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Autor: Pasta

Party-Killer

Party-Killer

Die gefeierte Schriftstellerin Laura Halonen wird 40 – und keinen Tag älter, denn auf ihrer Geburtstagsfeier mischt ein Mörder mit.

Bis es zum Mord kommt, muss sich der Leser allerdings exakt 100 Seiten gedulden und sich durch die Vorgeschichte, in der alle Protagonisten und späteren Verdächtigen vorgestellt werden, lesen. Das ist nicht wirklch spannend.

Spannend sollen wohl die Figuren der Maria Lindén, die Laura auf Schritt und Tritt mit einer Baby-Puppe verfolgt, und der im Rollstuhl sitzende Michael Palmroos sein. Sie sind jedoch so auffällig platziert, dass niemand ernsthaft auf den Gedanken kommt, sie könnten etwas mit dem Mord zu tun haben. Kurz nach Lauras Tod wird auch das Geheimnis der beiden gelüftet, so dass auch dieser klitze-kleine Spannungsbogen wegfällt.

Gerade an diesen beiden Figuren zeigt sich, dass Pakkanen nicht wie ihre skandinavischen Kollegen in der Lage ist unter die Oberfläche zu blicken und in die Abgründe der Seele. Diese beiden wie auch alle anderen Figuren des Romans – Charaktere sind es nicht – gewinnen kaum an Kontur und Tiefe. Alles bleibt sehr oberflächlich.

Die Sprache erinnert eher an die amerikanischen Autoren der sog. Hard-Boiled School – Wem’s gefällt. Bildhafte Ausdrücke oder Metaphern sind jedoch abgegriffen: Das Lachen ist „wiehernd“ und „dröhnt“ durchs Telefon, jemand „faucht“ seine Replik oder „knurrt“ sie und die Dialoge zeugen auch nicht gerade von viel Espirt.

Fazit: Die Geschichte ist nicht nur schlecht erzählt, sie ist auch langweilig erzählt – Tödlich für jeden Krimi!

Outi Pakkanen
Party-Killer
Pakkanens Party-Killer tötet jede Spannung
ISBN:3894255196
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Meeting at the Milestone

Meeting at the Milestone

Auf der Oberflächenstruktur ein äußerst spannender Agenten-Thriller zur Zeit der deutschen Besatzung Norwegens, in der Tiefenstruktur eine äußerst komplexe, aber erstklassig komponierte Psychoanalyse!

Sigurd Hoels Okkupationsroman „Møte ved milepelen“ (Begegnung am Meilenstein) erscheint erstmals 1947. Themen des Romans sind Krieg und Faschismus sowie der Vater-Sohn-Konflikt. Ich-Erzähler ist der „Unbefleckte“ (Den plettfrie) und Ausgangspunkt des Romans ist seine Frage, wie es dazu hat kommen können, dass einige seiner Studienkollegen und Freunde zu Nazis wurden, wie es möglich war, dass seiner Zeit nicht nur Kriminelle und Versager, sondern auch höchst ehrbare Bürger zu Landesverrätern werden konnten. Es geht darum, „den Nazismus in unseren Herzen“ zu finden. Dabei spielt der Roman auf drei Zeitebenen: In den 20er Jahren in Oslo, in den 40er Jahren der Okkupation und nach Ende der Besetzung Norwegens durch Deutschland. Der Erzähler jedoch versucht, die verschiedenen Zeiten ineinanderfließen zu lassen, so dass letztlich das Zeitgefühl ausgelöscht wird. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, der „Unbefleckte“ ist 1940 das, was er 1920 wurde. Die Person des Erzählers hat sich in den 20 Jahren nicht verändert. Hoel folgt damit der Theorie der Tiefenpsychologie, die die Jugendjahre in besonderem Maße für die Persönlichkeitsentwicklung verantwortlich macht.

Während des Schreibens merkt der Ich-Erzähler, der selbst Widerstandskämpfer war, dass er außerhalb vom unmittelbaren Vorhaben stehende Vorgänge beschreibt, die später noch von Bedeutung sein werden. Das Schreiben gerät so zur Selbstanalyse, die jedoch nur bis zu einem gewissen Grad erfolgen kann, weil bestimmte – schmerzhafte – Erlebnisse verdrängt werden, da sie nicht ins Selbstbild passen. So gewinnt das Pseudonym „Der Unbefleckte“ im Laufe der Erzählung eine tragisch-ironische Bedeutung aufgrund der Doppelrolle der Hauptfigur, in der der Erzähler gleichzeitig Ankläger und Verteidiger ist. Themen, die in weiter Vergangenheit liegen und verdrängt wurden, sind: Liebesenttäuschungen, sexuelle und religiöse Verklemmungen sowie Gefühle der Heimatlosigkeit des vom Land stammenden Studenten in der Hauptstadt. Der Roman versteht sich als tiefste Analyse des menschlichen Verhaltens unter den Bedingungen des Krieges und der Besatzung in Skandinavien und kreist immer wieder um die psychoanalytischen Fragen: Wie stark können Kindheitserinnerungen und Jugenderlebnisse den späteren Werdegang des Menschen beeinflussen? In welchem Maß formen die Umstände den Charakter? Wie wirken verlorene Hoffnungen und verleugnete Gefühle auf die Psyche des Einzelnen?

