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Autor: Claudine Borries

James Salter: Charisma

James Salter: Charisma

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Der im Jahr 2015 verstorbene Schriftsteller James Salter war ein wunderbarer Erzähler. Das stellte sich heraus, als er seine Karriere als Pilot der Air Force im Koreakrieg aufgegeben hatte. Er hat so wunderbare Romane geschrieben wie „Lichtjahre“ und „Alles, was ist“.

In diesem vom Berlin Verlag neu aufgelegten Band sind alle seine Erzählungen zusammengefasst. Im Anhang findet man drei Vorlesungen über Literatur.

Ob es sich um Familien, Zerfall menschlicher Beziehungen oder die Freude und das Glück handelt, ob es um Einzelschicksale oder Freundschaften geht: eine jede Geschichte ist ein Roman für sich.

Salter berichtet von gewöhnlichen Ereignisse aus dem Alltag. Er erzählt über vielerlei Begegnungen, er spricht über die Liebe, die das Leben mitbestimmt, und über schicksalhafte Wendungen, die unser Erdendasein beschweren können. Dazu gehören Familiendramen aller Art.

Das Leben ist kompliziert, und diese einfachsten Lebensgeschichten tragen romanhafte Züge. Sie in feinen Szenen einzufangen, ist das große Können dieses großartig beobachtenden Autors. Geschichten von großer Einfachheit mit einem Glanz zu versehen, dass man sich hineingezogen und in gebannt geschlagen fühlt, wird in einfachen Sätzen heraufbeschworen.

Erzählungen sind oftmals nicht leicht zu besprechen, weil immer nur Eindrücke über kürzere Zeiträume abgehandelt werden. Im Kontrast zu ganzen Romanen gibt es keinen einheitlichen Handlungsstrang. Und doch: auch und gerade Erzählungen bieten dem geneigten Leser die Chance, etwas über das Leben zu erfahren, ohne sich der Prozedur eines langen Lesevorgangs hingeben zu müssen. Ich fange an, sie zu mögen.

James Salter
Charisma
368 Seiten, gebunden
Berlin Verlag, Dezember 2016
ISBN-10: 3827013275
ISBN-13: 978-3827013279
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Louise De Vilmorin: Der Brief im Taxi

Louise De Vilmorin: Der Brief im Taxi

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Liebeswirren im edlen Bürgertum.

In diesem kurzen Roman, der fast einer Novelle gleicht, beginnt eine unbekannte Icherzählerin unvermittelt mit der geselligen Geschichte einer gehobenen Bürgerschicht.

Sie berichtet von einem Mann, den sie liebte, der ihr aber eine andere vorzog. Gustave ist ein heiterer Mann, der von einem leichten Leben auf den Meeren der Welt träumt. Dazu muss er zuerst einmal reich werden. Er liebt Cécilie, eine gute Freundin der Erzählerin. Diese ist unkonventionell, verspielt, locker und schöner als ihre erzählende Freundin und heiratet den Galan.

Zunächst sieht alles nach einem glücklichen Leben aus; doch Gustave wandelt sich mit dem beruflichen Erfolg zu einem geldgierigen, langweiligen Banker. Sein Umgang ist entsprechend, und Cécilie vermag sich nicht so recht in den konventionellen Umgang mit den anderen angesehenen Bürgern einzureihen.

Eines Tages begleitet Cécilie die langweilige Freundin ihres Bruders Alexandre zum Zug. Auf dem Weg im Taxi verliert sie einen frankierten Brief, den sie zur Post geben wollte. Nun beginnt das eigentliche Abenteuer! Was stand in dem Brief, und an wen war er adressiert?

In wunderschönen Worten beschreibt Louise De Vilmorin die Personen ihrer Handlung.

Sie alle sind unterschiedliche Charaktere mit eigenem Gewicht. Vermutungen tauchen auf wie diese: könnte der Brief zu einer Erpressung führen? Beinhaltet er den Hinweis auf eine versteckte Liebesgeschichte von Cécilie?

Man wird neugierig, und die Spannung steigt!

Es geht in der Erzählung um das französische Bürgertum, um Adel, Gesellschaft, Gewohnheiten und das Lebensgefühl zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Die Geschichte kreist voller Charme und gepflegter Unterhaltung um Menschen, die lieben und sich im geselligen Treiben verlustieren. Der vergessene Brief im Taxi ist das Medium, um das sich eine Geschichte rankt, die jenes edle Bürgertum mit allen seinen guten und maroden Seiten aufzeigt, wie wir sie aus der Historie kennen. Es gibt die Angepassten, die Angeber, Intrigen aller Art und die unkonventionellen Individuen, die das Salz in der Suppe bilden. Die Geschichte im Brief bietet überraschende Eindrücke und Auflösungen, mit denen man nicht gerechnet hat.

