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Autor: Claudine Borries

Christa Hein: Die Frau am Strand

Christa Hein: Die Frau am Strand

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Christa Hein hat ein gewaltiges Familienopus geschrieben.

Liz, ihre Heldin, bekommt eines Tages Besuch von ihrer Nichte, die lange verschollen war. Sie sieht ziemlich verwildert aus und ist froh, bei der Tante einen Unterschlupf zu finden. Eine Weile nistet sie sich bei der Tante ein, und Liz kommt mit der Zeit ins Erzählen. Inese interessiert sich sehr für die Familiengeschichte.

Bei dieser Gelegenheit fallen Liz eine Reihe von Gegenstände aus dem Familienbesitz ein, die alle eine Geschichte haben. Auch hat sie sorgfältig Notizen ihrer Großmutter aufgehoben, aus denen man die Familiengeschichte rekonstruieren kann.

Liz ist Schriftstellerin und setzt sich hin, um alles aufzuschreiben. Beim Schreiben vertieft sie sich ganz in die alten Geschichten. Auf diese Weise entsteht ein Familienporträt von ungeheurer Weite. Beginnend Ende des 19. Jahrhunderts umfassen die Erinnerungen Städte und ferne Kontinente ebenso wie fantastische Landeroberungen und abenteuerliches Leben. Liz geht einzelne Episoden an und fängt bei Urahnen und Ahnen an. Dadurch bleibt man ganz bei den einzelnen Lebensphasen der diversen Urgroßeltern und Großeltern.

Die Urgroßeltern gingen nach Amerika und machten Land urbar. Sie starben früh und ließen ihre beiden Kinder Annie und Fred als Waisen zurück. Die beiden schlagen sich wacker durch, werden aber durch die Geschicke getrennt. Während Annie, die Großmutter von Liz, in Europa ihr Glück findet, zieht es Fred zur Seefahrt, und die Geschwister verlieren sich aus den Augen.

Christa Hein hat die Zeiten mit ihren wechselnden Landschaften und Lebensumständen wunderbar getroffen. Annie liebt die Kunst und malt selber gerne. Sie wird bei einer entfernten Verwandten zu einem geordneten Leben erzogen und macht eine erstaunliche Karriere. Schließlich findet sie einen netten Mann und beginnt ein eigenes Leben.

In der Erzählung geht es von Sylt nach Amerika und dann zurück nach Fehmarn, weiter nach Hamburg, Berlin, Gibraltar, Portugal und so fort. Der Erste Weltkrieg zwingt dem Großelternpaar ganz neue Wege auf.
Das Meer mit seinen besonderen Reizen spielt keine geringe Rolle in dem ganzen Geschehen. Auch die Malerei hat einen herausragenden Stellenwert.

Insgesamt umfasst die Geschichte fast ein Jahrhundert. Christa Heim hat jedem Zeitalter den ganz eigenen Charakter zuerkannt: Farmerleben in Amerika, in Deutschland der Erste Weltkrieg, Inflation und zwanziger Jahre bis hin zu Nazideutschland und die Zeit danach.

Zwischen Fabulierkunst und fast autobiographisch anmutenden Zeilen entwickelt die Autorin ihr Zeitgemälde. Fiktion und Wahrheit scheinen dicht beieinander zu liegen.
Zuletzt sind die Verbindungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern fast nicht mehr überschaubar.

Der Roman ist kein literarisches Meisterwerk.
Ich würde diesen Schmöker für lange Urlaube oder regenreiche Sonntage empfehlen.

Christa Hein
Die Frau am Strand
Frankfurter Verlagsanstalt, März 2022
576 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3627002954
ISBN-13: 978-3627002954
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Julia Schoch: Das Vorkommnis

Julia Schoch: Das Vorkommnis

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Die Geschichte einer namenlosen Frau beginnt überraschend: es handelt sich um eine Schriftstellerin, die im Kulturzentrum einer Norddeutschen Stadt aus einem neuen Buch liest.
Während sie nach der Lesung Bücher signiert, spricht eine fremde Frau sie mit den Worten an: “wir haben übrigens den gleichen Vater.“ Sie springt auf und umarmt diese.

Was ist nur los mit ihr?

In der Folge erfährt man, wie sie lebt, was sie gerade tut, und wie es ihr geht.
Sie hat zwei kleine Kinder und einen Ehemann. Lesungen und Literaturaufträge führen sie bis nach Amerika.

