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Autor: Claudine Borries

Navid Kermani: Sozusagen Paris

Navid Kermani: Sozusagen Paris

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Die große Liebe: ist sie ein Wunder oder alltägliche Erwartung mit ungewissem Ausgang?

In dem neuen Roman von Navid Kermani arrangiert er die Wiederbegegnung eines Paares dreißig Jahre nach deren großer Schülerliebe.

Anläßlich der Lesung seines neuen Liebesromans wird der Icherzähler von einer Dame angesprochen. Irritiert und erstaunt registriert er, dass es sich um Jutta, seine große Liebe aus Schülerzeiten, handelt. Diesen Namen hat er ihr als Pseudonym in seinem neuen Roman gegeben, denn den richtigen zu nennen wagte er nicht. Er hat hier die Geschichte seiner Jugendliebe aufgeschrieben.

Erst zaghaft, dann vertrauter nähert er sich ihrem Schicksal und ihrer inzwischen dreißigjährigen Ehe.

Es handelt sich um eine lange Geschichte über die Liebe, in der auch auf Eindrücke bei Proust, Guy de Maupassent oder Madam Bovary und weitere zurückgegriffen wird.

Zunächst schüchtern, immer aber beobachtend, erlebt der Icherzähler seine frühere Geliebte: sie ist älter geworden, gewiss, aber sie hat den Reiz der Reife und eines eigenen Lebens, das nach abenteuerlichem Beginn in den Fängen guter Bürgerlichkeit endete. Sie ist Ärztin, hat sich aber der Politik zugewandt und ist gar Bürgermeisterin in einem kleinen Kaff geworden. Ihr anfangs ebenso abenteuerlicher Ehemann hat sich im Alltag einer hausärztlichen Allgemeinpraxis eingerichtet. Vergangen sind die Träume von Hilfen für die dritte Welt und einer allgemeinen Weltverbesserungsvorstellung.

Was macht diesen Roman so eindrucksvoll?

Es ist sind die vielfältigen Gedanken und die Abwägung eines Für oder Wider, mit denen Navid Kermani die Welt und die Liebe zu verstehen trachtet. Das ist die große Stärke des Autors: er beleuchtet Menschen, Ereignisse, gesellschaftliche Phänomene und religiöse Widersprüche immer aus einer Innen-und Außensicht.

So kann er wertfreier zu Eindrücken kommen als es herkömmlich der Fall ist. Auch die Liebe lebt von ihren inneren Widersprüchen, und sie dauert niemals ewig, so wenig wie das Leben, das Werden und Vergehen.

Das Buch beinhaltet gedankenschere Eindrücke davon, wie die Liebe sich im Laufe eines langen Lebens zu zweit verändert, und wie man die eheliche Beziehung über so lange Zeit lebendig erhalten könnte.

Insofern handelt es sich bei Navid Kermanis Roman neben dem alltäglichen Liebesgeplänkel um gewissermaßen philosophische Abhandlungen. Seine Sprache ist differenziert und prägnant. Man möchte bei jedem Satz verharren, um den tieferen Gehalt seiner Aussagen zu behalten. Anhand eines Songs von Neil Young geht ihm auf, in wie wenigen Worten man das Drama einer Ehe beschreiben kann. Und wieder weiß der Leser nicht so genau, ob es das Fazit von Juttas Ehe ist, das er hier heraufbeschwören will, oder ob er mit dem Lied eher zu allgemeingültigen Einschätzungen kommen will.

Ein endlos fortbestehendes Glück scheint es für Kermani und seine Romanfiguren nicht zu geben. Die nachdenklich stimmende Abhandlung mit philosophischen Einsichten macht das Buch zur anspruchsvoller Lektüre.

Navid Kermani

Sozusagen Paris
288 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, September 2016
ISBN-10: 3446252762
ISBN-13: 978-3446252769
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Matthias Brandt: Raumpatrouille

Matthias Brandt: Raumpatrouille

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Mit den vorliegenden Geschichten in seinem Buch „Raumpatrouille“ hat Matthias Brandt aus der Sicht eines kleinen Jungen seine Kindheit neu belebt: wie er die Welt sah, und wie er sich darin zurechtfand. Er ist in den siebziger Jahren in einem großen Haus in Bonn aufgewachsen.

Hier erzählt der Sohn vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt Episoden aus seinem Kinderleben.

Die Familie war ständig von Personenschützern umgeben. Natürlich kann der kleine Junge nicht so ganz ermessen, warum diese Umstände sein Leben bestimmen. Insgeheim beneidet er die anderen Jungs um ihre „normale“ Kindheit.

