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Autor: Claudine Borries

Marcello Fois: Schwestern

Marcello Fois: Schwestern

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Geschwisterliebe…

Marcello Fois erzählt die Geschichte zweier Schwestern. Alessandra und Marinella begegnen sich nach dem Tod des Vaters in dessen Wohnung. Vierzig Jahre sind vergangen, seit der Vater sie verlassen hat. Doch nicht nur seine Abwesenheit bereitet hier den Boden für eine hintergründige Geschichte. Die Schwestern, Zwillinge zudem, sind von einer tiefen Abneigung gegeneinander erfüllt. Man ahnt nur mehr, als dass man es weiß, dass sie sehr unterschiedliche Leben führen. Im tiefsten Grunde sind sie einander Feind und voller Groll auf die jeweils andere.

In einer Art Kammerspiel umschleichen sie einander mit Worten. Argwohn paart sich mit Wut, Neugier mit unverhohlenem Zorn. Schließlich taucht auch noch eine Nachbarin auf, die ihre Hilfe – oder ist auch das wieder nur Neugierde? – anbietet.

Die Mädchen verbleiben in einer gleichbleibenden Missgunst. Man kann sich nicht vorstellen, dass diese beiden Frauen je zusammenfinden werden. Anschuldigungen und Erinnerungen an frühe Kinderjahre haben zur Folge, dass immer eine vorsichtige Abneigung über allem liegt.

Die ganze Erzählung hindurch gibt es diese quälenden Andeutungen und Verdächtigungen, es schlechter gehabt zu haben als die andere. Der Vater hat die Familie verlassen, als die Mädchen 8 Jahre alt waren. Ist er die Ursache für die Missgunst zwischen den Schwestern? Hat er eine mehr geliebt als die andere?

Alles in allem löst sich der Knoten nicht: beide Schwestern verlassen einander nach diesem Nachmittag in der Wohnung des verstorbenen Vaters und tauchen in ihr jeweiliges eigenes Leben ein, von dem man sehr wenig erfahren hat.

Geschwisterlicher Neid und Hass scheinen die Grundlage dieser Beziehung zu sein. Im Untertitel heißt es: die alte Geschichte. Und ja: so ist es wohl häufiger als man denkt, dass Geschwister in alten Beziehungsmustern verharren. Klärende Gespräche bringen nichts, weil die Fronten verhärtet und unauflöslich bleiben.

Eine gelungen Sozialstudie ist dem Autor Marcello Fois hier gelungen. Es wird nur gehandelt und gesprochen, nicht aber analysiert. Schlüsse muss der Leser für sich alleine ziehen. Der Autor bedient sich zwischen den Gesprächen der beiden Frauen einer poetischen und sanften Sprache. Zuletzt siegt die Vergänglichkeit, die über allen Geschehnissen in Vergangenheit und Zukunft liegt.

Marcello Fois ist ein sardischer Schriftsteller, der heute in Bologna lebt. Er hat sich vor allem als Kriminalbuchautor hervorgetan.

Marcello Fois
Schwestern
144 Seiten, gebunden
Wagenbach, K; August 2015
ISBN-10: 3803113121
ISBN-13: 978-3803113122
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Alain Claude Sulzer: Postskriptum

Alain Claude Sulzer: Postskriptum

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Größe und Niedergang eines angesehenen Künstlers…

Das Waldhaus in Sils-Maria in der Schweiz ist ein Ort der Sehnsüchte, des Wohlbefindens und der Ruhe. Hier gehen seit eh und je die Großen des Showgeschäftes, der Kunst und der Literatur ein und aus.

Zu seinen Gästen gehörten in der Vergangenheit Friedrich Nietzsche, Theodor W. Adorno, Thomas Mann und Friedrich Dürrenmatt, um nur einige wenige zu nennen.

Hier spielt der neue Roman von Alain Claude Sulzer.

Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts kehrte der Schauspieler Lionel Kupfer aus Berlin in das Hotel ein, nicht ahnend, dass es mit seiner Karriere unter dem Naziregime Hitlers als Jude zu Ende sein könnte.

Fein gesponnen taucht man in die Atmosphäre dieses legendären Ortes ein. Für Kupfer schwärmen mehr Männer als Frauen. So auch der kleine Postbeamte Walter, der sich als Gast in das Hotel einschleicht, um einen Blick auf den geliebten Künstler zu erhaschen. In Berlin hingegen lebt Lionels Liebhaber, der Kunsthändler Eduard, der ihm im neuen Glanz als Nazi mit Hochmut begegnet.

