beschäftigt. Dieser Maler lebte und malte zur Zeit der Romantik, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Schwange war.

Illies hat sich schon in seinen früheren Büchern als wunderbarer Erzähler erwiesen, der vergangene Zeiten zum Leben erwecken kann.
Eingebettet in die vier großen Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft hat er das Werk Caspar David Friedrichs beleuchtet.

Im Eingangsteil widmet er sich dem „Feuer“ und beschreibt uns, wie die Werke des Malers immer wieder vom Feuer bedroht wurden, und wie es zur Vernichtung bemerkenswerter Bilder kam.

Das Privatleben des Malers wird durch Illies großartige Erzählkunst sehr anschaulich.
Er muss ein verschrobener Kauz gewesen sein. Äußerlich war er unscheinbar und mental eher der Melancholie verfallen. So liebte er sein dunkles Maleratelier in Dresden, in dem er mit Vorliebe die Abend -oder Morgendämmerung zum Sujet seiner Malerei nahm. Das Wasser, an dem er sich zumeist aufhielt, und die Berge, die er nur von Abbildungen her kannte, waren seine liebsten Malvorlagen. Figuren konnte er nicht zeichnen, so dass man diese immer nur von hinten sieht. Wir kennen die fast seelenlosen Bilder, in denen der Mond vorherrscht und alles Leben zu ruhen scheint.

Lange lebte er alleine und heiratet schließlich mit 44 Jahren. Mit seiner viel jüngeren Frau bekommt er in kurzen Abständen drei Kinder. Das Geld reichte hinten und vorne nicht. Ihn störte die Unruhe, die im Hause herrschte. Man merkt bald, dass er wirklich ein eigenbrötlerischer Kauz war.

Es gab über alle Zeiten hinweg Menschen, die sich für den Künstler CDF interessierten. Darunter waren bekannte und weniger bekannte Berühmtheiten. Goethe und Rilke, Kleist und preußische Könige und Prinzen, Kunsthistoriker und Künstler; es wäre müßig, sie alle hier aufzuzählen. Seine Bekanntheit reichte weit über seinen Tod hinaus und gilt bis heute.

Während der großen Kriege überdauerten die erhaltenen Bilder in diversen Verstecken.
Nicht zuletzt suchte Hitler ihn für sich und sein Weltbild zu vereinnahmen.

Als Künstler der Romantik ist CDF in die Geschichte eingegangen und hat dort seinen Stellenwert. Seine Bilder hängen heute in Museen in aller Welt und sind hochgeschätzt.

Florian Illies gelingt ein Lebensbild von starker Ausprägung. Man staunt, wie er den Werken auf die Spur kommt, auch jenen, die schon längst durch Feuer, Wasser oder andere Malaisen vernichtet wurden. Er ist ein ausgezeichneter Rechercheur. Akribisch hat er den Lebensweg nachgezeichnet und ist dem Verbleib der Werke gefolgt. Er muss Archive durchforstet und die Lebensorte des Künstlers aufgesucht haben, so dass ihm zuletzt wie in allen seinen Büchern ein rundum gelungenes Porträt des Malers gelungen ist.

Für die Lektüre sind Geschichtskenntnisse eine gute Voraussetzung!

Florian Illies
Zauber der Stille
S. FISCHER; 2. Auflage,Oktober 2023
256 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3103972520
ISBN-13: 978-3103972528
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Giovanni di Lorenzo: Vom Leben und anderen Zumutungen

Giovanni di Lorenzo: Vom Leben und anderen Zumutungen

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In seiner unnachahmlichen Art und Weise hat der Journalist und Autor zahlreicher Bücher Giovanni di Lorenzo Gespräche mit Menschen geführt, die eine herausragende Position in Politik und Gesellschaft innehaben.

In einem kurzen Vorwort beschreibt er, wie schwierig es ist, freimütig Dinge der Öffentlichkeit preiszugeben, wenn man nicht weiß, ob das Gesagte zu endlosen weiterführenden Kommentaren führen könnte. Er führt einige Beispiele dafür an.

So kam er zu den unterschiedlichsten Gesprächspartnern, die sich freimütig seiner Gesprächsführung öffneten.

Er fügt gerührt die Bemerkung der 8 jährigen Tochter eines Kollegen an, mit der er während des Lockdowns über Fragen des Selbstwertgefühls und Zukunftsperspektiven spricht. Sie prägt den hervorragenden Satz:“ Ich habe mich als Vorbild, ich gehe einfach ins Leben rein“.