Der Leser fühlt sich gut unterhalten. Er goutiert die gepflegten Umgangsformen und das malerische und bestrickende Ambiente.

Das Büchlein ist eine kleine Rarität, das sich in Aufmachung und Geschmack hervorragend als Geschenk eignet. Beim literarisch gebildeten Leser kann man damit nichts falsch machen.

Dem Dörlemann Verlag verdanken wir immer neue Wiederentdeckungen aus dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Louise De Vilmorin lebte von 1902 -1969. Sie war mit de Saint-Exupérie verlobt und langjährige Lebensgefährtin von André Malraux. Ihr verdanken wir so manches literarische Kleinod wie dieses hier.

Louise De Vilmorin
Der Brief im Taxi
208 Seiten, gebunden
Dörlemann, August 2016
ISBN-10: 3038200336
ISBN-13: 978-3038200338
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Miriam Stein: Das Fürchten verlernen

Miriam Stein: Das Fürchten verlernen

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Miriam Stein hat mit dem vorliegenden Buch ihre Biographie geschrieben.

Sie wuchs als adoptiertes Kind in einer deutschen Familie auf. Als Säugling war sie in Korea an einer Straßenkreuzung aufgefunden worden.

Die Familie besteht aus Vater, Mutter und vier Kindern: zwei eigenen und zwei angenommenen. Die Kinder sind 14, 13, 9 und sechs Jahre alt. Als die Jüngste, Jessica, adoptiert wurde, ist die Familie komplett.  Letztere ist ein schwieriges und kaum zu bändigendes Kind. Seit ihrem Erscheinen wurde die Mutter von unerklärlichen Angstattacken geplagt. Diese führten zu einem vollständigen Stillstand ihres Lebens und betrafen die Familie mit.

Miriam Stein scheint ein sensibles und empfindsames Kind gewesen zu sein. Sie beobachtet dezidiert, was in der Familie passiert. Zuerst gehört dazu ihr andersartiges Aussehen. Die anderen sind blond und hellhäutig, sie ist eher dunkel mit schwarzem Haar und mandelförmigen Augen. Auf dem Titelbild ist sie eine hübsche junge Frau.

Wie lebt es sich in einer Familie, die langsam durch die Angsterkrankung der Mutter aus der Fugen gerät?

Man kann es sich durch die Schilderungen von Miriam Stein lebhaft vorstellen.

Kinderbesuch wird selten, und auch das übrige gesellige Leben der Familie erstirbt langsam. Der Vater bleibt immer länger auch über Nacht in Hamburg, wo er arbeitet. Miriam beginnt, sich zu einem renitenten Teenager zu entwickeln mit Hang zum Punk. Mit Anorexie und Bulimie zeigen sich bei ihr die Folgen der Angstkrankheit ihrer Mutter, die sie jahrelang miterlebt hat.

Bei aller Abnormität ihrer Krankheitssymptome werden die Konturen eines starken Charakters deutlich. Eine erstaunliche junge Frau beschreibt das Milieu der achtziger Jahre, den Mief und die Spießigkeit in ihrer Familie mit Haus, Auto und Karriere und einer von ihr erwarteten Konformität darüber, wie man zu leben oder zu arbeiten hat. Das alles wirft sie über Bord und startet ein eigenes Leben, das anderen Bahnen folgt.

Miriam Stein beginnt ihren außergewöhnlichen Lebensweg. Sie verlässt das Elternhaus und begibt sich über London und andere Großstädte nach Berlin. Dort kellnert sie und betreibt Fotografie und Film und versucht sich gar als Regisseurin.

Nach zahlreichen Umwegen und einem Leben der Boheme in Berlin Mitte begibt sie sich auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Herkunft und den  Behandlungsmöglichkeiten von Angststörungen.

Sie beschreitet einen abenteuerlichen Weg, kommt weit herum, befragt Therapeuten und Experten, um für sich selber einen Ausweg aus der auch für sie bemerkbaren Angst zu finden. Nach diversen Forschungserkundungen und eigenen Therapien beginnt sie, das Fürchten zu verlernen.

Der Reiz ihres Berichtes liegt in der Überschneidung von eigenem Erleben mit der Erforschung dessen, was Angst für Menschen ausmacht; welche Formen und Auswirkungen sie annehmen kann, und worin sich Angst und Furcht unterscheiden.