Er scheint mühelos durch seine Welt zu trudeln, die aus Spielen, seinem Hund Gabor und den mehr oder weniger geschätzten Wachleuten vor seinem Elternhaus, den Lehrern oder dem Postboten bestand. Ferner gab es da den komischen Nachbarn, der sich etwas seltsam aufführt, und es gibt das Vorsingen bei eben jenem Mann namens Heinrich Lübke.

Zwischendurch gelingt es dem Jungen immer wieder einmal, den Erwachsenen zu entwischen. Dann verlustiert er sich in den angrenzenden Wäldern oder Wiesen. Wie alle Kinder erfreut er sich an seinem Spielzeug und lässt seiner Fantasie beim Spielen freien Lauf. Zuweilen recht waghalsige Spielchen wie z.B. das Feuer in seinem Kinderzimmer werden ihm seitens der Erwachsenen nicht nachgetragen.

M. Brandt wollte nie auffallen. Er versteckte sich in der hintersten Reihe der Klasse, wenn es um öffentliche Vorführungen ging. Alles in Allem ist er ein ganz normaler Junge, der keine Extrawünsche für sich beanspruchte.

Naiv und bestrickend sind die Schilderungen, wie er bei seinem Freund Holger übernachtet und das spießige Bürgerleben als das Größte überhaupt betrachtet. Der Blick in die siebziger Jahre mit dem Mief der bürgerlichen Anständigkeit und dem bescheidenen Wohlstand sind von historischer Relevanz!

Der Autor ist hautnah in die Tage seiner Kindheit geschlüpft und eröffnet den Blick in eine kindliche Welt, die so, wie sie war, für ihn in Ordnung war. Humorvolle Passagen über seine Beobachtungen der Erwachsenenwelt lassen auf einen wirklich souveränen kleinen Kerl schließen!

Die Mischung aus Poesie, Fantasie, stiller Beobachtung und ganz authentischem Erlebnisbericht macht das Buch so attraktiv für den Leser. Hier rechnet niemand mit seiner Kindheit ab oder beklagt sich über entgangene Kindheitsfreuden. Im Gegenteil: dieser Junge hat eine liebevolle Mutter und einen fernen Vater, den er kaum vermisst. Er hat einen wachen Geist und zeigt ganz freimütig Gefühle der Furcht oder der Freude.

Das bescheidene und freundliche Kind hat einen Weg gefunden, in dem er seine ganz eigene Karriere zum Erfolg brachte: er wurde ein angesehener Schauspieler.

Matthias Brandt hat mit seinem Debüt über Episoden aus seiner Kindheit ein poetisches kleines Werk geschaffen, das erfreulich und genussvoll zu lesen ist.

Matthias Brandt
Raumpatouille
176 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, September 2016
ISBN-10: 3462045679
ISBN-13: 978-3462045673
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Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit

Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit

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Das Leben eines freiheitlich gesinnten Geistes in düsterer Zeit…

Can Dündar gehört zu einem unter vielen aufgeklärten und anerkannten Journalisten in der Türkei. Er war Chefredakteur der bekannten türkischen Zeitung Cumhuriyet und wurde zum Sprachrohr der „prowestlichen, demokratischen und säkularen Freiheitsbewegung seines Landes“, wie es auf dem Klappentext heißt.

Als er sich mit dem türkischen Geheimdienst schon unter der Ägide Erdogans anlegte, war es, als stäche er in ein Wespennest. Er hatte Waffenlieferungen des MIT (türkischer Geheimdienst) an Syrien aufgedeckt und publik gemacht.

Täglich gab es in der Türkei ab Beginn des Jahres 2015 Verfolgungen, Verhaftungen und Verdächtigungen gegen liberale Intellektuelle und Journalisten.

Jeder weiß, wohin das bis heute führte.

Im November 2015 wurde Can Dündar unter dem Verdacht der Spionage (Weitergabe von Geheimdienstangelegenheiten) in Untersuchungshaft genommen. In einer Art Tagebuch beschreibt er seine Beobachtungen und Erfahrungen mit dem zunehmend despotischen Regime unter Erdogan.

Erst mit dem Putschversuch am 15. Juli 2016, der glücklicherweise niedergeschlagen wurde, verschlechterte sich die Lage in der Türkei gegen jegliche Art von demokratischen Reformen oder Regungen.