Im weiteren Verlauf wird klar, dass die kleinen und großen Lügen und nicht zuletzt der persönliche Liebesverrat die übergeordnete Frage nach Schuld und Verantwortung stellt. „Verrätst du die Liebe, dann verrätst du alles“ heißt das Leitmotiv. Äußere Umstände, von der Gesellschaft diktiert, verhindern in „Begegnung am Meilenstein“ mehrmals eine glückliche, gesunde und harmonische Du-Beziehung. Diese äußere Frustration schlägt in eine innere um und verhindert, dass die Menschen sich in die Gesellschaft einordnen. Es ergeben sich daraus bestimmte Handlungsmuster, denen die Menschen wieder und wieder folgen. Es gelingt ihnen nicht – jedenfalls nicht ohne (psychoanalytische) Hilfe -, diese zu erkennen, geschweige denn zu durchbrechen. Diese Verhaltensmuster, Regeln und Normen – Traditionen – werden von Generation zu Generation weitervererbt und Hoels Weltbild ist pessimistisch: Er sieht nicht, wie der Kreis aus Verrat und Unterdrückung der Triebe und Gefühle durchbrochen werden kann.

Schließlich wird „Begegnung am Meilenstein“ immer mehr zum Individualroman des „Unbefleckten“: Der Verrat der ersten großen Liebe, Identifikationsverlust und Entwurzelung in der Großstadt Oslo werden zu traumatisch verdrängten Erlebnissen, die zum Nazismus führen können. Am Ende erkennt der „Unbefleckte“ selbst seine Mitschuld und bezeichnet den Nazismus als „unser aller uneheliches Kind“. Er erkennt zudem, dass auch die Verräter verraten wurden; sie sind „betrogene Betrüger“. Dabei ist der Vater-Sohn-Konflikt einer der roten Fäden und von zentraler Bedeutung. Der „Unbefleckte“ ist selbst schuldig, weil er unbewusst seinen Sohn verraten hat. Daher muss er später Verantwortung für ihn bzw. für dessen Landesverrat übernehmen. Seine Erkenntnis: Wir sind in unserem eigenen Sinn Kräften unterlegen, die wir selbst nicht kennen.

Im Gegensatz zum Individualroman des 19. Jahrhunderts zeigt dieser Roman das moderne, und das heißt das zersplitterte, entfremdete Individuum. „Begegnung am Meilenstein“ ist aber nicht nur ein herausragendes, sehr komplexes und hervorragend komponiertes Stück Literatur der skandinavischen Zwischenkriegszeit, das ganz der Psychoanalyse nach Freud und Reich verschrieben ist, sondern der Roman ist auch auf der bloßen Oberflächenstruktur ein ausgezeichnet geschriebener Agenten-Thriller, reich an innerer und äußerer Handlung bzw. Spannung. Auch wer sich vor Beginn der Lektüre nicht erst in die Theorien Freuds und Reichs einarbeiten will, wird auf seine Kosten kommen und dennoch neue Einblicke gewinnen.

Wirklich sehr bedauerlich ist, dass der Roman, so weit mir bekannt, nur im Norwegischen Original und auf Englisch erhältlich ist. Auf Deutsch ist er – wenn überhaupt -nur noch antiquarisch verfügbar. Dabei hat der Roman nichts von seiner Aktualität eingebüßt und verdient eine längst überfällige neue deutsche Übersetzung!

Literatur:
Per Thomas Andersen, Kall det hva du vill. Kall det kjærlighet. Et essay om fire kjærlighetsromaner i norsk etterkrigsdiktning.

Barbara Gentikow, Moralisten contra Immoralisten. Zur verbotenen und inkriminierten erotischen Literatur Norwegens. Die Kultur- und Moraldebatte um 1930.

Siri Gullestad, Psykoanalysen som modell for sjelverkjennelse. En refleksion over Sigurd Hoels Møte ved milepelen.

Lars-Erik Johansson, Kompositionen i Sigurd Hoels Møte ved milepelen.

Fritz Paul, Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen.

Audun Tvinnereim, Sigurd Hoel og Wilhelm Reich: Ett kapittel av den norske mellomkrigstidens litteraturhistorie.

Sigurd Hoel
Meeting at the Milestone
Ein Meisterwerk der skandinavischen Zwischenkriegsliteratur! Agenten-Thriller und Tiefenpsychoanlyse in einem – Wie werden Menschen zu Nazisten und Landesverrätern?
ISBN:1892295318
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Ein Oktobertag in Oslo

Ein Oktobertag in Oslo

Ein Oktobertag in Oslo

Oslo in den 30er Jahren: Tordis ist Model in der Modebranche und hat nur einen Makel: Sie ist geschieden – Ein Skandal im Norwegen der 30er Jahre! Aufgrund von verleumderischen Briefen, verfasst von Tordis Nachbarn, verliert sie ihre Anstellung und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Das bringt die übrigen Mieter des Hauses in Aufruhr, denn ein jeder von ihnen hat sich auf seine Weise schuldig gemacht. Als auch der letzte verzweifelte Versuch, zu ihrem Ex-Mann zurückzukehren scheitert, begeht Tordis Selbstmord durch einen Fenstersprung.

Kapitel für Kapitel geht der anonyme, auktoriale Erzähler die Bewohner des Hauses durch und beschreibt jeweils aus ihrer Sicht, wie sie den Nervenzusammenbruch bzw. den Selbstmord erlebt haben. Der gesamte Roman spielt nur an einem einzigen Tag im Oktober, der aber ist einschneidend und zwingt alle Hausparteien zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Leben.