Miriam Stein zeigt mit ihrer Erzählweise eine Vielzahl von Forschungsergebnissen und Behandlungsmöglichkeiten auf. Ihre Schilderungen sind von reflektierter Genauigkeit. Im Kontext steht alles immer im Zusammenhang mit ihrer eigenen Biographie.

Die Autorin ist voller Lebensvitalität und Neugier. Auf diesem Wege ist ein spannender Lebensbericht entstanden. Das Leben der Autorin ist wie ein Roman. Sie fügt wissenschaftliche Erkenntnisse und eigene Erfahrungen in einen nachvollziehbaren Zusammenhang. Für interessierte Leser ist das Buch absolut lesenswert.

Miriam Stein wuchs in Osnabrück auf und lebt heute in Berlin.

Miriam Stein
Das Fürchten verlernen
270 Seiten, broschiert
Suhrkamp Verlag, Oktober 2016
ISBN-10: 3518467255
ISBN-13: 978-3518467251
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Jonathan Safran Foer: Hier bin ich

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich

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Mit einem großen Familienroman tritt der vielfach ausgezeichnete amerikanische Autor J. S. Foer nach langer Pause wieder an die literarische Öffentlichkeit.

Es handelt sich in seinem neuen Roman um eine jüdische Familie, die aus vier Generationen besteht und in Washington D.C. lebt.

Julia und Jacob aus der mittleren Generation sind das Ehepaar, das im Mittelpunkt der Handlung steht. Er ist Schriftsteller und sie Architektin. Sie sind seit 16 Jahren verheiratet und Eltern von drei Söhnen: Sam, Max und Benjy. Diese machen nicht nur Freude, und Julia und Jakob sind sich oft uneins in Fragen der Erziehung.

Von Beginn an stark reflektierend zeigt uns der Autor ein Paar, das die jungen Jahre der Leidenschaft hinter sich gelassen hat.

Natürlich geht es neben anderem auch um Sex und die Veränderung von Sex in der Ehe.

Zwischen Julia und Jacob hat sich mit den Jahren eine gewisse Scheu entwickelt, ihre geheimen Wünsche zu äußern und auszuleben. In Passagen der Rückschau erleben wir die beiden noch neugierig und experimentierfreudig. Doch der Alltag mit Kind und Kegel hat längst die erste Phase der Begegnung und Entdeckung überlagert. Rücksichtnahme auf die Kinder und die Bedürfnisse des anderen haben einen jeden von ihnen in ein Zwangskorsett versetzt.

Gedanken, wie man sich Freiheit und Unabhängigkeit wünscht, sind dem Anfangsstadium der Verliebtheit gewichen.

In meisterhafter Weise handelt J.S.Foer die langsame Entfremdung zwischen den beiden ab. Es ist schwer auszuhalten, wie man sich bemüht, zusammen zu bleiben und sich doch voneinander entfernt.

In langen und endlosen Gesprächen aller Beteiligter quälen sie sich durch ihr Leben. Die Figuren in dem Roman reflektieren und verdrängen zugleich, so dass sich ein tiefer Zwiespalt offenbart: kann man loslassen, und wohin soll das führen?

Heimatlos zu sein ist nicht erstrebenswert. Und doch ist das der tiefere Gehalt der Geschichte: wir alle suchen Zugehörigkeit und müssen diese mit dem Bewusstsein ertragen, dass wir trotz aller Verbundenheit Individuen mit eigenen Gewohnheiten und Wünschen bleiben.

Der Roman umfasst mehr als 600 Seiten. Szenenwechsel erfolgen schnell und unerwartet. Erzählung, Dialoge und unausgesprochene Gedanken wechseln in schnellem Tempo. Die weit verzweigten Familienverbindungen reichen bis nach Israel, in ein Land, dessen Konflikte und Vorgeschichte mit in den Roman einfließen. Traditionen bleiben bestehen, auch wenn man sehr weltlich ausgerichtet lebt. Man feiert die jüdischen Feiertage und bereitet sich auf die Bar Mizwa von Sam, dem ältesten Sohn von Julia und Jacob, vor. Mit dem Fortlauf der Handlung zeigt sich aber die zunehmende Brüchigkeit der Ehe seiner Eltern. Alles läuft auf eine Trennung hinaus.