Dündar drohte erneut eine lange Haftstrafe, und er trat die Flucht ins Ausland an.

Die Geschichte und politische Entwicklung in der Türkei ist verworren und für einen Außenstehenden schwer zu durchschauen. Insofern bietet Dündars Bericht eine Innenansicht über das, was in der Türkei momentan geschieht.

In seinem vorliegenden Buch beschreibt er sein Leben vor und während der Haft von November 2015 bis Ende Februar 2016.

Der Bericht ist detailreich, informativ und sehr menschlich in der Offenheit der Mitteilungen.

Zahlreiche Freunde, Kollegen und Bürger haben ihn beständig unterstützt und öffentlich gegen seine Inhaftierung protestiert. Ganz nebenbei erfährt man von seiner glücklichen Familie, seiner Frau Dilek und dem Sohn Ege, die ihm emotional tief verbunden sind.

Mit dem hier vorliegenden Bericht erfährt man zahlreiche Einzelheiten über den Alltag im Gefängnis Silivri. Hier sitzen vorwiegend gebildete und intellektuelle Persönlichkeiten ein, deren Ausstrahlung und Kraft eine stete Bedrohung für die Machthaber zu verkörpern scheinen.

Mit Einfallsreichtum und geistiger Potenz versucht Dündar, die Isolierzelle zu ertragen. Es kommen ihm immer neue Einfälle, sei es aus der Literatur, sei es aus Gedanken und Spielen, die ihn die harte Haft durchstehen lassen. Er ist trotz aller Unbilden voller Zuversicht und Hoffnung, dass er bald entlassen wird. Durch die schwere Zeit wird er getragen von der Zustimmung einer breiten Öffentlichkeit, vieler guter Kollegen, Freunde und immer wieder auch von Frau und Sohn. Teilweise sind seine Betrachtungen von feinfühliger, liebevoller und poetischer Kraft.

Hier ist ein warmherziger, freiheitlich gesinnter und liberaler Geist aus seinem Heimatland vertrieben worden, an dem er hängt, und für das er noch viel Gutes im Sinne von kultureller Prägung für eine freiheitliche Gesellschaft hätte beitragen können. Hoffen wir, dass die Verhältnisse in der Türkei eines Tages die Menge der liberalen und gebildeten Freigeister zurückkehren und zum guten Leben in der Türkei beitragen lassen werden! Als Appel dazu kann man das Buch von Can Dündar nur begrüßen.

Can Dündar
Lebenslang für die Wahrheit
304 Seiten, gebunden
HOFFMANN UND CAMPE, September 2016
ISBN-10: 3455504248
ISBN-13: 978-3455504248
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Alex Capus: Das Leben ist gut

Alex Capus: Das Leben ist gut

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Eine Liebesgeschichte mit Zwischentönen…

Alex Capus hat einmal wieder eine sehr schöne Liebegeschichte zu erzählen.

Max und Tina sind glücklich verheiratet und haben drei wohl geratene Söhne.

Tina bekommt den Ruf für eine Gastprofessur in Paris, und Max ist eigentlich Schriftsteller.

Die beiden verabschieden sich herzlich. Sie sind sich offensichtlich auch nach 25 Jahren Ehe noch sehr zu getan.

Zum Vergnügen und Zeitvertreib aber führt Max eine Bar, in die auch alle seine früheren Kumpels und Freunde zuweilen einkehren.

Die Geschichte ergeht sich in Schilderungen seines Alltagslebens, seiner Muße und den Beschreibungen seiner diversen Freunde mit ihren Eigenheiten, die sich auch schon seit Jahren kennen.

Der Ton der Geschichte ist freundlich, ausgeglichen und genügsam.

Seine Ehe mit Tina bleibt im unsichtbaren Bereich. Man spürt nur, wie sie an einander hängen, sich nach einander sehnen und sich doch gegenseitig ihre Freiheit in ihrem beruflichen Tun lassen.

Man lernt mit Max einen zufriedenen und liebevollen Menschen kennen. Er ist seinen Freunden gewogen. Gelegentliche Kuriositäten seiner Mitbürger werden mit Humor beschrieben. sEs gibt keine außergewöhnlichen Aufregungen oder Ereignisse.

Fast könnte man meinen, dass es hier ein wenig langweilig zugeht. Dem ist aber nicht so, denn die Feinheiten liegen im Detail. Wenn etwa Miguel in Geldnöten von einer frühen Begegnung mit einem Torero berichtet, dessen Stierkopftrophäe er für eine immense Summe gekauft haben will, um sie jetzt an den Mann, sprich den Freund Max, zu bringen.