In langen Reflexionen, die wie Träume daherkommen, erinnert sie sich an ihre Kindheit und ihre Eltern. Das Geheimnis um eine unbekannte Schwester treibt sie um. Als habe sie es immer schon geahnt, dass es ein Familiengeheimnis gibt!

Julia Schoch schreibt über eine Begebenheit, die in ihren Dimensionen immer weitere Blüten in der Fantasie ihrer Heldin treibt. Es geht um unerwünschte Schwangerschaften, Eheleben, Veränderungen und auch um das Leben in der DDR.

In langen Passagen wendet die Protagonistin ihre Zweifel über das, was wirklich ist und was nur Fantasie, immer intensiver hin und her. Sie wird ihren eigenen Einschätzungen gegenüber misstrauisch. Ihr Mann, ein unkomplizierter Typ, tut ihre Infragestellungen ab, er kann sie nicht verstehen.

Julia Schoch hat ein sehr reflektiertes Werk verfasst. Der Leser:in folgt dem Wahn der Icherzählerin, alles und jedes zu hinterfragen und gerät selber ins Grübeln. Leider vergiftet die Selbstbefragung nach und das Denken der Erzählerin, deren als Biographie bezeichnetes Leben sich vor uns abspielt. Sie wirkt dadurch der Gegenwart entrückt und in großer Distanz zu ihren Kindern, ihrer Mutter und auch ihrem Mann. Das Geheimnis um die fremde Frau lüftet sich, und ja, es gibt Dinge in Familien, die wir nicht wissen. Dass sie jedoch eine Art Unwirklichkeitsgefühle im Menschen auslösen mögen, mag sein. Insgesamt aber sind existenzielle Fragen nach den Veränderungen im Wesen, Verhalten und Aussehen natürlich und folgerichtig. Auch gibt es keine Statik zwischen Menschen. Von der Kindheit bis ins hohe Alter verändern sich Denken, Verhalten, Aussehen und die Ansichten. Julia Schoch ist es gelungen, mit psychologischem Feingefühl diesen Fragen nachzugehen.

Insofern ist die Geschichte gut konzipiert und durchaus realitätsnah. Wie zu lesen war, soll die „Biographie einer Frau“ noch Fortsetzungen erfahren. Wir dürfen neugierig bleiben!

Julia Schoch ist in der DDR geboren und aufgewachsen. Sie lebt in Potsdam und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

Julia Schoch
Das Vorkommnis
dtv Verlagsgesellschaf, Februar 2022
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 423290218
ISBN-13: 978-3423290210
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Helen Wolff: Hintergrund für Liebe

Helen Wolff: Hintergrund für Liebe

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Hinter einer autobiographisch gefärbten Liebesgeschichte verbirgt sich Helen Wolff, die legendäre Verlegerin und Frau des ebenso bekannten Verlegers Kurt Wolff.

Im Sommer 1932 fuhr die Protagonistin des Romans mit ihrem Geliebten Kurt an die Cote d’Azur, um dort einen schönen Sommer zu verbringen. Beide arbeiten im Verlagswesen in Berlin.
Er, der zwanzig Jahre Ältere, freute sich darauf, seiner jungen Freundin Helen die herrliche Landschaft der Provence zu erschließen.

Was als wunderbares Liebesabenteuer beginnt, entwickelt sich zu einer überaus zarten, rauen und empathischen Geschichte.
Er, der im Text nur als „Du“ erscheint, ist weltgewandt und dynamisch. Sie hingegen ist eher unscheinbar und unerfahren.

Angekommen in Nizza bezieht er mit Helen ein feines Hotel. Schon bald tauchen nahe und ferne Bekannte von ihm auf, die zu einem ausschweifenden und lauten Partyleben verleiten.
Helen ist entsetzt, fühlt sich kreuzunglücklich und beginnt, sich aus dieser Gesellschaft und von „ihm“ abzunabeln.
Sie verschwindet aus dem Dunstkreis der „Partymenschen“, sucht und findet in Saint- Tropez ein im Schilf verborgenes Häuschen. Es ist spartanisch aber paradiesisch in seiner Abgeschiedenheit.