Der Titel des Romans klingt fast biblisch: Hier bin ich (…und kann nicht anders…) Ja, zu einem langen Leben zu zweit gehört Ausdauer, zuweilen Anstrengung und Durchhaltevermögen. Dazu ist nicht jeder bereit, wenn sich die Wunschvorstellungen von Glück auf Dauer nicht halten lassen.

Autobiographische Erfahrungen haben den Autor J.Safran Foer zum  Entwurf seiner Romanfigur Jacob vermutlich beeinflusst. Er ist wie Jacob Schriftsteller, hat wie dieser Kinder und ist in seiner Ehe gescheitert.

Ein schwieriges, nachdenkliches und anstrengendes Buch mit ausufernder Handlung hat J.Safran Foer geschrieben, das vom Leser Durchhaltevermögen verlangt.

J.S. Foer war mit der ebenfalls herausragenden Schriftstellerin Nicole Krauss („Kommt ein Mann ins Zimmer“) verheiratet und lebt in New York.

Jonathan Safran Foer

Hier bin ich
688 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, November 2016
ISBN-10: 3462048775
ISBN-13: 978-3462048773
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Sempé : Freundschaften

Sempé : Freundschaften

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Heiterkeit, Humor und Ernst: des Lebens Grundlagen für wahre Freundschaft!

Sempé hat die unübertroffene Gabe, Menschen bis in die tiefsten Schichten ihres inneren Wesens zu erkunden und mit seinen Zeichnungen seine Beobachtungen in Worte und Zeichnungen zu fassen!

Wer hätte gedacht, wie schwierig es ist, den Begriff Freundschaft zu definieren?

Sempé schafft es im Gespräch mit Marc Lecarpentier, dieser Frage nachzugehen!

Freundschaft: das ist eine besondere Form menschlicher Zugehörigkeit, die nicht leicht zu erklären ist. Mit welchen Begriffen könnte man sie umschreiben?

Die beiden Gesprächspartner wälzen verschiedene Charakteristiken hin und her, um die Grundlagen für Freundschaft zu erklären.

Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Respekt, Zuverlässigkeit und Toleranz wichtige Voraussetzungen sind, um wahre Freundschaft zu entwickeln.

Tiere können anhängliche Freunde sein, sowohl Hund und Katze und sogar ein Huhn! Doch kann man sie wirklich mit Freundschaft zwischen Menschen vergleichen? Sind doch die Ausdrucksmöglichkeiten zwischen Tier und Mensch ganz unterschiedlich Natur, um nicht zu sagen: Tiere haben da sehr ihre Grenzen!

Nun, munter geht die Unterhaltung weiter und Sempé zeichnet unverdrossen die Vielfalt menschlicher Begegnungen! Versonnen schaut eine Frau auf ihre Katze, und ernsthaft interessiert betrachtet ein Mann seinen Hund, mit dem er in ein nachdenkliches Gespräch vertieft zu sein scheint.

Nach zahlreichen wunderbaren Gesprächen mit philosophischem und ernstem Hintergrund kommen die Gesprächspartner Sempé und Lecarpentier zu dem Ergebnis, dass uns Freundschaften in vielerlei Verkleidungen begegnen, „Am Ende braucht es einen umgänglichen Charakter und viel freier Zeit, damit man jede Menge Freunde hat“.

Und weiter: “Die Liebe ist wild, Freundschaft zart und empfindlich…. und stillschweigend“.

Weisheiten wie diese: „sind Sie mit Aristoteles einer Meinung, wenn er sagt: ein Freund, der aufhört, ein Freund zu sein, ist nie einer gewesen?“ geben Anlass zum Nachdenken. So finden sich Gedanken, die vielleicht einen jeden von uns zuweilen umtreiben, wenn es um gute Freundschaften geht.

In diesem Wunderbuch an Erkenntnis, in dem man sich mit Humor und Schmunzeln und mit der Vielfalt menschlicher Charaktere und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten konfrontiert sieht, darf man sich einmal mehr über den heiteren und so treffenden Zeichner Sempé freuen! Er öffnet uns die Welt, indem er seinen Figuren Flügel verleiht, mit denen sie die Leichtigkeit des Seins mit dem Ernst der Lage verknüpfen und uns Heiterkeit bescheren!

Patrick Süskind ist der kongeniale Übersetzer dieses wunderschönen Kunstbuchs!

Sempé
Freundschaften
152 Seiten, gebunden
Diogenes, Oktober 2016
ISBN-10: 3257021372
ISBN-13: 978-3257021370
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Ian McEwan: Nussschale

Ian McEwan: Nussschale

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Lebensbeginn mit bösen Voraussetzungen.