Tordis Ravn ist aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Jugend und ihres Rufes, dem etwas verwegenes inne wohnt – Tordis ist ja geschieden und außerdem Model -, für alle Männer im Haus Freiwild, aber auch die Frauen sind aus denselben oder ähnlichen Gründen auf Tordis fixiert. Einem jeden dient Tordis als Projektionsfläche für seine eigenen verdrängten Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Gefühle. Der seelische Zusammenbruch der scheinbar unabhängigen und emanzipierten jungen Frau fungiert schließlich als Katalysator, der verdrängte Konflikte an die Oberfläche und zur Explosion bringt. So gesteht z.B. die Frau des Grossisten Hammer ihrem Mann, dass sie ihn mit seinem besten Freund betrogen habe. Zwischen anderen Ehepaaren, etwa den Gabrielsens, herrscht längst Schweigen, das auch durch die nahende Katastrophe nur schwerlich oder gar nicht zu durchbrechen ist. Auch die Welt des Bürochefs Ribe und seiner Frau gerät aus den Fugen und führt ihnen schmerzlich zu Bewusstsein, wie trostlos ihr Leben geworden ist, wie wenig Liebe, Wärme und Geborgenheit zwischen ihnen herrscht und dass sich die Jugendträume nicht erfüllt haben. Mit anderen Worten: Der seelische Zusammenbruch Tordis‘ bringt Selbstbetrug, Egoismus, Mangel an Wärme und Liebesfähigkeit in ihren eigenen intimen Verhältnissen zum Vorschein (Fritz Paul).

Der Roman versteht sich als psychoanalytisches Protokoll und gilt als Norwegens erster Kollektivroman. Hoel deckt hier die Scheinmoral der bürgerlichen Ehe auf. Der Roman ist atmosphärisch dicht und ergreifend.

Literatur:

Fritz Paul, Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen.

Sigurd Hoel
Ein Oktobertag in Oslo
Der seelische Zusammenbruch einer jugen Frau zwingt ihre Mitbewohner zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Leben.
ISBN:3453177231
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Tod eines Kritikers

Tod eines Kritikers

Thematisch brisant – Literarisch unbedeutend

Der populäre Literaturkritiker André Ehrl-König verreißt in seiner TV SPRECHSTUNDE Hans Lachs neuestes Buch. Auf der anschließend stattfindenden Party im Hause des Verlegers, zu der er entgegen den Regeln eingeladen war, stößt Hans Lach Morddrohungen gegen Ehrl-König aus. Am nächsten Morgen ist der berühmte Kritiker verschwunden, nur sein blutdurchtränkter Cashmere-Pullover wird im Schnee gefunden. Hans Lach steht unter Mordverdacht und wird – trotz fehlender Leiche – festgenommen. Sein Freund und Schriftstellerkollege Michael Landolf ist wild entschlossen, Hans Lachs Unschuld zu beweisen.

Was jetzt folgt, ist Walsers ganz persönliche Abrechnung mit dem Literaturbetrieb und mit Erzfeind Marcel Reich-Ranicki. Inhaltlich wäre der Text bedeutungslos zu nennen, wenn nicht der Vorwurf des Antisemitismus im Raum stünde. In der Tat kann man sich fragen, warum Walser Hans Lach seine Morddrohung mit den Worten: „Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. (…) Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen“ aussprechen lässt und damit eindeutig auf Hitler referiert und warum nicht ein einfaches „Ich bring dich um!“ (oder Ähnliches) genügt hätte.

Allerdings taucht Ehrl-König am Ende wieder ganz lebendig und sehr medienwirksam auf und die ganze Erzählung entpuppt sich als „Intervallschachtelung“, als Geschichte in der Geschichte.

Nun kennt aber Walser den deutschen Kulturbetrieb nur zu gut und greift die vor der Publikation in den Feuilletons stattgefundene Debatte bereits im Werk selbst auf. Umso fragwürdiger wird vor diesem Hintergrund Walsers eigenes Handeln, nämlich die bewußte Lancierung des noch mit Korrekturfahnen bestückten Manuskriptes an die F.A.Z. Er hat sich damit selbst sehr bewußt und gekonnt der Mechanismen bedient, der er u.a. in „Tod eines Kritikers“ kritisiert.

Das alles mag man verachtenswert, unmoralisch und/oder provokativ finden, aber ist es auch antisemitisch?

Tatsächlich skizziert bzw. karikiert Walser Marcel Reich-Ranicki sehr rachsüchtig und sehr pointiert – Sowohl als Person als auch in seiner Funktion als der mächtigste deutsche Literaturkritiker. Das allerdings ist für mein Empfinden weder sprachlich noch stilistisch noch inhaltlich besonders spannend oder in nennenswerter Qualität geschrieben. Hier schreibt sich Walser vielmehr seinen Frust von der Seele, aber daran teilhaben muss man eigentlich nicht unbedingt. Die literarische Qualität des Buches ist meiner Ansicht nach eher vernachlässigenswert.

Erzählt wird überwiegend in indirekter Rede, so dass sich der Text nicht sehr flüssig liest – Zumal die Sätze ineinander verschachtelt sind und durch etliche Kommata unterbrochen werden: „Daß der Mächtigste dein Feind ist, ist nicht das Schlimmste, sondern daß er jedesmal wenn er dich erledigt, bevor er dich erledigt, wieder mit zum Himmel gedrehten Augen seufzt, wie ungern er sage, was er jetzt über Hans Lachs neuestes Buch sagen müsse, daß es nämlich von Grund auf mißglückt sei, das über den Fereund Hans Lach zu sagen, den er trotz dieses wieder mißglückten Buches für einen unserer interessantesten, zurechnungsfähigsten Scheriftsteller halte, das schaffe er nur, weil er sich stets der höheren Weisung bewußt sei, daß er zu dienen habe dem Wohl und Gedeihen der deutschen Literatür.“

Überhaupt wirkt der Sprachstil „angestaubt“, altertümlich und gekünstelt: „Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlasst fühle, nicht erwartet muss ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, das auch ohne meine Einmischung schon öffentlich genug geworden zu sein scheint.“ Natürlich liest sich anders. Aber all das ist ja bewußte Attitüde und muss nicht jedem gefallen.