Lionel Kupfer musste schließlich emigrieren und hat in New York kümmerlich überlebt. Nach dem Krieg hat ihm Visconti noch einmal eine Position für eine kleine Nebenrolle angeboten. Doch die Stelle wurde weggeschnitten.

Man folgt den Spuren Walters und Edouards, des trickreichen Kunsthändlers, mit anhaltendem Interesse. Unter der Naziherrschaft ließen sich mit den Juden und ihren Kunstsammlungen treffliche Geschäfte machen. Am Ende aber ereilt jeden/ jede das ihm zugedachte Schicksal. Lionel Kupfer, der Jude, der aus Österreich stammt, bleibt im fernen Amerika, wo er mehr schlecht als recht überlebt.

Im „Postskriptum“ von 1963 hört man dann von späten Erfolgen des Schauspielers, die ihm noch einmal ein Durchstarten ermöglichen.

Alain Claude Sulzer hat einen melancholischen Roman geschrieben, so wie alle seine Romane von einer leichten Melancholie geprägt sind. Man folgt den Geschichten und ihren spannenden Wendungen mit anhaltender Aufmerksamkeit. Das Nazireich mit seinen Bedrohungen und Österreich mit seinem Charme im Begleitstrom der nationalsozialistischen politischen Richtung umrahmen die Erzählung. Alles klingt wie aus dem richtigen Leben, und Sulzer hat die wirren politischen Zeiten mit ihrer Dramatik konsequent eingefangen. Die erkennbaren homoerotischen Szenen wirken stark und bieten Einblicke auch in die moralischen Aspekte einer Zeit, in der Homosexualität strafbar und verboten waren. Jeder konnte zu jeder Zeit auffliegen, und dann drohte Ungemach.

Der Roman ist schlüssig und sehr lebensnah konzipiert. Es lohnt sich, ihn zu lesen.

A.C. Sulzer ist ein blendender Erzähler, dessen Werke vielfach preisgekrönt wurden.

Alain Claude Sulzer
Postskriptum
256 Seiten, gebundn
Galiani-Berlin, August 2015
ISBN-10: 3869711159
ISBN-13: 978-3869711157
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Pierre Bost: Bankrott

Pierre Bost: Bankrott

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Eine ungewöhnliche Charakterstudie.

Wieder einmal ist es dem Dörlemann Verlag gelungen, ein Werk aus der Vergessenheit zu holen. Pierre Bost, 1901-1975, hat seinen Roman „Bankrott“ in den dreißiger Jahren veröffentlicht.

Seine Romanfiguren kranken häufig am Leben und finden nicht den richtigen Weg. So ergeht es auch dem Helden des nun vorliegenden Romans “Bankrott“.

Brugnon hatte eine unbeschwerte Jugend, geliebt von der Mutter und auf vorgezeichnete Bahnen seines Vaters setzend. Dieser war ein reicher Zuckerfabrikant. Kurz nach dem Ende seines Studiums wurde Brugnon Sekretär des Vaters. Etwas anderes war für ihn nicht vorstellbar. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters übernahm Brugnon die Firma und strebte ein einfaches Leben an. Er ging früh zur Arbeit, ruhte zur Mittagszeit ein Stündchen, um sich danach wieder der Arbeit zu widmen. Alles in allem ist er ein furchtbar langweiliger Mensch.

Wie Pierre Brost dieses Leben in seiner Schilderung umsetzt, zeugt von einer subtilen Beobachtungsgabe. Hier beginnt einer, um Anerkennung und Selbständigkeit zu ringen und ist doch recht eigentlich nie richtig erwachsen geworden. Wenngleich im Laufe der Erzählung schon 45 Jahre alt, wirkt er wie ein alter, müder Mann, der sich den Freuden des Lebens kaum hingeben kann. Er ist dem Spott eines Provinzredakteurs ausgesetzt, der ihn in tiefe Selbstzweifel stürzt.