Ein anderer Schulfreund, Jules Weber, machte Bankrott und lebte ein einsames Leben, das wohl zuletzt im Trunk endete.

So spült die Erzählung nach und nach den einen oder anderen Freund in den Fokus.

Keine Konflikte oder schwierige Lebensgeschichten führen hier Regie, sondern das einfache und zufriedene Leben.

Ein wenig Aufregung hätten wohl mehr Spannung erzeugt, denn auch davon versteht der Schriftsteller durchaus etwas, wie er in seinem Roman „Leon und Luise“ bewiesen hat.

Die Ruhe aber tut dem Leser gut, und er begnüge sich dieses Mal damit.

Alex Capus
Das Leben ist gut
240 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, August 2016
ISBN-10: 3446252673
ISBN-13: 978-3446252677
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Axel Hacke: Die Tage, die ich mit Gott verbrachte

Axel Hacke: Die Tage, die ich mit Gott verbrachte

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Eine skurrile kleine Geschichte hat uns Axel Hacke zu diesem Herbst beschert.

Ein Mann fährt heim und betrachtet sich im nachtdunklen Bahnfenster. Es amüsiert ihn, und er spielt mit dem Widerschein seines Porträts, bis es plötzlich verschwindet, und er direkt mit der Bahn vor seinem Haus ankommt.

Nach diesem kurzen Einführungsbild kann man sich schon vorstellen, dass einen in dieser Geschichte noch allerlei Sonderbarkeiten erwarten werden.

So begleitet ein Büroelefant unseren Helden auf seinen kurzen Mittagsausflügen!

Auf einer Parkbank begegnet ihm ein „Herr“ (was für ein altmodischer Ausdruck!) im grauen Mantel. Er spricht ihn an, und die beiden Männer kommen in ein intensives Gespräch.

Schließlich redet unser Held den Herrn, der ihn von Beginn an duzt, mit Gott an, und um existenzielle Fragen des Menschseins dreht sich am Ende die ganze Geschichte: warum wir auf der Welt sind, was wir hier tun, wie es nach unserem Vergehen aussehen wird; wozu die Tiere da sind, und was die Unendlichkeit bedeutet. Gott hat auf zahlreiche Fragen eine Antwort, doch berichtet er freimütig, dass ihm so manches nicht gelungen ist. Die Notwendigkeit der Widersprüchlichkeit einzelner Fragen ist verständlich. Schönheit ist nur sichtbar durch das Gegenteil: Trauer und Glück bedingen einander, Hell und Dunkel sind Antipoden und Sonne und Mond machen das Universum erst lebendig.

Das Gespräch wird immer philosophischer. Mit den bunten und ansprechenden Bildern des Illustrators Michael Sowa wird die Geschichte sehr plastisch visualisiert.

Kurzweilig führt uns Axel Hacke mit seiner lebhaften Phantasie durch eine Gedankenwelt, die uns amüsiert und zum Nachdenken anregt.

Die Geschichte ist kein Märchen, sondern pendelt zwischen Realität und Fantasie. Sie ist in ihren Fragestellungen ernst und naiv zugleich. Es geht um Erklärungen und um Erkenntnis, es dreht sich um die Schönheit der Natur, ihre Wunder und immer wieder die Vergänglichkeit. Aber auch die Einsamkeit Gottes, seine Bitte um Vergebung für begangene Fehlplanungen und Versöhnung symbolisieren Teile unseres Menschseins.

So wie die Geschichte beginnt, so endet sie auch. Schlicht, absurd aber friedlich. Der Mann kehrt zu seiner Familie zurück, und die Kinder bitten um weitere Geschichten!

Selten liegen Ernst und Komik so nahe beieinander.

Axel Hacke lebt in München und ist Schriftsteller und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung.

Michael Sowa ist Maler und lebt in Berlin.

Axel Hacke

Die Tage, die ich mit Gott verbrachte
112 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann, September 2016
ISBN-10: 3956141180
ISBN-13: 978-3956141188
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Helen Garner: Drei Söhne

Helen Garner: Drei Söhne

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Mörderische Tat oder Unfall: das ist hier die Frage.