Bleiben einzig und allein Thematik und Inhalt, die das Buch an die Spitzenposition der Bestseller-Liste katapultierten. Zu Recht?

Folgt Walsers – sicherlich stark überzogene – Darstellung des Literaturkritikers tatsächlich einem „geradezu klassichen Muster der Diskriminierung“ wie Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger es entdeckt hat (Spiegel online, 27.06.02)? Karikiert Walser nicht viel mehr Reich-Ranickis signifikante Gestik, Mimik und Aussprache, und zwar weil es Reich-Ranickis Eigenschaften sind, nicht jedoch weil es „jüdische“ Charakteristika sind? Oder leistet die offensichtlich verzerrte Karikatur alten Klischees, Vorurteilen und Diskriminierungsmustern doch Vorschub, weil sie zur häßlichen – gar unmenschlichen – Fratze gerät und weil Walser das „antisemitische Stereotyp (…) vom geilen Juden, der Macht ausübt, die zu haben er nicht legitimiert ist (…)“ bedient (Jan Philipp Reemtsma, Spiegel online 27.06.02)?

Das sind letztlich Fragen, die jeder für sich durch eigene Lektüre und im Austausch mit anderen an Literatur Interessierten beantworten muss. Von großer Bedeutung für die deutsche Literatur wie andere Werke ist „Tod eines Kritikers“ aber sicherlich nicht, denn auch als Schilderung der Machtverhältnisse im Literaturbetrieb und der Mechanismen, die ihn zusammenhalten, liest sich das Buch nur für Insider spannend und amüsant. Der „lediglich“ an der Literatur interessierte und nicht mit allen Intimitäten des Literaturbetriebes bekannte Leser dürfte dabei nicht auf seine Kosten kommen.

Martin Walser
Tod eines Kritikers
Thematisch brisant – Literarisch unbedeutend
ISBN:3518413783
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Kurt Wallanders erster Fall und andere Erzählungen

Kurt Wallanders erster Fall und andere Erzählungen

Was Sie schon immer über Kurt Wallander wissen wollten…

Wallanders erster Fall und andere Erzählungen

Kurt Wallanders scheinbar unscheinbarer Nachbar wird erschossen. Kurz vor seinem Tod hat er noch Edelsteine geschluckt. Ein Mann steigt in ein Taxi und verlässt es nicht mehr lebend. Der Tod eines Fotografen gibt Rätsel auf. Eine zunächst unidentifizierbare Sportmaschine stürzt ab, zwei harmlose Schwestern, die ein Handarbeitsgeschäft betreiben, werden hingerichtet und Kurt Wallander muss seinen Vater aus dem ägyptischen Gefängnis holen.

In vier Kurzgeschichten (die bereits früher und an anderer Stelle in Schweden veröffentlicht worden sind) und einem nahezu ausgewachsenen Roman präsentiert Mankell uns den ganz jungen Polizeianwärter Kurt Wallander: Wie er zur Mordkommission kommt, wie und warum er beinahe erstochen wird und wie er und Mona sich kennengelernt haben.

Mankell arbeitet hier auf vielfachen Leserwunsch Wallanders Biografie auf und füllt Lücken. Die letzte Geschichte, „Die Pyramide“, knüpft nahtlos an den ersten richtigen Wallander-Roman, „Mörder ohne Gesicht“, an.

In „Die Pyramide“ beweist Mankell gar humoristisches Talent, wenn er von Wallanders Vater erzählt, der die Cheopspyramiden besteigen wollte und deshalb im Gefängnis landet sowie von Wallanders Reise nach Ägypten, um seinen Vater gegen Kaution auszulösen.

Stärkste Geschichte ist aber vielleicht die Episode „Der Mann mit der Maske“. Die Erzählung weist in nuce all jene psychologischen Beobachtungen auf, die die Wallander-Krimis auszeichnen. Hier verdichtet Mankell die ganze Komplexität einer Lebens- und Mordgeschichte zu einer eindrucksvollen Momentaufnahme.

Dennoch sind die Erzählungen im Vergleich zu den Romanen um Kurt Wallander schwach. Mankell schafft es – mit Ausnahme der oben genannten Erzählung und „Die Pyramide“ – in der Kürze nicht, all das zu transportieren, was die Wallander-Krimis sonst auszeichnen: Atmosphärische Dichte, Spannung, Entfaltung der Psyche von Tätern, Opfern und Polizei sowie die Reflexion auf Zeit und Gesellschaft.

„Wallanders erster Fall“ ist eine leichte Lektüre für laue Sommerabende oder faule Tage am Strand. Sie strengt nicht an, ist nett zu lesen und mal mehr, mal weniger unterhaltsam – aber unverzichtbar für alle Wallander-Fans, die ihre Sammlung komplettieren wollen.