Man sieht einen Menschen, der sich von Pflichtversessenheit beseelt in den streng diktierten eigenen Vorsätzen verheddert, verwegene Pläne zur Erweiterung seiner Firma schmiedet und auf ein unausweichliches Scheitern zusteuert. Zwischen zwei Frauen schwankend kann er sich auch hier nicht zu einer Entscheidung durchringen. Die treue Simone will er nicht, und die flatterhafte Florence bekommt er nicht. So bleibt er ein getriebener und unsteter Mensch, der fahrlässig seinem finanziellen und psychischen Ruin entgegen steuert. Seine Mitarbeiter sind scheu um ihn versammelt; doch auch sie können ihm nicht helfen. Die selbstzerstörende Gewalt ist erschreckend.

Pierre Bost nimmt die Zeichen seiner Zeit auf, denn überall schlingert die Nachkriegszeit in den zwanziger Jahren einer unausweichlichen Katastrophe entgegen. Brugnon wird zum Prototyp des Hasardeurs. Eine traurige Gestalt, die dem Leben nicht gewachsen ist.

Feine Beobachtungen der Menschen wechseln mit Bürostimmungen und Landschaftsbeschreibungen, die in ihrer stimmigen Genauigkeit faszinieren.

Es lohnt sich, Pierre Bost als herausragenden Schriftsteller seiner Zeit wieder zu entdecken.

Pierre Bost
Bankrott
260 Seiten, gebunden
Dörlemann, August 2015
ISBN-10: 3038200182
ISBN-13: 978-3038200185
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Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe

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Verstrahltes Dorf – und was nun?

Tschernobyl ist der Ort des Schreckens, an dem diese Erzählung ihren Platz hat. Das Atomkraftwerk in Tschernobyl war 1986 außer Kontrolle geraten, und die ganze Gegend, Fauna und Flora mit allen Lebenden war von der Verstrahlung durch Radioaktivität betroffen.

Jeder weiß, wie dramatisch die Gefahr für die Menschen dort und auch in weiter Ferne noch war, durch radioaktive Strahlen vergiftet zu werden. Baba Dunja ist nach einiger Zeit in das Dorf, das ihr Heimat bedeutet, zurückgekehrt. Ihre Kinder sind erwachsen und weit fort. Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig, wenn ihre Tochter auch nicht einverstanden ist, dass sie sich in diese Gefahrenzone begibt.

In knappen Worten und mit einem naiven Blick erzählt Alina Bronsky vom Leben in dem fast toten Dorf. Man bekommt einen lebhaften Eindruck davon, wie es sich ohne eine geordnete Verwaltung und damit einem gesicherten Leben dort wohnen lässt. Elektrizität, Wasser und Nahrungsmittel gibt es nur begrenzt. Die Heizung im Winter bleibt kalt.

Für größere Einkäufe, die Post und Rentenbescheide muss man sich in die nächste größere Stadt begeben. Es gibt aber durchaus noch Mitbewohner, die nach Tschernobyl zurückgekehrt sind. Dunja ist nicht alleine. Fast alle sind schon sehr alt! Die ungewöhnliche Alterspopulation macht das kleine Werk so einnehmend. Wo erfährt man schon, wie alte Menschen lieben, leben und hassen?

Die zarten Bande, die wenige Einwohner gelegentlich für einander empfinden, sind von einer besonderen Herzlichkeit. Ohne Humor und Witz läuft fast gar nichts!

In der Geschichte passiert nicht viel. Doch nimmt man die Stille wahr, die über allem liegt.

Alina Bronsky erzählt ruhig und mit trockenem Humor, wie es sich so weit entfernt von jeder uns vorstellbaren Zivilisation leben lässt. Allerdings ereignen sich auch sonderbare Dinge, die auf die russische Seele und die barbarischen Verhältnisse in Russlands Rechtssystem schließen lassen.

Man hält an Traditionen fest, ist sich zugetan oder mag sich nicht. Erzählt wird über russische Lebensart, über die Menschen in dem großen Land und den stoischen Gleichmut, mit der jeder/jede ihr Schicksal hinnimmt, so wie es gerade kommt.

Alina Bronsky
Baba Dunjas letzte Liebe
160 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, August 2015
ISBN-10: 3462048023
ISBN-13: 978-3462048025
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E.L. Doctorow: In Andrews Kopf

E.L. Doctorow: In Andrews Kopf

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Genie oder Wahnsinn, das ist hier die Frage…

Andrew, der Held dieses Romans, erscheint uns als ein sonderbarer Mensch: zuerst stirbt ihm sein erstes Kind durch nachlässige eigene Fehler. Vermutlich einige Jahre später sucht er seine geschiedene erste Frau Martha auf, um ihr sein zweites Kind nach dem Tod der zweiten Frau zur Versorgung zur überlassen. Bemerkenswert erwähnt er immer wieder den „riesigen Ehemann“ von Martha.