Helen Garner hat drei Jahre lang einen Mordprozess gegen einen Vater dreier kleiner Söhne begleitet. Robert Farquharson soll aus Rache an seiner Frau, die ihn verlassen hat, eines Tages die kleinen Söhne im Alter von zehn, sieben und zwei Jahren mit seinem Auto in einen Baggersee gefahren habe. So lautet die Anklage. Er selbst konnte sich retten, seine Söhne aber sind im untergangenen Wagen ertrunken. War es ein Unfall, wie er sagt, oder steckte eine mörderische Absicht hinter der Tat?
Die Kleinstadt Geelong in Victoria/ Australien ist Ort des Geschehens.

Spannend und detailreich ist die Reportage über einen Mordprozess, der Jahre lang die australische Öffentlichkeit bewegte.

In aller Ausführlichkeit werden die Lebenswege der betroffenen Personen geschildert.

Roberts Frau Cindy Gambino kennt ihren Mann nur als liebenden Vater. Doch ihre Ehe endete, als sich Robert als Versager entpuppte, dem vieles immer wieder mißlang. Berufsweg und Hausbau endeten jeweils im Desaster. Robert ist beständig kränklich und leidet vor allem an einem quälenden Husten, der fast zu Erstickungsanfällen führt. So hat er in der Tatnacht auch von einem Hustenanfall mit Ohnmacht berichtet, der den Wagen willenlos in den Baggersee abdriften ließ.

In einem langen Indizienprozess wird versucht, Licht in das Dunkel um diesen Unfall oder Mord zu bringen.

Zahlreiche Zeugen treten auf. Alle Personen werden in ihrem Bezug zu Robert präsentiert.

Der schwächliche Charakter von Robert beherrscht die Scene. Freunde wenden sich von ihm ab, und Anklage und Verteidigung haben einen schweren Stand, Licht in das Dunkel um die Tatnacht zu bringen.

Die Beobachterin Helen Garner spricht in der Ichform. Sie ist in Begleitung der jugendlichen Tochter einer Freundin, mit der sie ihre Eindrücke teilt.

Minutiös beobachtet sie Verhalten, Mimik und Gebaren der auftretenden Figuren und deren Umfeld.

Das Panorama der Einblicke in die Charaktere der agierenden Mitwirkenden, Richter, Anwälte, Ankläger, Freunde, Verwandte und Zeugen lässt tief blicken.

Das Buch beinhaltet die lange Beweisaufnahme und das Verfahren in einem außergewöhnlichen Mordprozess. Der interessierte Leser kann sich ein Bild machen, wie es bei Gerichtsverfahren zugeht. Dass der Autorin dabei eine außerordentliche Milieuschilderung gepaart mit psychologischem Feingefühl und Weitblick gelungen ist, muss man ihr zugestehen. Für den Leser ist die Vielzahl der Zeugen, Polizeikommissare, Verwandten und Freunde eher ein wenig ermüdend.

Das Buch ist für jene Leser von höchstem Interesse, die sich für Prozessverfahren und für die Umstände von Ermittlungen, Beweisaufnahmen, Gutachteraussagen, Verhaltensweisen der Geschworenen und für die relevanten Aussagen zur Urteilsfindung interessieren.

Im Gesamtbild des Prozessverlaufs sind H. Garners Beobachtungen durchaus von literarischer Qualität.

Helen Garner lebt in Australien und ist als Sachbuchautorin und für ihre Kurzgeschichten vielfach ausgezeichnet.

Helen Garner
Drei Söhne
352 Seiten, gebunden
Berlin Verlag, September 2016
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3827012694
ISBN-13: 978-3827012692
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Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

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Lebensphilosophie und weise Erkenntnisse…

Elizabeth Strout hat die unnachahmliche Gabe, uns die Figuren ihrer Romane in ihren Gefühlen, Gedanken und Befindlichkeit nahezubringen.

So geschieht es auch in ihrem neuen Roman über die Unvollkommenheit der Liebe.

Die Schriftstellerin Lucy Barton lag vor Jahren nach einer eigentlich unkomplizierten Blinddarmoperation im Krankenhaus. Es ging ihr lange nicht gut. Da sah sie im Halbschlaf plötzlich ihre Mutter an ihrem Krankenbett sitzen. Sie hatten sich schon 9 Jahre lang nicht mehr gesehen.

Spontan entwickelt sich ein Dialog zwischen den beiden Frauen, der viele Aspekte ihres bisherigen Lebens umfasst.

Die feinen Nuancen, mit denen über die Kindheit von Lucy nachgedacht wird, sind ebenso reizvoll, wie die Erinnerungen der Mutter, mit denen sie zum Bild der Familiengeschichte beiträgt.