Nun beginnt eine wirklich hinreißende Geschichte. Atmosphärisch nah und unmittelbar berührend beschreibt Helen den Zauber der Landschaft. Sie malt buchstäblich mit dahin getupften Worten die Farben und Düfte einer Gegend, die wohl jeden dafür empfänglichen Menschen begeistern kann. Das Meer in seiner Unendlichkeit, die Natur rundum, die zarten Farben der Häuser und der Duft nach fruchtbarem Landleben werden in den schönsten Farben gezeichnet. Helen findet Freunde und lernt das Leben zu genießen. Die lustvolle Begeisterung an Sonne, Meer, Essen, Wein und allgemeiner Lebensfreude ergreift Besitz von ihr.

Der Leser:in fiebert mit, wie sich die Liebesgeschichte zwischen ihr und ihrem „Du“ entwickeln mag! Provence ohne Charme und Liebe ist schwer vorstellbar.

Helen Wolffs Großnichte Marion Detjen hat sich in Archive vertieft und konnte dieses Manuskript entdecken.
Sie ist Historikerin und hat in einem zweiten Teil des Buches einen Essay hinzufügt, in dem sie die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Umstände jener dramatischen Jahre beschreibt.

Die einschlägige Künstlerszene traf sich damals an der Côte d’Azur, geriet in den Strudel vor Hitlers Machtergreifung und musste bald schon die Flucht nach Amerika antreten. Viele sehr bekannte Namen werden von ihr genannt, Liebschaften aufgedeckt und Verbindungen zwischen Autoren, Verlegern und Künstlern in einen Zusammenhang gestellt.

Sowohl die poetische Liebesgeschichte des fiktiven Paares, als auch die historischen Betrachtungen sind aufschlussreich und außerordentlich lesenswert.

Helen Wolff
Hintergrund für Liebe
Weidle, März 2020
216 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3938803967
ISBN-13: 978-3938803967
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Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

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Dieser Titel von Gianfranco Calligarich ist schon 1973 zum ersten Mal erschienen und wurde im Januar 2022 mit großem Erfolg neu aufgelegt.

Held dieser Geschichte ist Leo Gazzarra.
Er ist buchstäblich ein Müßiggänger, der sein Leben zu genießen weiß.
Er kam aus Mailand in die große Stadt Rom, wo er Freunde, einen kleinen Job und Unterkunft fand.
Mit seinen Einkünften ist es nicht weit her. Hier und da leiht er sich etwas, vor allem aber findet man ihn auf Partys und in den einschlägigen Kreisen, wo man trefflich zu feiern weiß.
So weitet sich der Bekanntenkreis. Allmählich wächst er in eine Clique hinein, in der viel getrunken und gefeiert wird.

In hinreißenden Bildern schildert der Autor das süße Leben zu Beginn der siebziger Jahre in Rom. Sein Protagonist ist Journalist und hat eine feine Beobachtungsgabe, mit der er Einzelheiten des Lebens, der Stadt mit ihren Kunstwerken und des eigenen Wohlergehens beschreiben kann.

Arianna wird die große Liebe seines Lebens. Doch das Spiel, das in seinem neuen Bekannten-und Freundeskreis gespielt wird, ist auch ein tödliches Spiel. Arianna ist eine exzentrische Person, deren Launen Leo bald verzweifeln lassen.

G. Calligarich kann mit seiner ausgezeichneten Wortgewandtheit die Feinheiten der Atmosphäre im Rom der siebziger Jahre hautnah schildern. Die Sommer sind heiß, und die Treffen der Freunde zeugen von einem Leben im Müßiggang und Langeweile. Die Stadtbeschreibungen und Wiedergabe von Stimmungen sind treffend und zeugen von Einfühlungsvermögen. Sie stehen ganz im Gegensatz zu den ausufernden Trinkereien. Denn der Alkoholkonsum nimmt zu, und man lebt von einem Tag auf den anderen. La Dolce Vita ist angesagt. Architekten, Künstler, Filmschaffende und erfolgreiche Geschäftsleute bilden den Kern der Gemeinschaft. Leo arbeitet mit wenig Erfolg für eine Sportzeitung. Durch die richtigen Verbindungen sucht er gelegentlich nach neuen Betätigungsfeldern. Er ist ein sensibler, nachdenklicher und literarisch gebildeter Mensch. Der Alkoholkonsum bringt mehr als einen der Protagonisten zum Scheitern. Auch Leo verfällt mehr und mehr dem Alkohol. Letztlich zeigt sich ein morbides Gebilde der Gesellschaft, denn richtig froh ist niemand. Von Gefühlen der Wehmut und Melancholie befallen kann Leo seinem Schicksal nicht entgehen.