Henning Mankell
Kurt Wallanders erster Fall und andere Erzählungen
Für echte Wallander-Fans: Der Band schließt biografische Lücken, ist aber bei weitem nicht so stark wie die Romane
ISBN:3552051872
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Die Geisha

Die Geisha

Japan um 1920: Chiyo ist neun Jahre und lebt mit ihrer älteren Schwester, ihrer Mutter und ihrem Vater, einem armen Fischer, in ihrem „beschwipsten Haus“ in einem verlassenen Nest irgendwo an Japans Küste. Die Welt scheint für die kleine Chiyo-chan in Ordnung – bis ihre Mutter im Sterben liegt. Der nette Herr Tanaka entpuppt sich als Kinderhändler und überredet Chiyos Vater, seine beiden Töchter an ein Geisha-Haus, eine Okiya, in der alten Kaiserstadt Kyoto zu verkaufen. Doch nur Chiyo, die überhaupt nicht weiß, wie ihr geschieht, kommt in die Nitta-Okiya, wo die schöne, aber skrupellose und machtbesessene Geisha Hatsumomo regiert. Ihre Schwester dagegen landet in einem billigen Bordell.
Chiyo leidet unter der Einsamkeit, unter der Trennung von Schwester und Eltern und unter den rigorosen und zum Teil grausamen Ritualen und Erziehungsmethoden in der Okiya. Ein Fluchtversuch scheitert und Chiyo wird zur Dienerin degradiert. Eine Zukunft als Geisha scheint damit aussichtslos. Doch dann, eines Tages, erscheint die ebenso schöne wie erfolgreiche und beliebte Geisha Mameha, die in einem ewigen Zweikampf mit Hatsumomo steckt, als rettender Engel und nimmt sich Chiyos an, die als Geisha schließlich den Namen Sayuri erhält. Nach harter Ausbildung und einem gnadenlosen Konkurrenzkampf zwischen Mameha und Hatsumomo auf der einen und Kürbisköpfchen, Hatsumomos Schützling, und Sayuri auf der anderen Seite steigt Sayuri schließlich zur begehrtesten Geisha Kyotos auf. Doch das private Glück bleibt ihr bis ins hohe Alter verwehrt.

Arthur Golden beschreibt eindringlich und anschaulich, wie hart das Leben als Geisha ist. Im wahrsten Sinne des Wortes unschuldig und naiv sind die entwurzelten Mädchen, die in Kyoto zur Geisha ausgebildet werden. Sie leiden unter der Einsamkeit, den harten Ausbildungsmethoden, dem ewigen Konkurrenzkampf und der gnadenlosen Abhängigkeit von den Männern, speziell ihren dannas, denjenigen Männern, die es sich leisten können, eine Geisha quasi als Zweitfrau zu halten und zu finanzieren. Die ganze Qual kulminiert in der Darstellung der mizuage, der Defloration, um die zunächst im Wettkampf geboten wird und die Sayuri mit dem Gleichnis vom Aal, der seine Höhle sucht und markieren will, erklärt wird.

Sayuri ist zu diesem Zeitpunkt erst 15 und erträgt so manche Erniedrigung von Seiten der Männer und die Intrigen ihrer Intimfeindin Hatsumomo nur, indem sie sich in einen Tagtraum flüchtet, der stets nur von dem einen handelt: Von dem Direktor, ihrer großen Liebe, dem sie erstmalig noch als Dienerin zufällig auf den Straßen Kyotos begegnete. Ihr Leben lang hält sie an der Hoffnung fest, dass er eines Tages ihr danna, ihr Quasi-Ehemann, wird. Diese Romanze lässt sie schließlich auch den Zweiten Weltkrieg und die von Armut geprägten Nachkriegsjahre überleben.

Zwar begegnen sich die beiden nach Ende des Krieges wieder, doch als der Kompagnon des Direktors, Nobu, ihr nächster danna zu werden droht, lässt sich Sayuri zu einer Verzweiflungstat hinreißen, bei der sie ihre Existenz aufs Spiel setzt. Doch es gibt für Sayuri und den Direktor ein Happy End.

Dass das so ist, ist wohl vor allem der Tatsache zu verdanken, dass der Autor zwar zunächst vorgibt, mit Sayuri tatsächlich gesprochen zu haben und von ihr gebeten worden zu sein, ihre Memoiren aufzuschreiben. Doch das entpuppt sich am Ende als listige Finte des Autors, der schließlich doch bekennen muss, dass Sayuri nur Fiktion ist. Das erklärt auch so manche Passage, der man stark anmerkt, dass sie vor allem geschrieben wurde, um der eigenen, d.h. Sayuris, Legendenbildung willen. Und es ist auch dieses – typisch amerikanische, ins Kitschige abdriftende – Happy End möchte man sagen, dass einem die Geschichte ein wenig verleidet. Muss das sein, fragt man sich leicht angewidert.

Golden ist kein Faulkner und kein Hemingway. Dennoch liest man das Buch gerne und mit wachsender Begeisterung, weil es uns in eine für uns völlig fremde und zum Teil auch unverständliche Welt und Kultur entführt. Alle Figuren des Romans mit ihren unterdrückten, kompensierten, verdrängten, verstörten und gelebten Träumen, Wünschen, Gedanken und Gefühlen stehen plastisch vor Augen. Der Autor offenbart hier intime Kenntnisse der Rituale der Geisha-Tradition. Die Atmosphäre Kyotos vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist so authentisch und lebendig geschildert, dass man sich augenblicklich dorthin zurückversetzt fühlt.

Golden ist Professor für japanische Geschichte und er weiß, wovon er schreibt. Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum er erst unter Camouflage schreibt, um am Ende doch wieder alles zu demaskieren, jedoch nicht, ohne in der Danksagung so vielen Japan-Kennern und gar einer echten Geisha zu danken, dass man unweigerlich das Gefühl hat, hier will, hier muss sich jemand noch im nachhinein rechtfertigen und uns versichern, dass auch alles seine Richtigkeit hat, auch wenn er uns zunächst mit den Memoiren einer Geisha auf eine falsche Fährte gelockt hat.