Arm waren sie alle, und die Eltern hatten jeweils wenig Verständnis für die Nöte ihrer Kinder. Lucy hatte noch zwei ältere Geschwister, so dass sie so manches Mal sich selber überlassen blieb, wenn diese schon in der Schule waren.

Sie lebten in einem kleinen Kaff in Illinois und waren so arm, dass Lucy ihren Bruder dabei begleitet hat, wenn er in Mülltonnen nach Essbarem suchte.

Kann man sich diese Armut vorstellen?

Doch Lucy geht einen sehr eigenen Weg: sie will Schriftstellerin werden!

Immer wieder sind ihr im Leben Menschen über den Weg gelaufen, die ihr Wärme und Zuneigung entgegenbrachten, sie wertschätzten und sie ermutigt haben: angefangen von einem Lehrer, der ihre Schulklasse abkanzelt, weil die Mitschüler Lucy gedemütigt haben, bis zu dem Psychoanalytiker Jeremy, ihrem Nachbarn in New York, der ihr unaufdringlich und unausgesprochen signalisiert, dass er ihre Einsamkeit versteht. Erfahrungen ähnlicher Art sind zahlreich.

Jetzt ist sie erwachsen und hat einen Mann und zwei Töchter, denen sie mit großer Liebe anhängt. Ihre Mutter bemerkt es mit Erstaunen.

Es ist die subtile Beobachtungsgabe von E. Strout, die ihre Lektüre zu einem Erlebnis macht. Sie weiß Lebenserfahrung mit dem ganz alltäglichen Einerlei in Einklang zu bringen. Nichts von dem, was sie erzählt, wirkt aufgesetzt oder gar aufdringlich. Ihre Sprache ist einfach strukturiert und verständlich. Sie zeugt jedoch von tiefem Verständnis und Mitgefühl in der selbstverständlichen Akzeptanz für die unerklärlichen Wege des Menschen. Es ist eine herzerwärmende Geschichte mit zahlreichen tiefschürfenden Lebenseinsichten, die wie ganz nebenbei in den Text einfließen. Es ist erstaunlich, mit welcher Kraft, Liebe, Selbsteinsicht und Versöhnlichkeit Elizabeth Strout ihre Protagonistin zu Wort kommen lässt.

Man möchte diese Geschichte jedem nachdenklichen Leser ans Herz legen, der sich für die Zusammenhänge menschlichen Seins interessiert.

Ich wollte jeden Satz in Gedanken festhalten, um so lange wie möglich bei diesem Roman verweilen zu können.

Elizabeth Strout ist eine herausragende Erzählerin, deren Romane mit zunehmender Lebenserfahrung an Substanz noch gewinnen. Sie lebt in Maine und in New York und ist Pulitzerpreisträgerin.

Elizabeth Strout
Die Unvollkommenheit der Liebe
208 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, August 2016
ISBN-10: 3630875092
ISBN-13: 978-3630875095
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Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer

Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer

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Eine ausweglose Liebe…

New York zu Beginn des 21.Jahrhunderts.

Durch Zufall begegnen sich in dieser Stadt Liat aus Israel und der Maler Chilmi aus Palästina.

Ungewöhnlich der Zufall und ungewöhnlich die heiße Liebe, die spontan zwischen den beiden entbrennt.

Wie konnte das passieren?

Nun, Künstler und Studierende aus aller Welt wohnen in New York, in dem man internationale Kontakte pflegt. NY ist eine Weltstadt mit einnehmendem Flair. Locker, leicht und kontaktfreudig begegnen sich hier Fremde, die schnell zu Freunden werden. So ergeht es auch Liat und Chilmi. In ihren Gesprächen klingt früh an, wie unterschiedlich es sich in Israel und Palästina lebt. Liat schwärmt vom Meer, das Chilmi nur aus sehr wenigen Besuchen im Gazastreifen kennt. Palästina grenzt sonst nirgends ans Meer. Der Satz von Chilmi „Eines Tages wird das Meer uns allen gehören“ lässt Hoffnung aufklingen. Doch noch wissen beide, dass ihre Beziehung niemals von den jeweiligen Familien des anderen akzeptiert würde.