Auf diese Idee muss einer schon einmal kommen: die Welt aus den Augen eines Embryos im Mutterleib zu betrachten.

Der Titel verweist auf einen Satz aus dem Hamlet von Shakespeare: im Mutterleib mag man sich ja wie in einer Nussschale fühlen! Aber man ist abhängig und schlechten Träumen ausgeliefert. Hamlet nachempfunden soll dann die ganze Geschichte sein!

Die Besonderheit: der unbenannte Icherzähler, eben jenes Kind im Mutterleib, sieht hört und schmeckt alles. Seine Mutter ist mit ihm im neunten Monat schwanger und hat mit dem Bruder des Vaters ein Liebesverhältnis. Der Vater wurde ausquartiert aus dem Haus, das er einst von seinem Großvater geerbt hat. John, der Vater des ungeborenen Kindes, ist erfolgloser Dichter und Schriftsteller, dick, hautkrank und von schwächlichem Charakter. Sein Bruder Claude  ist Bauunternehmer. Er ist langweilig und dem Dichten und Denken eher abhold. Infamer Weise arbeiten die Mutter des ungeborenen Sohnes und sein Onkel an einem Plan, von dem man nur ahnt, dass er Böses beinhaltet.

Nun, das arme Embryonenkind bekommt mit, wie der Mord an seinem Vater ausgebrütet und vollbracht wird! Ein Embryo, das gewitzt und aufgeweckt Kommentare zu allem und jedem geben kann.

McEwan hat sich da eine reichlich skurrile Geschichte ausgedacht.

Das tägliche Einerlei beobachten, die Trunkenheit der Mutter miterleben, den verhassten Onkel bei seinen Avancen zur Mutter zu spüren und eigene Schlüsse aus den Beobachtungen zu ziehen? Das alles ist nicht komisch, sondern eher makaber bis ein wenig künstlich in seinen Ausführungen. Es erschließt sich einem nicht wirklich, was uns McEwan sagen will: dass die Welt böse und verlogen ist? Dass wir hineingeworfen werden und uns nach den Gegebenheiten zu richten haben? In der Nussschale ist es eng. Man kann nur beobachten aber nicht eingreifen. Also sind wir ohnmächtig dem Bösen ausgeliefert?

Zwischen Krimi und Komik ist die Geschichte angesiedelt. Doch sie kann nicht mitreißen, ist eher breit und langatmig. Es kommt keine rechte Spannung oder Freude auf beim Lesen. Und wie wunderbar waren die Romane, die ich zuvor vom selben Autor gelesen habe!

Dieser gehört nicht dazu!

Ian McEwan
Nussschale
288 Seiten, gebunden
Diogenes, Oktober 2016
ISBN-10: 3257069820
ISBN-13: 978-3257069822
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Cynthia D’Aprix Sweeney: Das Nest

Cynthia D’Aprix Sweeney: Das Nest

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Der erste Roman von Cynthia D’Aprix Sweeney ist jetzt auf Deutsch herausgekommen.

Es handelt sich um eine Familiengeschichte, mehrere Kinder und eine Mutter, die über einer Erbschaft nach Jahren wieder zusammenfinden. Vier Geschwister: Leo, Jack, Bea und Melody treffen sich, um die Einzelheiten zu besprechen. Es zeigt sich, dass sie alle sehr verschieden sind. Nicht mehr viel verbindet sie mit ihrer Kindheit, in der sie sich wie alle Kinder gestritten, gestört und ihren Werdegang geteilt haben.

Cynthia Sweeney lässt sich auf eine Geschichte ein, in der es nicht immer friedlich zugeht. Erbschaftsstreitigkeiten in Familien sind Legion; auch den Geschwistern geht es da ähnlich. Leo hat das ganze Geld beiseitegeschafft, und die anderen müssen nun sehen, wo sie mit ihren Hoffnungen, Schulden und Wünschen für die Zukunft bleiben. Wie nicht anders zu erwarten, erfahren alle die Wahrheit über den Verbleib des Geldes erst nach und nach.

Das Nest ist die Rücklage gewesen, mit der man gerechnet und auf das man sich verlassen hat. Nun sind alle Hoffnungen dahin!

Auf der Suche nach der Wahrheit entsteht das Bild der Familie in einzelnen Kapiteln. Ein jeder und eine jede haben ihren eigenen Weg gemacht. Das Soziogramm dieser Familie ist wie die aller Familien: jedes Leben gleicht einem Roman. Wie die Autorin das aufzieht, ist lebensnah, unterhaltsam und spannend in ihrer Essenz.