Der Leser wird mitgerissen von einem Erzählstil, der realistisch und einfühlsam einen Sommer in der Stadt vermittelt. Auf dem Klappentext heißt es „Ein Roman für alle, die Philip Roth und Jonathan Franzen lieben.“ Dem kann ich mich nur anschließen.

Gianfranco Calligarich
Der letzte Sommer in der Stadt
Paul Zsolnay Verlag, 3. Edition, Januar 2022
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552072756
ISBN-13: 978-3552072756
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Bettina Flitner: Meine Schwester

Bettina Flitner: Meine Schwester

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Bettina Flitner begibt sich mit diesem Buch auf Spurensuche in die Vergangenheit. Es geht um ihre Familie, ihre Eltern, die Schwester und Großeltern. Ihre Eltern hatten sich in einer Zeit des Aufbruchs aus verkrusteten Strukturen in ein antibürgerliches und sexuell freies Leben begeben.

Anstoß zum Buch war der Suizid ihrer Schwester, die sich wie die Mutter mit 47 Jahren das Leben genommen hat.

In wechselnden Zeitebenen beschreibt Bettina Flitner ihr Kinderleben und ihr Erwachsenendasein. Ihre Schwester, um die es im Wesentlichen in diesen Aufzeichnungen geht, war schon früh ein gestörtes Mädchen mit Hungerattacken und innerer Unausgeglichenheit.

B. Flitner hat eine ungebrochene Gabe, in ihren Erinnerungen die täglichen Gegebenheiten trocken, nüchtern und auch gelegentlich karikierend darzustellen. In ihrer Erzählweise wirkt sie fröhlich, unbeschwert und ohne Ängste. Mit ihrer wenig älteren Schwester hatte sie ein enges Verhältnis. Sie heckten zusammen so manchen Schabernack aus. Auch die Großeltern spielen keine geringe Rolle und werden mit ihren skurrilen Eigenheiten beschrieben.

Sie beschreibt klar und schnörkellos, was sich täglich in ihrem Leben änderte. Viele Umzüge gehörten dazu und wechselnde Partner:innen der Eltern. So lebt eines Tages Frau Tasch mit in der Familie. So wie sie gekommen ist, verschwindet sie auch wieder. Ab und zu flüstern die Kinder „das ist seine Neue“, wenn wieder mal ein fremdes weibliches Wesen am Tisch Platz nimmt.

Etwa um 1970 ging es für eine Weile nach Amerika. Neugierig und munter beschreibt die Autorin ihre Schuleindrücke, die fremde Stadt New York mit ihren Geräuschen und Ausflüge zu einer „Landkommune“ etc. Dort geht es bunt, lustig und sehr freizügig zu.

In der Art wie B. Flitner ihre Kindheit und Jugend schildert, meint man zu spüren, dass sie sich in ihrem Inneren immer ein wenig auf Abstand zur Familie befand. Einzig die Schwester Susanne war lange Zeit ihr Kumpel und bester Freund. Diese fand sich wohl weniger leicht zurecht in dem ungeordneten Familienleben.

Dass die Mutter an Depressionen litt, zeigt die Autorin in wunderbaren Bildern. Es sind die schwarzen Vögel, die einer nach dem anderen kommen, um die zarte und empfindsame Mutter heimzusuchen. Den Vater beschreibt sie treffend mit den Worten“ Ein schwer zu fassendes Irrlicht, das mal hier und mal dort über einen morastigen Grund geistert“. (S.150) Mit diesen Worten wird die innere Distanz deutlich, mit der die Autorin ihre Familienmitglieder zu charakterisieren versucht.

D.h. nicht, dass sie nicht getroffen ist, als die Mutter stirbt.
Man spürt im Gegenteil ihr Mitgefühl mit dieser unglücklichen Frau.
Unmittelbar nachvollziehbar ist der Schock über den Tod der Schwester.

Alles in allem ist die Autobiographie in ihrer protokollarischen Darstellung reich an inneren Bildern, die Einblicke in ein unruhiges und wenig Halt bietendes Elternhaus öffnen.