Dorit Rabinyan erzählt eine Geschichte, die voller Liebe und Wärme steckt. Sie fängt die Atmosphäre zu Beginn einer tiefen Liebe in Herz erwärmender und anrührender Weise ein. Gekonnt flicht sie den Palästina-Israelkonflikt in die Geschichte ein. Fern des Landes Israel/ Palästina, in dem die Spannungen nie ein Ende zu nehmen scheinen, zeigt sie zwei Menschen, die, befreit von der Konfliktträchtigkeit ihrer unterschiedlichen Herkunft als Araber und Israelin, gelöst und unbefangen sein können, wie sie es zu Hause nie wären. Enthält die Geschichte einen tieferen Sinn? Sind es die Grenzen politischer und religiöser Gegensätze, die Menschen zu Feinden machen, die sie in einer freien Umgebung niemals empfinden würden?

Man kennt das aus dem West-Eastern Divan Orchestra von Daniel Barenboim, der junge Menschen aus verfeindeten Staaten vorübergehend zum Muszieren zusammenbringt, und man weiß aus den Balkankriegen, wie durch Gebietsansprüche oder gegensätzliche Religionen aus Freunden und Nachbarn Feinde wurden.

Diesen Kontrast eingefangen zu haben, ist Dorit Rabinyan hervorragend gelungen.

Die sehr individuelle Liebesgeschichte eignet sich gut, einem das Konfliktpotenzial nahezubringen, in denen Länder und Menschen verfangen sind. Eine menschliche Tragödie nimmt hier Gestalt und Form an. Da sich die Erzählung anregend liest und überschaubar bleibt, ist es ein lehrreiches Stück Geschichte, das uns vor Augen führt, wie unendlich verfeindet und in kriegerischen Verstrickungen Menschen aus zahlreichen Ländern in dieser Welt leben müssen.

Der Roman ist anspruchsvoll und ernsthaft in seiner Ausführung. Beste Empfehlung!

Die Autorin ist die Tochter iranisch-jüdischer Eltern und lebt in Israel.

Dorit Rabinyan
Wir sehen uns am Meer
384 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, August 2016
ISBN-10: 3462048619
ISBN-13: 978-3462048612
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Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen

Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen

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Tim Parks ist ein sensibler, feinsinniger Autor, dessen Bücher mich immer sehr angesprochen haben.

Hier unternimmt der Autor u.a. den Versuch, einmal über die Beweggründe nachzudenken, die uns zum leidenschaftlichen Leser machen.

Seine Abhandlungen sind in einem verständlichen und ansprechenden Duktus geschrieben.

So führt er aus, wie weit unsere Herkunft, unsere Interessen, unsere Lebensphasen und unsere Erfahrungen über die Vorlieben für bestimmte Bücher bestimmen. Für Tim Parks gibt es in diesem Sinn nicht das „gute“ Buch.

Selber aus einem frommen Pastorenhaushalt stammend gab es in seiner Kindheit „gute“ und „böse“ Bücher. Er wurde in ein System gezwungen, das der moralischen und ethischen Vorstellungswelt seiner Eltern nicht aber der seinen entsprach.

Er begann früh, sich aus diesem System abzusetzen und seinen eigenen Weg in der Auswahl seiner Lektüre zu treffen.

In seinen Ausführungen spricht er von der inneren Verfasstheit des Lesers, die ihn zu diesem oder jenem Zeitpunkt seine Bücher wählen ließ. Rezensionen sind nach seiner Vorstellung immer subjektiv und haben keinen Absolutheitsanspruch. Aus seiner Sicht gesehen haben wir alle das Recht, uns die Bücher zu wählen, die unserem inneren Wesen entsprechen und uns nicht vom allgemeinen Mainstream einfangen zu lassen. Immer einmal wieder heißt es, man müsse dieses oder jenes Werk gelesen haben, um überhaupt mitreden zu dürfen. Das aber stimmt so nicht!

In Literaturforen von einiger Offenheit erlebt man Fraktionen, die für das eine oder andere Buch in die Bresche springen, andere, die das gleiche Buch ablehnen. Interessant sind die Foren für alle jene, die gerne andere Meinungen hören durch die man Aspekte in der Handlung kennen lernt, die man selber vielleicht noch nicht entdeckt hat. Kontroversen gibt es auch in den so genannten Literaturclubs im Fernsehen, bei denen sich die Diskutanten zuweilen regelrecht feindselig gegenüberstehen. Toleranz stünde den Teilnehmern dieser Sendungen besser an!

In einzelnen Kapiteln befasst sich Tim Parks z.B. mit der Vergabe der Literaturnobelpreise und der Unmöglichkeit, aus der Vielzahl der Bücher zu einer richtigen Wahl zu kommen.

Die Vorschläge für diesen Preis kommen ja aus einer Vielzahl von Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Er weist nach, dass niemand die Menge der Bücher lesen könne, aus denen eine gerechte Wahl zu treffen sein soll.

