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Schlagwort: Psychostudie

Anna Enquist: Die Seilspringerin

Anna Enquist: Die Seilspringerin

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Eine Frau um die 40 Jahre steht am Scheideweg: sie ist eine erfolgreiche Komponistin und sehnt sich zugleich nach einem Kind! Doch stete Selbstzweifel und vermeintliche Empfängnisunfähigkeit behindern die Erfüllung dieses Wunsches.

Anna Enquist entwirft das Bild eines Lebens, das düster und lebensunfroh wirkt.

Alice, der Protagonistin der Geschichte, war der Erfolg als Künstlerin nicht in die Wiege gelegt worden. Ihre Eltern waren bildungsfern und bürgerlich angepasst. Eine gute Erziehung, anständige Manieren und ein anerkannter Beruf gehörten zu ihren Lebenszielen. Diesen Ansprüchen will Alice nicht entsprechen! Schon früh zieht es sie zur Musik!

Mit Energie und Ausdauer hat sie es aufs Konservatorium geschafft. Freundliche Lehrer und Dozenten haben sie gefördert. Die eine oder andere Liebesbeziehung verlief nicht glücklich, und Alice sieht in sich immer noch das ungeliebte Kind. Einmal mehr kann man in diesem Roman erfahren, wie sehr die Herkunft das Leben eines Menschen zu beeinflussen vermag.

Eine psychologische Binsenweisheit besteht in der Tatsache, dass Menschen sich in den Augen des Gegenübers spiegeln. Wer als Kind erfährt, dass man dem Idealbild der Eltern nicht entspricht und dadurch ständige Entwertung erfährt, bleibt lebenslang im Zweifel über den Selbstwert.
Das ist keine gute Voraussetzung für ein glückliches Leben.

Alices Ehemann, ein Finanzjurist, bietet ihr äußere Sicherheit. Er wirkt froh, zufrieden und unbeschwert. Für ihre Arbeit interessiert er sich nur nebenbei. Zunehmend wird die Beziehung zu seiner Frau von deren drängendem Kinderwunsch beeinträchtigt.

Alice begibt sich auf eine Gedankenreise in die Vergangenheit. Sie sucht im Vergleich mit bekannten Komponisten Trost für ihr eigenes Los. Haydn hat es ihr dabei besonders angetan. Die Erfolge in der so genannten E -Musik, die sie unzweifelhaft hat, verblassen angesichts ihrer Selbstentwertung, wenn sie bedenkt, dass sie ihr Geld unter einem Pseudonym mit oberflächlichen Werbemelodien verdient. Schließlich begibt sie sich in Therapie.

Bis zuletzt bleibt Alice trotz ihrer wachsenden Erfolge eine von Selbstzweifeln geplagte Frau. Ihr Wunsch nach einem Kind und ihr zunehmender Ruhm als Komponistin zeigen, dass sie von wechselnden Gefühlsausbrüchen gepeinigt wird. Die Autorin überrascht uns mit einem rätselhaften Ende.

Anna Enquist hatte selber eine musikalische Ausbildung und arbeitete nach ihrem Studium der klinischen Psychologie als Psychoanalytikerin.

Das Können und ihr Wissen über musikalische Prozesse, Kompositionslehre und Entstehungsprozesse von Kompositionen aller Art ist beachtlich. Dazu kommt das Wissen der Autorin über seelische Tiefen und Abgründe, das in ihren Figuren ihren Ausdruck findet.

Der Roman ist tiefschürfend, gibt Anregung zum Nachdenken und ist mit den verschiedenen Erzählsträngen zwischen Kinderwunsch, fortschreitendem Alter und Frau unter mehrheitlich männlichen Kollegen ausgesprochen vielschichtig.

Anna Enquist
Die Seilspringerin
Luchterhand Literaturverlag, März 2024
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630877222
ISBN-13: 978-3630877228
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Jan Costin Wagner: Einer von den Guten

Jan Costin Wagner: Einer von den Guten

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Jan Costin Wagner ist einer der Kriminalautoren, bei denen es um sensible Beobachtung von Tätern wie Opfern geht. So erlebt man es in seinem neuen Roman über einen leitenden Kriminalermittler, der ein Doppelleben führt.

Wie in einem Kammerspiel wird uns von Ben Neven als liebender Ehemann und Vater einer ebenso geliebten kleinen Tochter erzählt.
Ben befindet sich auf einer Fahrt nach Dortmund. Gleich zu Beginn erfahren wir, dass er dort Böses im Sinn hat. Seine Gedanken wechseln zwischen dem erwarteten Ziel und seinem geordneten Zuhause. Es passt nicht zusammen.
In wechselnden Kapiteln werden uns Personen vorgeführt, die in Beziehung zu ihm stehen.

Einmal kommt seine Frau zu Wort; dann ein als „Junge“ bezeichneter Knabe, der auf Ben in Dortmund wartet; schließlich Ben selber mit seinem unguten Vorhaben, einem Laster, dem er wie einem inneren Zwang folgt.
Es gibt die Berufskollegen, mit denen er in besten Beziehungen steht. Einer ist ihm zugetan fast wie einem Sohn.

Allmählich wird uns bewusst, dass Ben als Ermittler im Prostituiertenmilieu arbeitet. Er ist gut in seiner Arbeit, beliebt bei seinen Kollegen und fühlt sich hingezogen zu seinem Heim mit Frau und Tochter.
Der Schleier des Bösen, des verheimlichten Lasters und die Arbeit bringen den Helden in eine immer tiefer greifende mentale Krise.