Das hätte das Buch nicht nötig gehabt. Auch ohne erzähltechnische Brillanz steht es dennoch aufgrund der Exotik des Themas und der kenntnisreichen Beschreibung von Orten, Unterrichtsmethoden, Zeremonien und Traditionen gut dar. So aber bleibt ein leicht bitterer Nachgeschmack.

Auch das schon weiter oben angeführte Happy End ist einfach zu dick aufgetragen. Immerhin: Schon hier melden sich dem gutgläubigen Leser erste Zweifel, ob denn da tatsächlich alles mit rechten Dingen zugegangen ist oder ob Sayuri der eigenen Legendenbildung willen etwa gelogen habe. Nun, sie hat nicht gelogen, sie konnte ja gar nicht lügen. Ein realistischeres Ende hätte dem Roman gut getan.

Im selben Maße diskreditiert Golden damit auch die Figur der Mameha, Sayuris Lehrerin und seinerzeit Meister-Geisha in Kyoto. Wirkte ihr Erscheinen und Sayuris Errettung durch Mameha bereits vorher aufgesetzt, so verkommt sie am Ende gänzlich zur Deus ex machina, denn es stellt sich zu allem Überfluss auch noch heraus, dass sie stets im Auftrag des Direktors gehandelt hat, der Sayuri ebenfalls seit der ersten zufälligen Begegnung nicht vergessen konnte. Das ist schade um die Figur der Mameha, denn als Sayuris Lehrerin verkörpert sie die Demut und Eleganz in Person, die in einem einzigen Satz die Existenz einer Geisha auf den Punkt bringt: „Wir werden nicht Geishas, weil wir es uns aussuchen können, sondern weil wir keine andere Wahl haben.“ (sinngemäß zitiert)

Fazit: Wer von Anfang weiß, dass es sich nicht wirklich um die Memoiren einer Geisha handelt, sondern sich bewusst auf eine fiktive Geschichte einlässt, die gut recherchiert und mit fundiertem Wissen untermauert ist, ist am Ende gewiss weniger enttäuscht als der zunächst arglose, gutgläubige und unvoreingenommene Leser. Der fremden Welt und Denkmuster willen ist der Roman lesenswert, schwächelt aber in Konstruktion (aufgesetztes Ende) und Stil, wenngleich dieser ausreicht, die Figuren ausreichend lebendig erscheinen zu lassen.

Arthur Golden
Die Geisha
Kenntnisreiche Darstellung einer vergangenen und fremden Welt, jedoch mit erzähltechnischen Schwächen.
ISBN:3442726328
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Der Sterne Tennisbälle

Der Sterne Tennisbälle

Der neue Graf von Monte Christo

Freys neuster Roman ist eine Variation seines Lieblingsthemas: „Nicht wir bestimmen über unser Schicksal, sondern andere Mächte“. Wieder erzählt Frey eine Geschichte (wie in „Geschichte machen“), die absurd und beklemmend, gleichzeitig aber auch rasant und humorvoll erzählt ist.

Ned Maddstone hat alles, wovon andere nur träumen können: Einen Vater im Unterhaus (und damit eine aussichtsreiche Karriere vor sich), eine echte Freundin und echten Sex, er ist sportlich und offensichtlich allseits beliebt. Drei zweifelhafte Geselle („Freunde“) schließen sich deshalb in einer unheimlichen Allianz zusammen, um Ned mal eine Lektion zu erteilen. So schieben sie ihm ein Tütchen Marihuana unter und geben der Polizei einen kleinen Tipp. Doch die Aktion misslingt und Ned gerät in die Fänge des britischen MI5 – und landet damit für 18 Jahre in einem Irrenhaus.

Hier ist es die Figur des skurrilen Babe, die Ned aus dem Tranquilizer-Nebel holt und ihn die Zusammenhänge der Verschwörung erkennen lässt. In Babes Sarg gelingt Ned nach 18 Jahren schließlich die Flucht aus dem Irrenhaus des Dr. Mallo. Er kehrt als unheiliger Racheengel, der nicht länger ein Spielball der Sterne, sondern ein Mann, der seine Geschicke selbst in die Hand nimmt, zurück und startet seinen grandios-grausamen Rachefeldzug – Es lebe der neue Graf von Monte Christo!

Frey versteht es meisterhaft Neds Naivität und sein Ur-Vertrauen in die demokratischen Institutionen offenzulegen, während der Leser schon längst weiß, dass sich die Schlinge um Ned immer enger zieht. Die Beklemmung beim Leser wächst, weil ihn das Gefühl beschleicht, an Neds Stelle genauso gehandelt, gedacht und gefühlt zu haben! Umso größer die Gefühlskonfusion, wenn „Everybody’s Darling“ und Protagonist Ned seinen Rachefeldzug startet: Perfide und mit eiskaltem Kalkül. Aus diesen ständigen Differenzen – Vertrauen und Vertrauensmissbrauch, Schuld und Unschuld, Naivität, Unwissenheit und Wissen – bezieht der Roman zusätzlich zu der Verschwörungsgeschichte auf der Oberflächenstruktur Spannung.

Die englische Schultradition, Upperclass-Themen, Verschwörungstheorien und die Animositäten zwischen Tory und Labour – Freys Lieblingssujets bilden auch hier wieder die üblichen Ingredienzien für einen Roman, der vor frecher Dialoge und britischem Humor strotzt. Fulminant erzählt!

Stephen Frey
Der Sterne Tennisbälle
Es lebe der neue Graf von Monte Christo!
ISBN:3351029292
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Muschelstrand

Muschelstrand

Das Leben ist eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst, eine Spurensuche und ein Prozess der Selbstfindung.