In den Interviews tauchen Namen wie D. Cohn-Bendit, R. Habeck und Recep Erdogan auf und der Schlagersänger U. Jürgens; auch den Bergsteiger R. Messner, Angela Merkel und selbst der Papst ließen sich bitten.
Die Gespräche stammen aus Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre aus der Zeitschrift „Die Zeit“.

Di Lorenzo hat eine sanfte Herangehensweise, wenn auch seine Fragen sehr genau, insistierend und gut überlegt sind. Fast denkt man an Gesprächstherapeuten, wenn er wie diese durch Nachfragen und Wiederholungen des Gesagten zum Kern einer Aussage gelangen will.

Di Lorenzo zeigt, dass er sich für jedes Gespräch gut vorbereitet hat. Das muss er auch, denn in den Interwies geht er sehr nah an die Persönlichkeiten und ihre Meinungen heran.

In einem kleinen Vorspann zu jedem Interview erklärt er, welche Aufgaben die einzelnen in der Gesellschaft wahrnehmen. Einem Schlagersänger stellt er selbstverständlich andere Fragen als einem Politiker wie Recep Erdogan.
Man bekommt auf diese Weise einen genauen Eindruck von den befragten Personen.

Sehr sympathisch erscheint Robert Habeck, der in dem Gespräch leidenschaftlich über seine politischen Visionen und Einschätzungen in persönlichen Lebensfragen spricht.

Äußerst dramatisch ist die Begegnung mit Recep Erdogan, der mit seinen aggressiven und wütenden Ausfällen gegen Andersdenkende geradezu Angst verbreitet. Lorenzo ist froh, als er mit seinem Kameramann den sicheren Flughafen erreicht hat und abreisen kann.

Dass Lorenzo Menschen mit so persönlichen und verschiedenartigen Anlagen und Lebenseinstellungen befragen kann, ist sein Verdienst. Er nimmt sich selber ganz zurück und ist voll auf sein Gegenüber eingestellt. Auch bemerkt man eine psychologische Fähigkeit, sehr bald schon auf entscheidende Kernfragen vorzustoßen. Er bewahrt Diskretion und verliert nicht den Abstand zum Gegenüber.

Alles in Allem sind seine Porträts eindrucksvoll und bieten wertvolle Einblicke in das Leben von Menschen, die man aus dem öffentlichen Leben kennt. Zugleich bieten sie einen kleinen Einblick in die gegenwärtige Zeitgeschichte.

Giovanni di Lorenzo
Vom Leben und anderen Zumutungen
Kiepenheuer&Witsch, 2. Auflage November 2023
352 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3462006185
ISBN-13: 978-3462006186
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Paul Auster: Baumgartner

Paul Auster: Baumgartner

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Paul Auster beschäftigt sich in seinem vorliegenden Roman mit Abschied und Tod.

Zu Beginn sitzt sein Protagonist Seymour Baumgartner am Schreibtisch und arbeitet. Er will eben noch seine Schwester anrufen, und schnell befindet man sich mitten im Leben des 72 Jährigen.
Er ist emeritierter Professor der Phänomenologie und lebt seit vielen Jahren alleine. Seine Frau Anna kam vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben.
In seinen Gedanken ist sie immer noch mit ihm bei allem täglichen Geschehen und in den Nächten, wenn er wach liegt und nachdenkt, wie alles gekommen ist.

In unvergleichlicher Weise werden wir Zeuge, wie das Leben sich verändert hat. In den Erinnerungen und in Aufzeichnungen von Anna, die er gefunden hat, wird über das Kennenlernen und das Leben zu zweit berichtet. Die sechziger Jahre werden lebendig mit ihrem Aufbruch in Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Der Vietnamkrieg mit allen Folgen für Familien und Freunde wird gegenwärtig.

Anna war eine Rebellin. Sie hat das reiche Elternhaus hinter sich gelassen und arbeitet in New York in einem kleinen Verlag. Anlässlich eines ungewöhnlichen Ereignisses auf ihrem Heimweg in der Nacht sucht sie bei ihrem Freund und Geliebten Sy, wie er genannt wird, Hilfe. Er macht ihr einen Heiratsantrag. Sie stimmt ihm nach einer glücklichen Nacht freudig zu. In so vielen Dingen waren sie in Übereinstimmung miteinander!