Langsam rückblickend erfährt man in den teilweise wirren und teils genialen Gedanken, wie Andrew die Welt sieht und als Kognitionswissenschaftler sich die Welt zurechtbastelt. Gehirn, Seele, Mensch, Geist, Erinnerung und Studien zur Genese des Menschen geraten in einem heillosen Durcheinander zu einem verwirrenden Gemisch heutigen und vergangenen Wissens. Andrews Leben scheint aus einem einzigen Irrweg mit realen Mustern zu bestehen.

Der Leser ist überrascht und leicht verstört, was er von all’ dem halten soll.

Im einem zweiten Teil hören wir die Geschichte von Andrew und Briony, seiner ersten Frau. Skurril, witzig und sehr amüsant lesen wir von den Merkwürdigkeiten ihrer Herkunft und zuletzt ihrem unerwarteten Tod.

Wieder in einem weiteren Teil des Romans wird Andrew zum Präsidentenberater nach 9/11, dem Datum, das für Amerika zum Trauma wurde. Hier erlebte das Land den tiefsten Schlag seiner Geschichte. Der Autor nimmt den damalige Präsidenten und seine Umgebung zum Anlass für eine böse Satire.

Nach und nach werden die einzelnen Geschichten in einer Art Fiktion mit jeweils wechselnden Dialogpartnern erzählt.

E.L. Doctorow, hoch angesehener amerikanischer Autor und kürzlich verstorben, hat uns ein kleines, schmales Werk hinterlassen, das allerhand Rätsel aufgibt. Jeder wird sich seinen eigenen Reim darauf machen. Tatsache bleibt, dass der Autor eine Neigung zu Sonderlingen hat, wie man sie in einem seiner bekanntesten Romane „Homer & Langley“ schon ausmachen konnte. Der frühere Roman war humorig, kurzweilig und amüsant. Dieser Roman ist eher verworren und ein wenig undurchschaubar in seiner Absicht.

E.L. Doctorow
In Andrews Kopf
208 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, August 2015
ISBN-10: 3462048120
ISBN-13: 978-3462048124
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Verena Lueken: Alles zählt

Verena Lueken: Alles zählt

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Schicksale…

Wunderbar eingängig und sehr flott in der Diktion beginnt der neue Roman von Verena Lueken über eine Frau und ihre Geschichte.

Sie kommt aus Frankfurt/M nach New York, es mag im Jahr 2013 sein, und lebt für einen Sommer in der Wohnung von Freunden. Mit wenigen Worten verdichtet sich das Leben in der heißen, lauten, wilden und multikulturellen Stadt, in der in der Hitze des Abends Jazzklänge zum Tanzen verleiten, und die Menschen in einem fremdartigen Völkergemisch ihren Freuden, Nöten und allerlei sonstigen Tätigkeiten nachgehen.

Doch die Erzählerin ist krank. Sie wird eine schwere Operation erleiden müssen und sich den Fragen von Tod und Leben gegenübersehen.

Die Erzählung setzt sich schmissig fort und lässt in ihrem Tempo nicht nach. Erinnerungen an frühere Lebenszeiten und Erinnerungen an eine bewunderte Mutter und deren Lebenspartner wechseln ab mit den wachen Gedankenspielen darüber, welche Lebensphasen, Ziele und Gewohnheiten dem Leben inne wohnen.

Atmosphärisch dicht und im Erzählstrang nachdenklich erlebt man Reflexionen, Zweifel und kritische Lebensbetrachtungen einer Protagonistin, die es nicht leicht mit ihrer schweren Krankheit hat. Ihre nüchterne Betrachtungsweise und die klaren Ansagen zum eigenen Befinden werden sachlich vorgetragen. Erzählung reiht sich an Erzählung, in diesem Falle Erinnerungen und tägliche Begegnungen, ohne dass zwischen den einzelnen Episoden Brüche entstehen. Das erweckt den Eindruck einer flüssig fortschreitenden Geschichte.