Bettina Flitner ist Ehefrau von Alice Schwarzer und hat sich als erfolgreiche Fotografin einen Namen gemacht. Sie lebt in Köln.

Bettina Flitner
Meine Schwester
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2022
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3462002376
ISBN-13: 978-3462002379
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Jessica Durlacher: Die Tochter

Jessica Durlacher: Die Tochter

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Jüngste europäische Geschichte in einem an Spannungen reichen Roman.

Im Hause der Erinnerung an Anne Frank in Amsterdam, der im Krieg von den Deutschen zuerst ins KZ verbrachten und dann getöteten holländischen jungen Jüdin, begegnen sich eines Tages Sabine und Max. Er begleitet seine jüdische Familie zur Besichtigung, und Sabine arbeitet gelegentlich hier.

Es wird viel über Gefühle nachgedacht und die widerstreitenden Gedanken, die einen jeden in diesem Haus befallen. Die ganz schreckliche Nazivergangenheit mit ihrem unendlichen Leid, das sie über die Menschen und insbesondere über die jüdischen Menschen gebracht hat, wird in diesem Besuchen lebendig. Sabine nennt es „schaurig“, und dass das für immer in diesem Hause bleibt.

Warum Sabine so penetrant ein Gespräch mit Max sucht, wird erst allmählich klar.

In leicht mokanten Worten bis geheimen Widerwillen ersteht die Vergangenheit in Max.

Aus Amerika sind Onkel und Tante gekommen. Max ist sehr ambivalent in seinen Gefühlen allen gegenüber. Ob jüdischer Vater oder Mutter: er hat ein feines Gespür für die unterschwelligen Strömungen im Wesen und Gebaren seiner Eltern.

Nach längerer Vorgeschichte mit Einzelheiten aus ihrer beider Leben entflammt zwischen Max und Sabine eine heftige Liebe.

Jessica Durchlacher entwickelt daraufhin ein umfangreiches Panorama menschlichen Verhaltens und des Leids, das Menschen einander zufügen können: Geheimnisse, Misstrauen, Verrat, Liebe und Vertrauen wechseln in ihren Verknüpfung mit den Schicksalen.

Die Autorin hat ein ausgezeichnetes Repertoire an Fantasie und Worten, menschliche Tragödien aufzuzeigen, die in ihren Verstrickungen der Realität nahekommen. Der Bogen der Spannung wird weit gezogen. Juden/ Jüdinnen und holländische Kollaboration werden zum Thema. Lügen in den Familien sind bestimmt von dem Wunsch, die Vergangenheit zu vertuschen oder zu vergessen.

Begegnungen führen von Amsterdam nach Los Angeles und Jerusalem. Die Liebe der zwei Hauptprotagonisten wird immer wieder zerstört, weil sich Sabine in letzter Konsequenz allen Bindungen entzieht.

So vergehen Jahre, bis die Geschichte einem Höhepunkt entgegengeht.

Jessica Durchlacher nimmt Geschehnisse der jüngsten europäischen Geschichte zum Thema. Atmosphärisch dicht und realitätsnah erlebt man gewisse Intellektuelle in Europa und Amerika in ihrem Umfeld, um dem Kern in der Erzählung näherzukommen. Es rührt an das Mitgefühl des Lesers/ Leserin, wenn wieder einmal deutlich wird, wie verführbar der Mensch zum Bösen sein kann, und wie katastrophal das ganze Leben als Folge von Unmenschlichkeit bestimmt bleiben mag.

Bis zur letzten Minute bleibt die Geschichte spannend und anrührend. Eine volle Empfehlung von mir für ein Buch, dass bereits 2003 zum ersten Mal erschienen ist.

Jessica Durlacher
Die Tochter
Diogenes Verlag, 10. Auflage, Februar 2003
336 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3257233515
ISBN-13: 978-3257233513
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Annika Büsing: Nordstadt

Annika Büsing: Nordstadt

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Der vorliegende Roman von Annika Büsing glänzt durch eine kurze, lakonische Sprache, die zuweilen sehr witzig wirkt.Erzählt wird die Geschichte von Nene. Sie lebt im Norden einer Stadt im Ruhrgbeiet. Herkömmlich sind die Nordstädte die ärmeren Teile einer Stadt. Dort geht es nicht so gesittet zu wie etwa im Süden.