In diesem Sinn kann Maja als Teil der Persönlichkeit der Ich-Erzählerin Ulrika betrachtet werden. Sie ist deren alter ego. Ebenso wie sie als Projektionsfläch von verdrängtem Schmerz der Eltern fungiert. Maja, das „schwarze“ Mädchen aus Indien, gibt somit die dunklen, die verborgenen und unterbewußten Seiten in uns bzw. Ulrika wieder.

Sie nimmt als Adoptivkind die Position in der Familie Gattman ein, die Ulrika gerne besetzen würde. Anne-Marie, Ulrikas beste „Sommerfreundin“, die honiggleiche, unbeschwerte und umschwärmte Anne-Marie, ist die einzige Person, mit der Maja von sich aus Kontakt sucht. Während Maja den Umarmungen und Zärtlichkeiten der Adoptivmutter gleichgültig gegenübersteht, verfolgt sie Anne-Marie auf Schritt und Tritt. So wie auch Ulrika gerne so wäre wie Anne-Marie und jeweils sehnsüchtig den nächsten Sommer herbeisehnt, engeren Briefkontakt während des Winters und etwas mehr Aufmerksamkeit im Sommer wünscht. Sie bedrängt Anne-Marie durch ihre vergleichenden Blicke, durch Bemerkungen wie „Wie ich wohl mit (deinen) blonden Haaren aussähe?“ auf eine psychische Art ebenso wie Maja Anne-Marie physisch verfolgt.

Ausgerechnet am skandinavischen Mittsommerabend – heidnischen Ursprungs und mythisch behaftet aufgrund der sehr speziellen Lichtverhältnisse des skandinavischen Sommers – verschwindet Maja spurlos – nachdem Ulrika nicht nur von Anne-Marie, sondern auch von den übrigen Leuten, die auf der Insel Mittsommer feiern, Ablehnung erfahren hat. Anne-Marie nimmt sie kaum noch wahr, umschwärmt von anderen. Also zieht Ulrika sich schließlich zurück. Auf der psychoanalytischen Seite wird dies wiedergegeben durch das Verschwinden von Maja, das eine Katastrophe auslöst und eine ganze – nur scheinbar intakte Familie – zerstört. Anne-Marie wird von ihrem schlechten Gewissen geplagt, läßt aber in dieser psychischen Notsituation endlich die von Ulrika ersehnte Nähe zu.

Bei den Eltern bricht ein Konflikt auf, der nie verarbeitet, nur verdrängt worden war: die Freigabe ihres ersten Kindes – Lena- zur Adoption, weil es missgebildet o.ä. war. Insofern war schon die Adoption Majas der Versuch einer Wiedergutmachung an Lena. Kinder aber können nie die Fehler der Eltern wiedergutmachen und so ist das Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Die Gattmans – Journalisten! – sind unfähig über ihre Gefühle zu sprechen. D.h. sie sind unfähig, diesen Konflikt nun endlich zu verbalisieren und somit zu verarbeiten.

Die Ehe scheitert, der Vater wird Alkoholiker und endet als Obdachloser auf der Straße, bevor er schließlich stirbt. Bei ihm findet man Textfragmente, Versuche, das „Abschieben“ Lenas doch noch in Worte zu fassen und den Schmerz, die Trauer zu verarbeiten.

Karen Gattman dagegen geht bis an ihre physische und psychische Belastbarkeit, um Maja aus ihrem isolierten Zustand – es wird schließlich Autismus diagnostiziert – zu holen und ruiniert sich schließlich auch finanziell nahezu. Auch dies ein vergeblicher Versuch der Wiedergutmachung, das Geschehene ungeschehen zu machen und stellt zudem eine Art Buße dar. Ruhe findet sie jedoch erst in der Abgeschiedenheit eines Klosters auf Öland. Erst hier ist für Karen Gattman der Prozess der Katharsis abgeschlossen, wenngleich sie sich mit dem Gedanken tröstet, dass Maja bei Lena war und ihr einen Gruß von dort – eine weiße Daunenfeder, Zeichen der Vergebung – mitgebracht hat.
Anne-Marie schließlich tritt die Flucht an, reist nach Amerika und bleibt auch dort.

Ulrika begibt sich im Erwachsenenalter wieder zum Muschelstrand, um die Geschichte erneut aufzunehmen, um Spurensuche in der Vergangenheit zu betreiben – instinktiv, impulsiv, unbewußt, denn dass sie mit ihren Kindern zum Angeln will, ist nur ein Vorwand. Dieses Kapitel in ihrem Leben ist offensichtlich noch nicht abgeschlossen. Um aber ihren Kindern und sich selbst eine Zukunft geben zu können, muss sie der Sache auf den Grund gehen. Erst das Foto von Anne-Marie, das ihr Anne-Maries Bruder Jens zeigt, befreit Ulrika vielleicht vollständig von ihrem „Idol“ Anne-Marie, denn die goldene, honiggleiche Anne-Marie existiert nicht mehr, ist vielmehr zum fettleibigen Monster mutiert.

Auch die erneute Begegnung – Konfrontation – Ulrikas mit Maja, die nun in einer betreuten Wohngruppe lebt, ist in diesem Zusammenhang als Befreiung von alten Wünschen und Projektionen zu sehen, um diese endgültig zu überwinden.