Melody hat Schulden auf ihrem Haus, und sie hat zwei Töchter, denen sie eine Collegeausbildung bieten will. Jack ist Drehbuchautor und kommt nicht zum Erfolg. Er hat Schulden genauso wie seine Schwester Bea, die sich als Schriftstellerin versucht.

Alle hofften mit dem Erbe, das an Melodys vierzigstem Geburtstag ausgezahlt werden sollte, ihren Schwierigkeiten und finanziellen Verpflichtungen ein Ende bereiten zu können!

In langen Zwischenkapiteln erfährt man jeweils, wie die einzelnen zu ihrem heutigen Status gekommen sind.

Da alle inzwischen schon einen guten Teil ihres Lebens hinter sich haben, vollenden sich auch ihre Schicksale in den einzelnen Kapiteln.

Es gab eine Reihe von dazu gekommenen Protagonisten, und es gilt, sich jeder einzelnen Entwicklungsgeschichte zuzuwenden. In der Familie gibt es Homosexualität, Scheidungen, neue Verbindungen und immer wieder den ältesten Sohn Leo, der unlautere Geschäfte getätigt und auf großem Fuße gelebt hat.

Wie wird man als Geschwister damit fertig, dass die Mutter ihrem Lieblingssöhnchen Leo mit der Auszahlung des Erbes den anderen alles vorenthalten hat? Versprechungen Leos auf Rückzahlung an die Geschwister bleiben auf Sand gebaut.

Jack hat aus den Trümmern der Twintowers vom 11.9. einen Schatz geborgen, mit dem er zu Geld kommen möchte. Sein Lebensgefährte Walker verlässt ihn daraufhin.

Am Ende bleibt der Eindruck, dass sich hier zahlreiche Unglücke ereignet haben, die den Existenzkampf der Geschwister in unterschiedlicher Weise belastet haben. Doch wie im richtigen Leben finden sich Lösungen. Man lebt weiter, weil es immer irgendwie weitergeht.

Insgesamt ist der Roman ein wenig weitschweifig und ausladend. Doch man wird sich an gemütlichen Ferientagen damit gut unterhalten können.

Cynthia D’Aprix Sweeney

Das Nest
410 Seiten, gebunden
Klett-Cotta, Oktober 2016
ISBN-10: 3608980008
ISBN-13: 978-3608980004
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Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten

Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten

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Kinderschicksale im Schatten der Gesellschaft.

Was kann es Schlimmeres geben, als ein unerwünschtes Kind zu sein? Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit und Fürsorge für den Start ins Leben sind die Grundpfeiler für die Bewältigung dessen, was das Leben so bringt. Dimitri hat hier das Gegenteil beschrieben: er zeigt uns die Hölle, die ein Kind durchläuft, wenn es abgeschoben und ungeliebt und im wahrsten Sinne des Wortes „unerwünscht“ ist.

So etwas kann man in dieser hier vorliegenden Weise nur beschreiben, wenn man es selber erlebt hat.

Dimitri Verhulst schöpft aus den Erfahrungen des eigenen Lebens, wenn er uns davon erzählt, wie man sich als ein solches unerwünschtes Kind fühlt. Er lebte in einem Heim mit vielen Kindern, die alle das gleiche Schicksal teilten.

Seine Erzählweise wechselt vom Du zum Ihr, wenn er anschaulich zu machen versucht, wie karg, armselig und bedürftig an Leib und Seele dieses Leben war. Schmucklose Zimmer, karges Essen, pietistische Lebensregeln und ein Mangel an Spiel und Spaß: so sah das Leben für die Heiminsassen aus.

Am Wochenende konnte man Besuch bekommen. Doch es kamen nur wenige Mütter oder entfernte Verwandte, die sich schnell wieder davonmachten, denn wirkliches Interesse war nicht gegeben. Zahlreiche Kinder bekamen nie Besuch.

Die Tatsachen sind schnell aufgezählt: doch wie Verhulst seine Geschichte erzählt, macht ihm so schnell keiner nach. Die Leere und der graue Alltag werden mit sparsamen Worten angedeutet, so dass man sich in die Atmosphäre hineinfühlen kann. Man spürt den Frust und die Sucht der Kinder, sich auf irgendeine Weise selber zu spüren. Das geschieht in nächtlichen Sexorgien, die einzig und alleine dem Zweck dienen, sich auf welche Weise auch immer Zärtlichkeit zuzuführen. Verhulst vermittelt die ganze Trostlosigkeit des Daseins an einem Ort des Verlusts, der mit dem Freitod einer jungen Insassin zu Beginn der Erzählung seinen Anfang nahm.

