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Schlagwort: Sigurd Hoel

Meeting at the Milestone

Meeting at the Milestone

Auf der Oberflächenstruktur ein äußerst spannender Agenten-Thriller zur Zeit der deutschen Besatzung Norwegens, in der Tiefenstruktur eine äußerst komplexe, aber erstklassig komponierte Psychoanalyse!

Sigurd Hoels Okkupationsroman „Møte ved milepelen“ (Begegnung am Meilenstein) erscheint erstmals 1947. Themen des Romans sind Krieg und Faschismus sowie der Vater-Sohn-Konflikt. Ich-Erzähler ist der „Unbefleckte“ (Den plettfrie) und Ausgangspunkt des Romans ist seine Frage, wie es dazu hat kommen können, dass einige seiner Studienkollegen und Freunde zu Nazis wurden, wie es möglich war, dass seiner Zeit nicht nur Kriminelle und Versager, sondern auch höchst ehrbare Bürger zu Landesverrätern werden konnten. Es geht darum, „den Nazismus in unseren Herzen“ zu finden. Dabei spielt der Roman auf drei Zeitebenen: In den 20er Jahren in Oslo, in den 40er Jahren der Okkupation und nach Ende der Besetzung Norwegens durch Deutschland. Der Erzähler jedoch versucht, die verschiedenen Zeiten ineinanderfließen zu lassen, so dass letztlich das Zeitgefühl ausgelöscht wird. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, der „Unbefleckte“ ist 1940 das, was er 1920 wurde. Die Person des Erzählers hat sich in den 20 Jahren nicht verändert. Hoel folgt damit der Theorie der Tiefenpsychologie, die die Jugendjahre in besonderem Maße für die Persönlichkeitsentwicklung verantwortlich macht.

Während des Schreibens merkt der Ich-Erzähler, der selbst Widerstandskämpfer war, dass er außerhalb vom unmittelbaren Vorhaben stehende Vorgänge beschreibt, die später noch von Bedeutung sein werden. Das Schreiben gerät so zur Selbstanalyse, die jedoch nur bis zu einem gewissen Grad erfolgen kann, weil bestimmte – schmerzhafte – Erlebnisse verdrängt werden, da sie nicht ins Selbstbild passen. So gewinnt das Pseudonym „Der Unbefleckte“ im Laufe der Erzählung eine tragisch-ironische Bedeutung aufgrund der Doppelrolle der Hauptfigur, in der der Erzähler gleichzeitig Ankläger und Verteidiger ist. Themen, die in weiter Vergangenheit liegen und verdrängt wurden, sind: Liebesenttäuschungen, sexuelle und religiöse Verklemmungen sowie Gefühle der Heimatlosigkeit des vom Land stammenden Studenten in der Hauptstadt. Der Roman versteht sich als tiefste Analyse des menschlichen Verhaltens unter den Bedingungen des Krieges und der Besatzung in Skandinavien und kreist immer wieder um die psychoanalytischen Fragen: Wie stark können Kindheitserinnerungen und Jugenderlebnisse den späteren Werdegang des Menschen beeinflussen? In welchem Maß formen die Umstände den Charakter? Wie wirken verlorene Hoffnungen und verleugnete Gefühle auf die Psyche des Einzelnen?

Im weiteren Verlauf wird klar, dass die kleinen und großen Lügen und nicht zuletzt der persönliche Liebesverrat die übergeordnete Frage nach Schuld und Verantwortung stellt. „Verrätst du die Liebe, dann verrätst du alles“ heißt das Leitmotiv. Äußere Umstände, von der Gesellschaft diktiert, verhindern in „Begegnung am Meilenstein“ mehrmals eine glückliche, gesunde und harmonische Du-Beziehung. Diese äußere Frustration schlägt in eine innere um und verhindert, dass die Menschen sich in die Gesellschaft einordnen. Es ergeben sich daraus bestimmte Handlungsmuster, denen die Menschen wieder und wieder folgen. Es gelingt ihnen nicht – jedenfalls nicht ohne (psychoanalytische) Hilfe -, diese zu erkennen, geschweige denn zu durchbrechen. Diese Verhaltensmuster, Regeln und Normen – Traditionen – werden von Generation zu Generation weitervererbt und Hoels Weltbild ist pessimistisch: Er sieht nicht, wie der Kreis aus Verrat und Unterdrückung der Triebe und Gefühle durchbrochen werden kann.

Schließlich wird „Begegnung am Meilenstein“ immer mehr zum Individualroman des „Unbefleckten“: Der Verrat der ersten großen Liebe, Identifikationsverlust und Entwurzelung in der Großstadt Oslo werden zu traumatisch verdrängten Erlebnissen, die zum Nazismus führen können. Am Ende erkennt der „Unbefleckte“ selbst seine Mitschuld und bezeichnet den Nazismus als „unser aller uneheliches Kind“. Er erkennt zudem, dass auch die Verräter verraten wurden; sie sind „betrogene Betrüger“. Dabei ist der Vater-Sohn-Konflikt einer der roten Fäden und von zentraler Bedeutung. Der „Unbefleckte“ ist selbst schuldig, weil er unbewusst seinen Sohn verraten hat. Daher muss er später Verantwortung für ihn bzw. für dessen Landesverrat übernehmen. Seine Erkenntnis: Wir sind in unserem eigenen Sinn Kräften unterlegen, die wir selbst nicht kennen.