Vielleicht kann sie sich erst jetzt als Kind ihrer Eltern fühlen, denn der sehnliche Wunsch zu den Gattmans zu gehören, resultierte auch aus dem Gefühl, am falschen Platz zu sein, d.h. die „falschen“ Eltern zu haben. Am Ende kehrt Ulrika befreit, gelöst und zufriedener nach Hause zurück – im konkreten wie im metaphorischen Sinn.

Bleibt der „Schatten“ Kristina. Kristina, selbst psychisch labil und krank, wird für Maja zum Kristallisationspunkt. Beide verstehen sich auf anhieb. Sie sprechen dieselbe Sprache, eine Sprache ohne Worte, aber eine von Symbolen durchsetzte Sprache mit leicht morbidem Charakter. Für Maja hat diese Welt offensichtlich nichts beängstigendes, ist Zufluchtsort, an dem sie so sein kann, wie sie ist. Hier wird sie ohne wenn und aber so angenommen, wie sie ist. Vielleicht ist auch Kristina ein Teil der Persönlichkeit Ulrikas? Muss Maja dorthin verschwinden, damit Ulrika endlich die von ihr ersehnte Anerkennung und Aufmerksamkeit von Anne-Marie erhalten kann?

Gleichzeitig zerbricht die Familie Gattman schlagartig. Der Familienzusammenhalt – offenbar nur sehr oberflächlich – hält ausgerechnet einer Krisensituation nicht stand. Alle Familienmitglieder ziehen sich mehr oder weniger in sich selbst zurück, v.a. die Eltern – jeder für sich. Bei den Kindern bilden sich Gruppen: Anne-Marie, Ulrika und Jens. Eva, zurückgekehrt aus dem Kibbuz, versucht vergeblich, die Lethargie zu durchbrechen.
Maja taucht erst wieder auf, als das Ende der Sommerferien naht und Ulrika ohnehin die Gattmans verlassen muss. Ein früherer Versuch, Ulrika nach Hause zu holen scheitert. Sie will nicht, v.a. aber Anne-Marie bittet sie, zu bleiben.

Nun aber, da Ulrika definitiv abreisen muss, kann auch Maja wieder auf den Plan treten. Zurück bleibt eine zerstörte Familie, aber Ulrika gelingt es nun, den ersten Schritt in Richtung Abnabelung von Anne-Marie und ihren Projektionen auf Anne-Marie zu nehmen. Sie kommt aufs Gymnasium und kann erstmals Freundschaften knüpfen. Sie denkt nicht mehr ständig an Anne-Marie (auch wenn sie sie nie ganz vergessen hat; daher die Reise zurück in die Vergangenheit, zurück zum Muschelstrand) und kann ihren eigenen Weg gehen.

Maja konfrontiert alle in der Familie mit ihren dunklen Seiten, mit dem, was verdrängt, aber nie verarbeitet worden ist. Lenas Abschiebung steht all die Jahre unausgesprochen zwischen den Eltern. Wer aber hat sich „schuldiger“ gemacht? Der Mann, weil er seine Frau zur Adoptionsfreigabe überredet, fast gezwungen hat, oder die Frau, weil sie nicht stark genug war, dem zu widerstehen?

Karen erleidet einen Nervenzusammenbruch, der sich zunächst nicht destruktiv gegen sie selber richtet, sondern Ausdruck findet in der Zerstörung fremden Eigentums: sie zerreißt das Kopfkissen und heraus fallen die Federn, die weißen Daunen. – Das ist natürlich auch dramaturgisch notwendig, da nur so Maja mit der weißen Daunenfeder im Haar nach Hause kehren kann und weil Karen nur so Majas Verschwinden und Wiederauftauchen als ein „Besuch“ bei Lena interpretieren kann.
Parallel dazu spielt sich Ulrikas Erwachsenenleben als Ethnologin ab. Diese Berufswahl ist sicherlich nicht zufällig gewählt, wenngleich auch dies möglicherweise einen unbewußten Reflex darstellt.

Bezeichnenderweise aber beschäftigt sich Ulrika als Ethnologin mit den Bergmythen, die davon erzählen, wie Menschen – zumeist Kinder – von Trollen -auf die andere Seite, ins Trollreich, geholt werden. In einer Geschichte, die Ulrika erzählt, ist es so, dass der Mutter das Menschenkind genommen wird, ihr aber dafür das Trollkind in die Wiege gelegt wird. Alles, was die Mutter dem Trollkind -antut – Gutes wie Schlechtes – widerfährt spiegelbildlich dem Menschenkind im Trollreich genauso. Vor diesem Hintergrund ist Karens Interpretation des Verschwindens von Maja zu sehen.

Hinzu kommt, dass Ulrika selbst eine psychoanalytische Deutung dieser Bergmythen gibt. Diese Geschichten sind -uralt und stammen aus einer Zeit, in der die Menschen v.a. noch als Bauern tätig waren (Agrargesellschaft), hart arbeiteten und häufig viele Kinder hatten (keine Verhütung). War die Mutter also damit beschäftigt, vor Sonnenuntergang noch so viel Beeren und Pilze zu sammeln, um alle Mäuler satt zu bekommen, kann sich ein Kleinkind schnell unbemerkt davon machen. Die Erklärung, dass Trolle das Kind entführt hätten, ist für die Familie – v.a. für die Mutter – leichter zu ertragen als die Einsicht, die Aufsichtspflicht verletzt zu haben und das Kind im Wald, frierend und hungernd, herum irren und sterben zu -sehen (vorm geistigen Auge).

Marie Hermanson
Muschelstrand
Ich möchte euch heute ein Buch einer schwedischen Autorin vorstellen, das für mich persönlich zu den besten gehört, die ich je gelesen habe.
ISBN:3518411829
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