Man liest seine Erzählung mit leichtem Grauen, weil man gewöhnlich Kinder aus diesen Sphären kaum kennenlernt. Sie sind zerschunden und verwahrlost im Äußeren und Inneren. Wie überlebt man das?

In der zweiten Geschichte erlebt man die Folgen!

Der Autor Dimitri Verhulst hat es ganz offensichtlich geschafft, mit seinem Schreiben die bösen Geister zu bannen und sie zu fixieren. Nur so können ihn die Zerrbilder der damaligen Wirklichkeit, die seine Kinder- und Jugendjahre überschattet haben, verlassen.

Ein trauriges, aufrüttelndes, in weiten Teilen aber auch mit der notwendigen kritischen Distanz erzähltes Stück aus den Tiefen eines frühen Kinderlebens!

Dimitri Verhulst ist in den Niederlanden ein hoch anerkannter Schriftsteller.

Dimitri Verhulst
Die Unterwünschten
144 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, Oktober 2016
ISBN-10: 3630874797
ISBN-13: 978-3630874791
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Colm Tóibín: Nora Webster

Colm Tóibín: Nora Webster

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Colm Tóibín ist ein Autor, der sich in die tieferen Schichten menschlichen Seins hineinversetzen kann, wie er bereits in seinem Roman „Brooklyn“ bewiesen hat.

Mit seiner Hauptfigur Nora Webster hat er ein diffiziles und kritisches Frauenbild zu Ende der sechziger Jahre in Irland in den Fokus genommen. Erster Aufruhr bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Nord- und Südirland spielen am Rande der Geschichte mit.

Nora Webster muss sich nach dem plötzlichen und frühen Tod ihres Mannes Maurice Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in einem Provinznest im Süden Irlands alleine durchschlagen. Sie hat zwei Töchter, die schon aus dem Haus sind, und zwei kleine Söhne, die noch ihrer ganzen Fürsorge bedürfen. Ihr Mann war ein angesehener Lehrer im nahe gelegenen Städtchen Wexford. Beiläufig kommen ihr in Gedanken Erinnerungen an ihn, die von einer sehr glücklichen Ehe zeugen. Er war die Liebe ihres Lebens. Unwiederbringlich und grausam starb er in der Mitte ihres gemeinsamen Lebens. Die Familie erlebt eine einschneidende Wende mit seinem Tod.

In pragmatischem und nüchternem Ton erzählt Colm Tóibín die Geschichte einer Frau, die auf sich gestellt mit allen Folgen der Alleinversorgerin für die Familie leben lernen muss. Immer wieder stellen sich Bekannte oder ihre Schwestern ein, die ihr helfen wollen, doch sie sucht nur die Ruhe, um ihr Leben neu zu ordnen.

Nora musste vor ihrer Ehe im Büro der Firma Gibney arbeiten, obwohl sie das Zeug zu einer akademischen Laufbahn gehabt hätte. Die häuslichen Verhältnisse ließen ein Studium nicht zu.
Nun bietet man ihr erneut eine Stelle in derselben Firma an, da man weiß, dass der frühe Tod ihres Mannes sie mittellos hinterlassen hat.

Erste Gewerkschaftsgründungen führen zur Gegnerschaft zwischen Arbeitgebern- und Nehmern. Nora ist eine aufgeweckte Person und sieht die Zeichen der Zeit und die Notwendigkeit für Veränderungen. Sie schließt sich einer Gewerkschaft an, was ihrem Stand in der Firma, in der sie als tüchtige Bürokraft geschätzt wird, nicht gerade dienlich ist.

21 Jahre war sie mit Maurice verheiratet und konnte sich ihren Hobbies und dem Lesen widmen. Jetzt gehört sie wieder zu den weniger gut Betuchten, die sich hart durchschlagen müssen. Mit klarem Blick und wachen Sinnen orientiert sich Nora und sucht ihren eigenen Weg. Neid, Boshaftigkeit und Kleingeist, von dem sie sich umgeben sieht, machen ihr das Leben schwer.
Sie geht ihren Weg in großer Einsamkeit, denn sie ist klug und durchschaut die kleinen Schwächen der sie umgebenden Menschen mit analysierendem Blick. Wir erleben sie als gerechte und liebevolle Mutter, die ihren Kindern auf Augenhöhe begegnet.