Nene arbeitet als Bademeisterin. Im Schwimmbad lebt sie ihr Leben, kennt die Menschen, knüpft Beziehungen an und ist dort ganz zu Hause.
Sie erzählt ihre Geschichte in der Ichform. Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er humpelt und hat so schöne „Pumaaugen“ und vom Wasser verklebte Wimpern. Nene mag ihn.

Es ereignet sich nicht viel. Umso eindrucksvoller sind die Erlebnisse und die kleinen Erinnerungsfetzen an und Hinweise auf ihren Vater, der bei jeder Gelegenheit prügelte.

Die Protagonistin hat eine umwerfend komische, nüchterne und sehr ehrliche Sprechweise. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und denkt schnell und logisch. Mit Boris lässt es sich für sie schwer an. Ihre stakkatoartigen Sätze enthalten Gedanken und Überlegungen, die sich mit ihren Mitmenschen beschäftigen. Boris ist stolz, und zuweilen lügt er sie an. Bis sie herausfindet, wie er lebt und denkt, dauert es einige Zeit.

Die Art und Weise, in der Annika Büsing ihr Thema angeht, ist reizvoll. Immer wieder bleiben Fragen offen. Der Leser muss sich gedulden, um mehr über Hintergründe der Beziehung zwischen Nene und Boris herauszufinden. Nene wird von ihr so geschildert, dass man tiefe Einblicke in das Seelenleben ihrer Protagonistin bekommt. Sie ist rau, insgeheim zärtlich und liebevoll, dabei brüsk in ihren Äußerungen, und häufig fühlt sie sich einsam. Außerdem ist sie anhänglich und empfindsam. Auf eine verhaltene Art und Weise hat sie einen aufrechten und klaren Charakter. Es ist die vorsichtige Annäherung, mit der Annika Büsing den Leser*in bestrickt. Unter der äußeren Oberfläche schlummern bei Boris und Nene Traurigkeit, Einsamkeit und Verletzungen aus frühen Kinderjahren. Der feine Sarkasmus und die Schüchternheit ziehen beide zueinander hin. Durch das eigene erfahrene Leid ist das Verständnis für den anderen groß. Da sie gelernt haben, ihre Verletzungen zu verbergen, ist der Weg gegenseitiger Annäherung äußerst zurückhaltend. Boris geht allem aus dem Wege. Nene sucht sich Menschen, denen sie vertrauen kann, und zu denen sie eine Beziehung aufbauen möchte. So ist Nene die treibende Kraft, die sich Boris immer wieder zuwendet.

Es ist eine kurze aber sehr anrührende Geschichte, mit denen sich Annika Büsung in ihrem Debütroman ihrem Lesepublikum vorstellt. Man darf gespannt sein auf weitere Romane von dieser Autorin.

Sie leb mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Bochum.

Annika Büsing
Nordstadt
Steidl, Februar 2022
128 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3969990645
ISBN-13: 978-3969990643
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Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

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Gedanken an Gott und die Auslegung religiöser Sprachen.

Im Zwiegespräch mit seiner zwölfjährigen Tochter versucht Navid Kermani, die Welt und die Religionen, vorwiegend den Islam, zu erklären.
Die Frage nach dem „Woher“ und „Wohin“ ist eine Menschheitsfrage von allgemeiner Bedeutung.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was war vor uns und was wird nach uns sein: das sind die Kernfragen unseres menschlichen Daseins. Zahlreiche weitere Fragen schließen sich an. Wie entstand das Universum? Wo fängt es an und wo endet es? Gab es einen Anfang und wird es ein Ende geben?

Kermani versteht es hervorragend, Religionen in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen zu beschreiben.
Ob Hinduismus, Buddhismus, die christliche Religion, der Islam oder das Judentum: eine jegliche Religion hat eigene Gesetze und Normen. Und doch ist nach Kermanis Auslegung allen gemeinsam, dass es sich um „Beziehungen“ handelt. Ob zu Gott, der Unendlichkeit oder dem Menschen in seiner Kleinheit der Unendlichkeit gegenüber: Menschen suchen einen Anhaltspunkt, der ihnen die Welt und das Sein zu begreifen hilft. Dass dabei viele Fragen nicht zu beantworten sind, räumt Kermani in seinen Gesprächen ein.