Diese Beziehung dominiert den Roman. Anna und Sy haben eine enge geistig-mentale innere Bindung, die ihresgleichen sucht. Hier denkt man unwillkürlich an das Paar Auster und Siri Hustvedt, die in New York als DAS Intellektuellenpaar gelten mit einer ebenso engen und unverbrüchlichen inneren Bindung.
Im Roman muss Sy schon so viele Jahre alleine leben!

In poetischen Bildern erleben wir ihn bei Betrachtungen der Natur, bei der Erinnerung an einen engen Freund, der im Zuge des Vietnamkriegs tödlich verunglückte und immer wieder in fast surrealen Begegnungen mit der toten Anna. Gespräche, die er in Gedanken mit ihr führt, werden im Wechsel mit seinem täglichen Leben äußerst realitätsnah beschrieben.

Vor uns ersteht ein New York, das in besonderer Weise charakteristisch war oder auch heute noch ist: intellektuell, dynamisch und voller Gegensätze zwischen arm und reich. Gesellschaftlich schien dieser Ort der Mittelpunkt der Welt zu sein. Hier entstanden Freundschaften und bildeten sich Lebensgemeinschaften zu gemeinsamen Spaß, zur Unterhaltung und zu geistigem Austausch. Durch alle Turbulenzen hinweg blieb die Beziehung zwischen Sy und Anna unerschütterlich.

In dem Roman gleiten kleinere Abschweifungen in die Vergangenheit über in die Gegenwart.
Man erkennt klare Strukturen: Vergangenheit, Gegenwart und Bezüge zwischen beiden.
Da geht es weit zurück die Familiengeschichten von beiden Partnern.

Auster beschreibt das Leben, wie es nach dem Tod eines sehr geliebten Menschen sein kann, wenn man fast symbiotisch verbunden war.
Unschwer erkennt man autobiographische Züge, denn Paul Auster hat Krebs und verarbeitet in diesem Roman fiktiv das Leben nach dem Ende eines Partners.

Die Erzählung ist zärtlich, traurig, suchend und zeigt das Bemühen, nach so vielen Jahren nochmal eine Gefährtin zu finden. Ob es ihm gelingen wird?
Eine gewisse Melancholie ist unübersehbar.

Paul Auster kann schreiben! Gelegentlich denkt man beim Lesen an Philip Roth.
Beide gelten als Titanen der Literatur!

Paul Auster
Baumgartner
Rowohlt Buchverlag, 2. Auflage November 2023
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498003933
ISBN-13: 978-3498003937
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Gabriele von Arnim: Der Trost der Schönheit

Gabriele von Arnim: Der Trost der Schönheit

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Nach ihrem viel beachteten Buch über die Jahre mit ihrem schwer pflegebedürftigen Mann hat Gabriele von Arnim nun ein Buch über die Schönheit und die Suche danach geschrieben.

Dabei gelingt es ihr mit ihrem reichen Wortschatz, die Augenblicke des Lebens zu rekapitulieren, in denen sie Schönheit beruhigt und aus dem Alltag herausgehoben und getröstet hat.

Auf diese Weise kann sie ihr ganzes Leben noch einmal an sich vorbeiziehen lassen.
Die einsame Jugend, das unterkühlte Elternhaus, in dem es weder Musik noch Literatur gab und in der es eine Bestimmung gab, die zu konventionellem Verhalten drängte und wenig Freiheit für den Geist und das freiheitssuchende Kind gab. Sehr vornehm ging es da zu!
Später erlebt die Erzählerin Trost im Anblick von Kunst, Natur und erlebter Lebensfrische.

Es sind die kleinen Dinge des Lebens, auf die uns die Autorin mit ihren überbordenden Gefühlen hinweist: ein Abendhimmel, ein Schwimmen im Meer, eine Mahlzeit in gemütlicher Abendstunde- und Runde. Nicht zuletzt immer wieder die Literatur, die Trost zu spenden weiß.
Man kann sich vorstellen, wie man alle diese Dinge erinnert, um sich damit ein gewisses Lebensglück zurückzuholen.

Der Lebensfaden zieht sich durch die Betrachtungen, und man erfährt so einiges aus dem Leben der Autorin, das einen aufhorchen lässt.
Ja, es gab auch trübe Stunden, die Einsamkeit und Verlorenheit während der großen Epidemie im Jahr 2020 z.B. Von Arnim bekennt, wie sie in diesen Zeiten Verlassenheitsgefühle plagten. Doch sie findet heraus aus der Niedergeschlagenheit. Sie lässt uns teilnehmen am Herausfinden von Glück und Freude, und dass alleine ein schöner Blumenstrauß uns zur Freude gereichen kann.