Verena Lueken schreibt einen poetischen Stil, in dem das Leben in seiner ganzen Bandbreite Platz findet. Sie kann mit wenigen Worten Stimmungen, Ängste und Nöte einfangen, ohne je aufdringlich zu werden. Man fühlt sich berührt und liest mit großer Aufmerksamkeit, wie die namenlose Frau in dieser Erzählung ihr Leben zu meistern versucht.

Verena Lueken
Alles zählt
208 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, August 2015
ISBN-10: 3462047973
ISBN-13: 978-3462047974
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Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr

Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr

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Vom Glück des einfachen Lebens…

Drei alte Männer haben sich hoch oben in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen. Sie leben dort unter denkbar einfachsten Bedingungen mit wenig Komfort, doch sie scheinen glücklich zu sein.

Eine ungenannte Fotografin sucht den Weg zu ihnen, weil sie sich für die großen Brände interessiert, die im Jahr 1916 in dieser Gegend weite Teile der Wälder und mit ihnen Dörfer, Städte und Menschen vernichtet haben.

Eigentlich sucht sie Boychuck, Ted, Ed oder Edward mit Vornamen.

Doch der ist kürzlich verstorben.

Hier in der Wildnis fühlt man sich wie am Ende der Welt. Die Fotografin ist zunehmend fasziniert von dieser endlosen Stille, dem Einsiedlerleben und den Erzählungen der sehr alten Männer.

Steve und Bruno versorgen die Alten mit dem, was man im Wald nicht finden kann. Als die Tante von Bruno, Marie-Desneiges, 81 jährig, zu ihnen stößt, wird die Geschichte zunehmend spannend. Was haben diese Menschen alles erlebt, wovon sie zu erzählen wissen! Dabei bleibt die Erzählung unaufdringlich und diskret.

Mit einnehmende Worten, poetischen Bildern und nachfühlbarem Erleben nimmt uns die Autorin mit auf eine Reise, von der wir nicht wissen, wohin sie uns führen wird. Es ist ein stiller und ruhiger Erzählstrom, der keine Hektik oder unerträgliche Erwartungshaltung auslöst. Man überlässt sich der Führung der Erzählung und den Geschichten, um die sich das Geschehen rankt.

Spannend ist ein jedes Schicksal, von dem hier die Rede sein wird. Man lernt zuhören und genau hinzuschauen. Die wunderbare, klare und kräftigende Natur bietet den Rahmen, in dem man die alten Männer trifft. Marie-Desneiges mit ihrem seltenen Schicksal macht die Gruppe komplett. Sie hatte es besonders schwer im Leben und schließt sich nur schwer an. Dass ihr hier nochmals ein spätes Glück beschieden sein würde, hat sie nicht geahnt. Es ist eine delikate und von hinreißender Zartheit gezeichnete Liebesgeschichte.

Die Erzählung handelt von Alter und Einsiedelei, von spätem Glück und Vergänglichkeit, von Freundschaft, Treue und Verlässlichkeit. Einfach herrlich!

Jocelyne Saucier lebt in Kanada. Dieser Roman ist ihr erster, der auf Deutsch erschienen ist. Man sollte sich ihren Namen merken.

Jocelyne Saucier
Ein Leben mehr
192 Seiten, gebunden
Insel Verlag, August 2015
ISBN-10: 3458176527
ISBN-13: 978-3458176527
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Lisa O’Donnell: Die Geheimnisse der Welt

Lisa O’Donnell: Die Geheimnisse der Welt

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Wie erlebt ein kleiner Junger in diesem Roman die Welt der Erwachsenen?

Michael Murray ist 12 Jahre alt. Mit kurzen und einfachen Sätzen werden die Erlebnisse der Menschen in der kleinen Stadt Rothesay in Schottland aus der Sicht des Jungen erzählt.

Seine Eltern stammen aus schlichtem Milieu. Die Mutter geht putzen, und der Vater ist arbeitslos. Man kennt die Leute in der Strasse und fürchtet das Gerede, das allen ungewöhnlichen Ereignissen folgt. Sie leben in einem engstirnigen und tratschsüchtigen Milieu. Wenn man genug hat, hilft den Erwachsenen der Alkohol.

Michael schaut mit neugierigen und wachen Augen in die Welt. Doch vieles von dem, was gesprochen und nicht gesprochen, d.h. heimlich weitergetragen wird, ist für ihn schwer verständlich.