Colm Tóibín zeichnet seine Figur mit viel Empathie und Verständnis.
Nora wird als stolz, klar und weitsichtig beschrieben.
Ferner umreißt er das Milieu einer kleinen Stadt, in der es Klatsch und Tratsch gibt und in der strenge Hierarchien je nach Amt, Würden und dem Wohlstand herrschen. Der Roman gewinnt auf diese Weise den Status einer Sozialstudie.

Colm Tóibín hat das Zeug zu einem Ausnahmeschriftsteller. Seine Romanfigur Nora Webster wird zu den großen Frauen der Weltliteratur wie Madam Bovary oder Effi Briest gerechnet.

Giovanni und Ditte Bandini haben mit ihrer Übersetzung ihren Beitrag geleistet, um dem Roman zu einer der wichtigsten Neuerscheinung des Herbstes 2016 zu verhelfen.

Colm Tóibín

Nora Webster
384 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, August 2016
ISBN-10: 3446250638
ISBN-13: 978-3446250635
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Jane Gardam: Letzte Freunde

Jane Gardam: Letzte Freunde

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Im letzten Band ihrer Trilogie über zwei Anwälte der Kronkolonie Honkong kehrt Jane Gardam noch einmal an den Erzählort zurück, um sich dem Werdegang ihrer beiden Protagonisten, der verfeindeten Anwälte Edward Feathers und Terry Veneering, zu widmen.

Nachdem beide verstorben sind und kurz nacheinander beerdigt wurden, findet man sich zunächst in dem Dörfchen in Dorset wieder, wo sie ihren Lebensabend verbringen wollten. Zufällig und nichts ahnend haben sie Häuser ganz nahe beieinander erworben.

Die beiden stammten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten.

Edward war der distinguierte Herr, dessen Vater Kolonialbeamter war. Veneering war der Spross eines russischen Zirkustänzers. Seine Mutter war Kohlenhändlerin, eine einfache und resolute Person, die sich und den auf der Durchreise mit dem Zirkus verunglückten Russen durchbrachte. Ihr Sohn ist ihr Augapfel, für den sie alles tut. Jetzt erst versteht man Veneerings Auftreten und seine besondere Art von Humor und Robustheit, ja, sein ganzes lockeres und gelöstes Auftreten! Er ist ein Unikat an Draufgängertum und individueller Lebensart.

Wie schon in den ersten beiden Bänden dieser Romanfolge greift eine Geschichte in die andere. Lediglich der Perspektivwechsel erhellt das Bild der einen oder anderen Person. Zwischen beiden Kronanwälten stand immer Elisabeth, die Frau von Edward Feathers.

Sie war weder schön noch besonders reizvoll, aber sie wusste zu lieben.

Es wird in diesem letzten Roman ersichtlich, wie alles und alle zu einander gestanden haben, was sie gegenseitig anzog, und was sie voneinander abgestoßen hat.

Dieses England, das man hier nochmals in seiner Skurrilität und der Besonderheit der einzelnen Figuren erlebt, ist amüsant und witzig. In Dorset finden sich so einige Nebenfiguren wieder, die man bisher nur am Rande erlebt hat. Mrs. Dulcie gehört dazu und Fiscal-Smith, einer der weniger erfolgreichen Anwälte. Alles und alle hängen irgendwie mit der Kronkolonie Honkong zusammen und finden sind nun als alte Pensionäre in England wieder.

Da ja alle Personen und Geschehnisse von Beginn an in der Rückblende beschrieben wurden, ergibt sich das runde Bild einer Gesellschaft, die ihre beste Zeit kurz nach dem vorangegangenen Zweiten Weltkrieg hatte. Auch da zeichnete sich schon ab, wie unwahrscheinlich einzelne durch diesen Krieg gekommen sind, und mit wie viel Glück man zu einem Neuanfang gefunden hat.

Jetzt befinden wir uns schon im 21. Jahrhundert, und der Wandel der Zeiten macht sich allenthalben bemerkbar. Das Handy und 9/11 haben ihre Spuren hinterlassen, und die Welt hat sich gedreht.

Schon 1997 ging das Zeitalter der englischen Kronkolonien zugrunde!

Man liest auch diesen letzten Band der Trilogie gerne, weil Jane Gardam eine unnachahmlich großartige Erzählerin ist, die ihresgleichen sucht.

Jane Gardam
Letzte Freunde
40 Seiten
Hanser Berlin, Oktober 2016
ISBN-10: 3446252908
ISBN-13: 978-3446252905
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