Navid Kermanis Antworten auf die Fragen seiner Tochter sind so ausgeprägt und beispielhaft, dass auch der erwachsene Leser anhand seiner Erklärungen einen Wissensgewinn erfahren wird. Allerdings ist die Fülle der Beispiele an historischem Wissen und den Ergebnissen religionswissenschaftlicher Forschungen überwältigend.

In wortreichen Beispielen überzeugt Kermani mit seinen detailreichen Kenntnissen, mit denen er den Gott im Islam und den in anderen monotheistischen Religionen zu erklären trachtet. Dabei steht Gott für ihn für vieles, ja für alles, was menschliche Beziehungen ausmachen. Die zitierten Suren des Islam könnten nach Inhalt und in ihrer Bedeutung christliche Bibelverse sein.
Man merkt an den Fragen der Tochter, dass Physik, Quantenmechanik und die Erforschung der Natur als Ganzes in viele Antworten mit einfließen muss.
Zahlreich sind die Beispiele, mit denen der Autor alleine die „Sprache“ in ihrer vielschichtigen Verwendung und Bedeutung beispielhaft erklärt.

Alles in allem ist dieses Buch eine umfassende Geschichte der Religionen und ihrer Bedeutung für den Menschen.
Dass Navid Kermani die Erzählung gelegentlich auflockert, indem er auf die Tochter mit ihren alltäglichen Wünschen eingeht, gibt der ganzen Geschichte immer wieder einen bodenständigen Grundton.
Alles in allem kann man das Buch jedem empfehlen, der sich mit Religionen im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen auseinandersetzen will. Eine Anleitung zum Glauben kann es nicht sein!

Navid Kermani
Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
Carl Hanser Verlag, Januar 2022
240 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446271449
ISBN-13: 978-3446271449
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Deborah Levy: Was das Leben kostet

Deborah Levy: Was das Leben kostet

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Deborah Levy ist eine gefeierte Schriftstellerin.
In ihrem schon 2019 erschienenen hier vorliegenden Selbstbild beschreibt sie ihren Neuanfang nach dem Ende ihrer Ehe.
Es ist ein nachdenklich stimmendes kleines Werk.
Sie hat zwei erwachsene Töchter, von denen eine schon studiert.

Der Neuanfang beginnt mit dem Umzug in ein kleines Holzhaus, das eher schon einem Schuppen gleicht.
Hier richtet sie sich spartanisch ein. Das Haus ist alt, Spinnweben überall und die Kälte der veralteten Heizung kriecht in alle Knochen.
Sie nimmt am Schreibtisch Platz. Hier ist sie ganz bei sich. Sie beschreibt das „Schreiben“ als einen mühevollen Prozess, in dem sich Erfahrung mit Fantasie und Wirklichkeiten mischen.
Nach ihrer Auffassung ist der Reiz des Schreibens “die Aufforderung, hinter die augenscheinliche Wirklichkeit aller Wesen und Dinge vorzudringen“. (S49)

Sie mischt in ihrer Erzählung Eindrücke ihres momentanen Lebens mit den äußeren Bedingungen und mit Erinnerungen an die frühe Zeit ihrer Ehe. Zu gleicher Zeit stirbt ihre Mutter, und sie entdeckt erst spät deren Qualitäten als Mensch und Mutter.

Die Erzählung bietet einen Reichtum an Assoziationen, der ihre Freundesbeziehungen, die Wahrnehmung von Stimmungen bezüglich des Klimas und der Natur und des Sterbens ihrer Mutter betrifft. Einen roten Faden gibt es nicht.

Sie zitiert Beauvoir, Baldwin und Duras bei ihren Einfällen zu Emanzipation, Freiheit und Männerherrschaft. Was ist Freiheit? Und wie lebt sie sich nach zwanzig Jahren Ehe?
Eine Antwort gibt es nicht. Vielleicht gelegentliche Melancholie und Bedauern, dass so vieles nicht gelungen ist.
Mit ihrer Freiheit muss sie sich noch einrichten, das schimmert bei allen Reflexionen durch.

Die Stille, die Vögel im Garten und das Alleinsein zu ertragen will eingeübt werden. Das alles fällt ja zusammen mit dem Älterwerden, auch dieses ein Prozess, der innerlich und äußerlich bewältigt werden muss.