Er ist ein aufgeweckter kleiner Junge. Nichts entgeht seinen wachen Sinnen. Als seine Mutter eines Tages verletzt von der Arbeit nach Hause kommt, geschehen ungewöhnliche Dinge. So sehr Michael sich auch bemüht, zu begreifen, was mit ihr geschehen ist, so sehr versuchen Mutter, Vater und die Großmutter ihr Geheimnis zu bewahren.

Michaels naive Vorstellungswelt vermittelt uns einen Eindruck davon, was in ihm vor sich geht. Die Schule und seine Freunde spielen die eine Rolle in seinem Leben, das ungewöhnliche Verhalten der Mutter und die Reaktionen der Umwelt die andere.

Die Autorin Lisa O’Donnell hat ein feinfühliges Gespür für die Welt der kleinen Leute. Ihre Sorgen und Nöte sind so beschrieben, dass man sie gut nachempfinden kann. Dieses rudimentäre Leben ist orientiert an einfachsten Vorstellungen über das Wohl und Wehe der Menschen. Da bietet der Klatsch treffliche Möglichkeiten, jemanden zum Außenseiter werden zu lassen. Die Erzählweise aus dem Blickwinkel des Jungen macht den Roman extraordinär in seiner Sprache und Diktion. Man könnte meinen, es sei ein Kinderbuch. Doch das Verhalten der Erwachsenen steht im Fokus der Geschichte. In ihrer versteckten und verheimlichenden Manier bieten sie uns Einblicke in ein Milieu, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Man bleibt immer auf der Spur, um zu erfahren, was der Mutter und einer weiteren Frau widerfahren ist. Wird sich am Ende für Michael die Wahrheit finden lassen?

Wir werden es sehen!

Neben der Kleinstadtgeschichte ist dieser Roman auch ein Aufklärungs- und Entwicklungsroman.

Lisa O’Donnell

Die Geheimnisse der Welt
256 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, Juli 2015
ISBN-10: 3832197796
ISBN-13: 978-3832197797
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Lily King: Euphoria

Lily King: Euphoria

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Ethnologie und Forschungsfragen für Liebhaber.

Wer sich für Ethnologie und Anthropologie interessiert, wird an diesem Roman seine helle Freude haben.

Worum geht es?

Drei Naturforscher begegnen sich in Papua Neuguinea etwa Anfang der dreißiger Jahre. Nell Stone ist um ihrer Publikationen willen schon recht berühmt. Ihr Mann Schuyler Fenwick, genannt Fen, ist eher der Praktiker, der sich für die Menschen als Forschungsobjekte interessiert. Der Engländer Andrew Bankson stößt nach Jahren einsamer Feldforschung zu ihnen. Er fungiert lange Strecken als Icherzähler in dem Roman.

Sein Familienhintergrund lässt darauf schließen, dass er der heimischen Reglementierung durch seine Mutter nach dem Tod zweier Brüder und des Vaters zu entkommen trachtet.

Er ist einsam und sehnt sich nach der Gesellschaft der beiden zuerst genannten Forscher.

Angelehnt ist die Geschichte an das Leben Margaret Meads, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit ihren Forschungen und Publikationen über einfache Stämme in Neuguinea die wissenschaftliche Welt begeisterte. Ihre Thesen wurden allerdings in späteren Jahren gelegentlich infrage gestellt.

Nun, hier geht es u.a. um die Lebensbedingungen und harten gesundheitlichen Beschwerden, die Aufenthalte in diesen fernen Stammesregionen bei den Forschern auslösen.

Wunderbare Naturbeschreibungen vermitteln einen Eindruck von einer Welt fern unserer Kultur und Lebensart. Man muss schon mit Leidenschaft dabei sein, um sich diesen Abenteuern zu stellen.

Unter den harten, waghalsigen, teilweise aber auch malerischen Lebensbedingungen entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die ganz klar von der unterschiedlichen Mentalität der Protagonisten bestimmt wird.

Weite Teile des Berichts befassen sich mit Methoden, wie man was an den einzelnen Stämmen erforscht. Verwandtschaftsverhältnisse, Essen, Gebräuche, Stammesriten, Erziehung, Politik, Wohnform und so fort. Die Unterschiede von Stamm zu Stamm können erheblich sein. Für Wissenschaftler ist das ein wahrer Fundus an Erkenntnissen. Allerdings betont Lily King im Nachwort, dass die meisten Stämme und Orte im Buch fiktiv sind.