Dieses Buch über Bücher ist eingängig und leicht zu lesen. Man lernt den Literaturbetrieb auf verschiedenen Ebenen kennen: seien es Überlegungen, die Schriftsteller selber betreffen, die Bürokratie rund um das Buch oder die Vermarktung im Buchhandel, ihrer Verlage und ihrer Kalkulationen etc. Ein rundum lesenswertes Buch ist Tim Parks wieder einmal gelungen. Man könnte es als Sachbuch einordnen, doch dazu ist es zu handfest und lebensnah geschrieben.

Auf jeden Fall ist das Buch für den interessierten Leser rund um den Literaturbetrieb sehr empfehlenswert.

Tim Parks
Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen
240 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann, August 2016
ISBN-10: 395614130X
ISBN-13: 978-3956141300
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Sarah Benwell: Es.ISt.Nicht.Fair.

Sarah Benwell: Es.ISt.Nicht.Fair.

Dieses Buch direkt bei Amazon bestellen!Sarah Benwell hat sich in ihrem Debütroman, oder vielleicht sollte man besser „Bericht“ sagen, eines kritischen Themas angenommen: dem von Krankheit und drohendem Tod.

Abe Sora ist ein Junge von 17 Jahren. Er lebt mit seiner Mutter auf engstem Raum. Man spürt aber sehr bald, dass er Abstand und Distanz zu allen und jedem sucht.

Er ist krank. Die Krankheit ist tödlich, macht Angst und schreitet sehr schnell fort. Es handelt sich um die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose. Die tückische Krankheit führt unweigerlich zum Tode. Im täglichen Leben ist der Rollstuhl Soras steter Begleiter. Der Muskelschwund, an dem er leidet, macht ihm das Atmen und Sprechen schwer.

Wie viel Zeit wird ihm noch bleiben, um das im Leben zu tun, was er sich sehnlichst wünscht? Von seinen Träumen ist oft die Rede!

Von Beginn der Erzählung an ist man fasziniert und bewegt, wie Sora mit seinem Schicksal zurechtkommt. Man spürt seine Scheu, sich wem auch immer zu offenbaren. Er scheint wie in sich eingeschlossen. Die Therapiestunden bei Dr. Kobayashi sind ihm keine wirkliche Hilfe. Seine Schulfreunde begegnen ihm fremd und gehemmt. Sora kann das Mitleid und die Hilflosigkeit der anderen Menschen allenthalben wahrnehmen. Er hasst diese ihm entgegen schwappenden Gefühle!

So sucht und findet er, dem Segen des Internets sei Dank, zuerst einmal Menschen, die nicht so viel von ihm wissen, und mit denen er ohne deren Mitgefühl ungehemmt kommunizieren kann. Ganz offensichtlich sind die Protagonisten Japaner. Er nennt sich bezeichnender Weise im Internet „Samurai“.

Benwell lässt den Verlauf der Handlung vor unserem inneren Auge erstehen: die langsame Verschlechterung im Befinden des kranken Jungen; die ambivalenten Gefühle eines 17 Jährigen, der seiner Mutter nicht zur Last fallen will, und die innere Scham, auf ihre Hilfe auch in den intimsten Handlungen angewiesen zu sein. Im Internet findet er Freunde, zu denen er Vertrauen fasst. Die Freundschaften sind in ihrer Absolutheit und Treue bemerkenswert. Sie bilden den roten Faden, durch den die Handlung ihre Spannung und Intensität bezieht. Hier wagt Sora allmählich, rückhaltlos über seine Ziele und Wünsche zu sprechen.

Die Wahl des Internets als geschützter Raum wird geschickt eingesetzt, um zu zeigen, wie man hier seine wahre Identität eine Zeit lang für sich behalten kann.

Es gelingt der Autorin, dem Spagat zwischen Erleben und den unausgesprochenen Wünschen Sprache und Raum zu geben

Eine rundherum gelungene Handlung ohne Sentimentalität und Schwülstigkeit ist Sarah Benwell mit ihrem Debüt gelungen. Die Handlung ist ernst und wird gleichzeitig von einer inneren Selbstironie und Distanz getragen.

Sarah Benwell lebt in Bradford Upon Avon und lehrt kreatives Schreiben.

Sarah Benwell
Es. Ist. Nicht. Fair.
352 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Juli 2016
ISBN-10: 3446252967
ISBN-13: 978-3446252967
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