Die Ehrlichkeit der Erzählerin wird dann deutlich, wenn sie über ihre Ängste spricht, ihre Unzulänglichkeiten und die Not, die sie gelegentlich erfahren hat. Sie gaben den Antrieb, sich nach dem umzuschauen, was das Leben lebenswert macht.

Fast einem Tagebuch gleich fließt der Strom der Glückssuche durch die Zeilen.
Ist es mehr ein Monolog über die Suche nach der Schönheit?
Ein wenig fehlt der rote Faden, wenn von Arnim von einem schönen Augenblick zum nächsten eilt.
Es animiert den Leser, sich der Muße hinzugeben und auch dem eigenen Leben Beachtung zu schenken nach dem, was es an Schönem zu erleben gab. Ob es immer Trost sein kann in Zeiten des Verzagens und der Not?
Der Leser*in muss es für sich entscheiden.

In einem Anhang findet man die zahlreichen Bücher, aus denen die Zitate stammen, mit denen Gabriele von Arnim ihre Aufzeichnungen über Schönheit und Vergänglichkeit, Fluch und Segen belegt.

Gabriele von Arnim
Der Trost der Schönheit
Rowohlt Buchverlag, 2. Auflage August 2023
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498003518
ISBN-13: 978-3498003517
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Maarten Asscher: Das Haus meiner Kindheit

Maarten Asscher: Das Haus meiner Kindheit

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Das Haus der Kindheit: das ist das Haus der Großeltern von Maarten Asscher.

Dieses Haus stand in England, in Kew, nicht weit von London.
Detailliert berichtet der Autor über die Räumlichkeiten und über die Lebensgewohnheiten der Großeltern.
Man spürt, wie heimelig er sich fühlte und wie froh ihn das Zusammensein mit dem Oa, wie er genannte wurde, und Oma Roosje stimmte.

Fast Proust gleich geht es um die Gerüche und Geräusche im Hause. An Oma Roosje wurde mit den liebevollsten Gedanken erinnert. Sie war klug, lebendig und voller Tatendrang.

Die Erzählung ist ganz auf die Großeltern fokussiert. Wenig nur hört man von seinem Elternhaus in Holland. Es gab aber etwas, was den Jungen in späteren Jahren neugierig machte. Die Großeltern sind jüdisch, und im Krieg gab es Verfolgungen. Von Tanten und Onkeln ist die Rede, die in die KZs in Deutschland deportiert wurden und nie zurückkehrten. Wo waren die Großeltern, wie verlief ihr Schicksal?

In langen Passagen und Monologen kommt Maarten Asscher der Geschichte der Familie auf die Spur.
Oa, der Großvater, besaß neben der holländischen auch die englische Staatsbürgerschaft.
Es hat ihm bei seinen Bemühungen,1940 mit der Familie nach England zu fliehen, nicht geholfen.
Er war bei einem internationalen Shell Konzern angestellt. Da glaubte er sich als Halbjude sicher.
Doch beide Großeltern wurden 1942 nach den Haag und noch später ins Lager in Westerborg verschick. Die Repressionen wurden immer schärfer. Die Flucht gelang ihnen nicht.

Durch seine Nachforschungen gelingt dem Autor, zu rekapitulieren, wie seine Großeltern später nach England kamen.
Ein abenteuerlich fingierter „Arisierungsprozess“ brachte den Großvater mit seiner Familie aus der Zwangsevakuierung wieder in sein Haus zurück. Gleich nach dem Krieg zog es ihn in seine Heimat nach England.

Einmal mehr erfährt die Nachwelt, wie schrecklich die Nazizeit auch für Juden in dem besetzten Holland war. Der Großvater strich die Erinnerungen an 1940 – 1945 aus seinem Gedächtnis, so dass seine Enkel nur die schönsten Seiten der Kindheit mit den Großeltern erinnerten.

Wie so viele Geschichte aus der Nazizeit reiht sich auch diese Erzählung dazu!

Maarten Asscher
Das Haus meiner Kindheit
Luchterhand Literaturverlag, Oktober 2023
256 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630876536
ISBN-13: 978-3630876535
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