Der Laie muss sich dennoch darauf einlassen, von Lebensformen zu erfahren, die Hinweise auch auf die Entwicklung sehr unterschiedlicher menschlicher Gemeinschaften bieten.

Das sehr lesenswerte und fundiert geschriebenes Meisterwerk von Lily King wird viele begeisterte Leser finden.

Im Klappentext kann man erfahren, dass sie den Kirkus Prize für dieses Werk bekommen hat, und ihr Bericht von der New York Times unter die fünf besten literarischen Bücher des Jahres 2014 gewählt wurde.

Lily King
Euphoria
262 Seiten, gebunden
H.Beck, Juli 2015
ISBN-10: 3406682030
ISBN-13: 978-3406682032
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Mirna Funk: Winter Nähe

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Findet man sein Ich in einer von der Nachkriegs- und Nazischuld geprägten Gesellschaft?

Weit ausholend schildert Mirna Funk das Leben von Lola in Deutschland und Israel.

Lola ist etwa 34 Jahre alt ist.

Sie lebt und arbeitet in Berlin und fühlt sich als Jüdin. Doch sie ist keine! Bekanntlich wird die Religionszugehörigkeit der Juden über die mütterliche Linie weiter gegeben. Ihre jüdischen Großeltern väterlicherseits haben sie aufgezogen. Sie lebt und liebt, ganz, wie es der Tag bringt. Ihre Arbeit als Fotografin im IT Bereich spielt keine große Rolle in dieser Geschichte. Man erfährt mehr über Lolas Liebschaften und ihr Innenleben als über ihre Arbeit.

Einst lernte sie Shlomo kennen, einen Israeli, den sie wirklich liebt. Doch er kehrt nach einer kurzen und glücklichen Zeit nach Israel zurück. Lola trauert ihm nach, so wie in der Vergangenheit ihrem Vater, der schon früh aus Ostberlin geflohen und im australischen Busch gelandet ist. Ihre Mutter hat sich noch früher aus dem Staub gemacht.

Das ständige Dilemma zwischen Schuld, Opfer und Vergänglichkeit in der Berliner Gegenwart begleitet Lolas Leben, und macht sie zuweilen wütend. Schuldangst nennt sie das, was die Menschen noch so viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs umtreibt. „Der christliche Wunsch, dass Jesus für die Sünden aller Menschen gestorben wäre, repräsentiert die tiefe Schuldangst der vom Christentum geprägten Gesellschaft.“(S.86)

Wer aber ist Lola, und zu wem darf sie sich zugehörig fühlen? Antisemiten und ehemalige Nazis kreuzen ihren Weg und machen ihr die Ichfindung schwer.

Man findet sie zu Zeiten in Israel und in Thailand, und immer scheint sie auf der Suche zu sein.

Mehr und mehr zieht sich die Geschichte Lolas zu einem allgemeinen Bericht über die Lage der Juden und ihrer Verlorenheit in der Welt zusammen.

Verkappter Antisemitismus mischt sich mit berechtigter Kritik an der Politik Israels im Palästinakonflikt.

Der Roman besticht durch die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit. Immer wieder reichen die Erfahrungen während des Holocausts bis in die Gegenwart. Sie zeigen die Suche und die Heimatlosigkeit, der sich Juden seither ausgesetzt sehen. Palästina war englisches Mandatsgebiet, als Juden zu tausenden nach dem Krieg dorthin flüchteten. Bis in die heutige Zeit wissen wir von den Streitigkeiten um den Anspruch auf Heimat, der Palästinenser und Juden zu Feinden macht. Jeder in diesen beiden Lagern fühlt sich im Recht. Und Menschen auf beiden Seiten werden zu Opfern und Tätern.

Der Autorin ist ein markantes Werk gelungen, das zahlreiche Aspekte dieses konfliktträchtigen Geschehens tiefenscharf erfasst und heraus arbeitet.

Es ist ein differenziert angelegtes Werk, dem man sich mit zunehmender Spannung überlässt. Mirna Funk hat gerade den Uwe Johnson Förderpreis für das beste deutschsprachige Debüt der letzten zwei Jahre erhalten.

Mirna Funk
Winter Nähe
352 Seiten, gebunden
FISCHER; Auflage, Juli 2015
ISBN-10: 3100024192
ISBN-13: 978-3100024190
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