Die richtigen Worte zu finden, um einzelne sie bewegende Begegnungen und Zustände zu beschreiben, das ist die Kunst von Deborah Levy. Dafür mag man sie loben.
Insgesamt aber fehlt ein Schwung, der die Gescshichte erst anziehend machen könnte.

Deborah Levy
Was das Leben kostet
HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH, Mai 2020
160 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3455008925
ISBN-13: 978-3455008920
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Mary Lawson: Im letzten Licht des Herbstes

Mary Lawson: Im letzten Licht des Herbstes

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Eine höchst verwickelte Kleinstadtgeschichte bildet den Rahmen zu dem vorliegenden Roman von Mary Lawson.

Clara lebt mit ihren Eltern in Solace, einem kleinen Städtchen in Kanadas Norden.
Sie steht am Fenster und hält nach ihrer Schwester Ausschau. Rosa hat nach einem Streit mit der Mutter das Haus verlassen und ist seit Tagen verschwunden.
Mittlerweile zieht in das Nachbarhaus ein Fremder ein, denn die Besitzerin Mrs. Orchard ist verstorben. Sie hatte schon lange mit ihrem Mann in Solace gewohnt.

So beginnt Mary Lawson ihren Roman, in der es um Liebe, Vertrauen und drei Personen geht, die das Geschehen bestimmen werden.
Es sind die siebenjährige Clara, Mrs. Orchard und Liam, der eine bestimmende Rolle spielt.
In gewisser Weise sind alle miteinander verknüpft in ihren Beziehungen.

Mrs. Orchard glaubte in ihrer vor langer Zeit neu zugezogenen Nachbarin Annette eine Freundin zu finden. Während Mrs.Orchard keine Kinder bekommen konnte, hatte Annette gleich drei Kinder. Mrs. Orchard merkte bald, dass sich Annette von den Kindern überfordert fühlte und nahm ihr immer häufiger den Sohn Liam ab. Sachte und vorsichtig zog sie Liam in ihr Haus und entwickelt eine innige Beziehung zu ihm.

Liam will dann plötzlich nicht mehr nach Hause, und sein Verhalten führt zu einem großen Eklat, deren Folgen auch Mrs. Orchard zu spüren bekommt. Annette zieht kurz darauf mit ihren inzwischen fünf Kindern und Ehemann fort.

Als Liam schon über dreißig Jahre alt ist, erbt er unerwartet nach dem Tod von Mrs. Orchard ihr Haus. Er wird der Nachbar von Clara und ihrer Familie. An Mrs. Orchard kann er sich nur schwer erinnern, da er vier Jahre alt war, als es zu dem Eklat und Wegzug seiner Familie kam. Sein Leben ist in diesem Moment nach seiner kürzlich erfolgten letzten Scheidung aus den Fugen geraten. Das geerbte Haus will er möglichst bald verkaufen.

Alle diese Alltäglichkeiten werden in belebten Gesprächen und Erinnerungen geschildert.
Mary Lawson spürt den einzelnen Schicksalen nach. Die versteht es vorzüglich, die Verwicklungen kompliziert zu gestalten. Gelegentlich führt das zur Ermüdung beim Lesen. Man muss sich mächtig anstrengen, um auch den Zeitsprüngen in der Erzählung zu folgen. Insgesamt aber hat sie eine psychologisch nachfühlbare Geschichte ersonnen. Der in seiner Kindheit ungeliebte Liam bleibt nach den Aussagen seiner Ehefrau beziehungs-und liebesunfähig. Mrs. Orchard ist als warmherzige Frau der Verführung einer kindlichen Liebe ausgeliefert, so dass sie schließlich selber Liam als ihr Kind ansieht.

Clara ist später das Verbindungsglied in diesem Beziehungschaos, und ihre verschwundene Schwester bildet den kriminellen Hintergrund, der die Spannung steigern soll. Vielleicht ein bisschen viel der Zufälle!

Ob Mary Lawson ihrer Schriftstellerkollegin Elizabeth Strout nacheifern will? Das ist ihr nicht ganz gelungen.
Der Roman bietet dennoch anregende Unterhaltung!

Mary Lawson lebt in Kanada und gilt als angesehene Autorin.

Mary Lawson
Im letzten Licht des Herbstes
Heyne Verlag, August 2021
352 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3453273575
ISBN-13: 978-3453273573
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