Im Gegensatz zum Individualroman des 19. Jahrhunderts zeigt dieser Roman das moderne, und das heißt das zersplitterte, entfremdete Individuum. „Begegnung am Meilenstein“ ist aber nicht nur ein herausragendes, sehr komplexes und hervorragend komponiertes Stück Literatur der skandinavischen Zwischenkriegszeit, das ganz der Psychoanalyse nach Freud und Reich verschrieben ist, sondern der Roman ist auch auf der bloßen Oberflächenstruktur ein ausgezeichnet geschriebener Agenten-Thriller, reich an innerer und äußerer Handlung bzw. Spannung. Auch wer sich vor Beginn der Lektüre nicht erst in die Theorien Freuds und Reichs einarbeiten will, wird auf seine Kosten kommen und dennoch neue Einblicke gewinnen.

Wirklich sehr bedauerlich ist, dass der Roman, so weit mir bekannt, nur im Norwegischen Original und auf Englisch erhältlich ist. Auf Deutsch ist er – wenn überhaupt -nur noch antiquarisch verfügbar. Dabei hat der Roman nichts von seiner Aktualität eingebüßt und verdient eine längst überfällige neue deutsche Übersetzung!

Literatur:
Per Thomas Andersen, Kall det hva du vill. Kall det kjærlighet. Et essay om fire kjærlighetsromaner i norsk etterkrigsdiktning.

Barbara Gentikow, Moralisten contra Immoralisten. Zur verbotenen und inkriminierten erotischen Literatur Norwegens. Die Kultur- und Moraldebatte um 1930.

Siri Gullestad, Psykoanalysen som modell for sjelverkjennelse. En refleksion over Sigurd Hoels Møte ved milepelen.

Lars-Erik Johansson, Kompositionen i Sigurd Hoels Møte ved milepelen.

Fritz Paul, Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen.

Audun Tvinnereim, Sigurd Hoel og Wilhelm Reich: Ett kapittel av den norske mellomkrigstidens litteraturhistorie.

Sigurd Hoel
Meeting at the Milestone
Ein Meisterwerk der skandinavischen Zwischenkriegsliteratur! Agenten-Thriller und Tiefenpsychoanlyse in einem – Wie werden Menschen zu Nazisten und Landesverrätern?
ISBN:1892295318
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Ein Oktobertag in Oslo

Ein Oktobertag in Oslo

Ein Oktobertag in Oslo

Oslo in den 30er Jahren: Tordis ist Model in der Modebranche und hat nur einen Makel: Sie ist geschieden – Ein Skandal im Norwegen der 30er Jahre! Aufgrund von verleumderischen Briefen, verfasst von Tordis Nachbarn, verliert sie ihre Anstellung und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Das bringt die übrigen Mieter des Hauses in Aufruhr, denn ein jeder von ihnen hat sich auf seine Weise schuldig gemacht. Als auch der letzte verzweifelte Versuch, zu ihrem Ex-Mann zurückzukehren scheitert, begeht Tordis Selbstmord durch einen Fenstersprung.

Kapitel für Kapitel geht der anonyme, auktoriale Erzähler die Bewohner des Hauses durch und beschreibt jeweils aus ihrer Sicht, wie sie den Nervenzusammenbruch bzw. den Selbstmord erlebt haben. Der gesamte Roman spielt nur an einem einzigen Tag im Oktober, der aber ist einschneidend und zwingt alle Hausparteien zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Leben.

Tordis Ravn ist aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Jugend und ihres Rufes, dem etwas verwegenes inne wohnt – Tordis ist ja geschieden und außerdem Model -, für alle Männer im Haus Freiwild, aber auch die Frauen sind aus denselben oder ähnlichen Gründen auf Tordis fixiert. Einem jeden dient Tordis als Projektionsfläche für seine eigenen verdrängten Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Gefühle. Der seelische Zusammenbruch der scheinbar unabhängigen und emanzipierten jungen Frau fungiert schließlich als Katalysator, der verdrängte Konflikte an die Oberfläche und zur Explosion bringt. So gesteht z.B. die Frau des Grossisten Hammer ihrem Mann, dass sie ihn mit seinem besten Freund betrogen habe. Zwischen anderen Ehepaaren, etwa den Gabrielsens, herrscht längst Schweigen, das auch durch die nahende Katastrophe nur schwerlich oder gar nicht zu durchbrechen ist. Auch die Welt des Bürochefs Ribe und seiner Frau gerät aus den Fugen und führt ihnen schmerzlich zu Bewusstsein, wie trostlos ihr Leben geworden ist, wie wenig Liebe, Wärme und Geborgenheit zwischen ihnen herrscht und dass sich die Jugendträume nicht erfüllt haben. Mit anderen Worten: Der seelische Zusammenbruch Tordis‘ bringt Selbstbetrug, Egoismus, Mangel an Wärme und Liebesfähigkeit in ihren eigenen intimen Verhältnissen zum Vorschein (Fritz Paul).

Der Roman versteht sich als psychoanalytisches Protokoll und gilt als Norwegens erster Kollektivroman. Hoel deckt hier die Scheinmoral der bürgerlichen Ehe auf. Der Roman ist atmosphärisch dicht und ergreifend.

Literatur:

Fritz Paul, Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen.

Sigurd Hoel
Ein Oktobertag in Oslo
Der seelische Zusammenbruch einer jugen Frau zwingt ihre Mitbewohner zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Leben.
ISBN:3453177231
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