Wie Wagner die Spieler in diesem ungleichen Spiel auftreten lässt, das zeigt uns einen Autor, der in die Tiefen menschlicher Seelen blicken kann. Das Gute und Böse liegen nahe beieinander. Wie viele Abgründe mögen im nach außen gebotenen biederen Auftreten schlummern?
Fesselnd wird man in eine Entwicklung einbezogen, die die Hauptperson in tiefe Verzweiflung stößt.

Es geht also nicht allein um die Aufklärung eines Kriminalfalls, sondern um den Fall eines von seinen Trieben gezeichneten Mannes.
Die Abgründe im menschlichen Sein aufzuspüren und nicht zu verurteilen, sondern sich um das Verstehen zu bemühen, das ist die Kunst dieses außergewöhnlichen Autors.
Es geht in seinem Roman mehr um eine Psychostudie als um den beschriebenen Kriminalfall.

Der Autor führt uns durch eine Geschichte, in der es so scheint, als könne man nach moralisch verwerflichen Handeln wieder auf den rechten Weg zurückfinden. Doch wie kann man sich täuschen!
Es gibt ausweglose Situationen. Wagner lässt Fragen offen und zeigt uns, dass am Ende nichts mehr sicher ist.

Gerade dieses Ende macht den Roman so bewegend: Subtil und ruhig zeigt die Erzählung, wie wenig wir vom Bösen ahnen, und wie man auch durch Verschleiern der Wahrheit ins Leben zurückfinden kann. Der Zufall spielt keine geringe Rolle.

Sehr lesenswert!

Jan Costin Wagner
Einer von den Guten
Galiani-Berlin, August 2023
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3869712600
ISBN-13: 978-3869712604
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Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht

Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht

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Ein unheimlicher Mann hat einen kleinen Jungen an einem schönen Sommertag mit einem Teddy aus einer Versammlung freundlicher Flohmarktverkäufer weggelockt und in sein Auto verschleppt. So beginnt der Roman von Jan Costin Wagner. Er mündet in eine psychologisch profunde Studie.

Wie geht es weiter?

In Wiesbaden findet im Hof einer Schule ein Flohmarkt statt. Lange Tische und zahlreiche Menschen bevölkern den Platz im hellen Sommersonnenschein.
Die Mutter des kleinen Jungen war nur einen Moment weg. Zuerst langsam, dann immer aufgeregter suchen Mutter, Schwester und Bekannte nach Jannis.
Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Ein großer Teddy ist zurückgeblieben. Er gehörte nicht ihm. Er wurde jedoch mit einem gleichgearteten Teddy weggelockt.

Schließlich wird die Polizei eingeschaltet.
Die zwei Hauptermittler Ben und Christian machen sich auf die Suche. Man recherchiert, wälzt Akten und sucht nach gleich gearteten Fällen und wird tatsächlich fündig.

Vor Jahren schon wurde auf gleiche Weise ein Söhnchen griechischer Einwanderer entführt und nie mehr aufgefunden.
Bemerkenswert sind von nun an die Assoziationen und Gedanken der beiden eingeschalteten Kommissare, wie sie uns Jan Costin Wagner nahebringt.
Sie bewegen sich zuweilen wie im Traum und sehen die Szenen der Entführungen vor ihrem inneren Auge ablaufen. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Gespräche zwischen ihnen, den Vorgesetzten, zwischen der Familie des kleinen Jannis und vielen mehr wird in einzelnen Passagen aufgeblättert. Überschrieben mit den Namen der Hauptbeteiligten steht jeweils eine Figur im Fokus. Unweigerlich bekommt man Einblicke in die Charaktere aller Beteiligten, und es tun sich Abgründe auf, wenn man den inneren Zuständen der Personen näherkommt.

Jeder Mensch hat seine Geheimnisse. Und jeder Mensch verbirgt geheime Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche, Ängste, Trauer und Gefühle der Einsamkeit. An diese heranzukommen versucht Jan Costin Wagner mit seiner subtilen Methode, den Wegen, Träumen und Gedanken der Protagonisten auf die Spur zu kommen. Er beobachtet sie wie im richtigen Leben, indem er Regungen, Bewegungen, Stimmungen bei Sonne und Dunkelheit verfolgt. Wagner überlässt es dem Leser, aus seinen Beobachtungen Schlüsse zu ziehen, was, wer, wann und wo mit den Entführungsfällen zu tun hat. Dieses ungefähre Wabern zwischen den einzelnen Figuren und ihren Gedanken und Gefühlen gibt dem Ganzen einen tiefenpsychologischen Touch, der den Roman so anziehend und faszinierend macht.

Man fühlt sich ganz in den Sog der Geschichte hineingezogen.
Jan Costin Wagner hat seine Psychostudien so lebensnah konstruiert, dass sie dem wahren Leben gleichen.
Das Werk ist literarisch und inhaltlich von ausgezeichneter Qualität. Man kann es nur wärmstens empfehlen.

Jan Costin Wagner
Sommer bei Nacht
320 Seiten, gebunden
Galiani-Berlin, Februar 2020
ISBN-10: 3869712082
ISBN-13: 978-3869712086
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