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Autor: Claudine Borries

Hisham Matar: Ein Monat in Siena

Hisham Matar: Ein Monat in Siena

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Dieses Buch führt uns zurück ins 13.- 15. Jahrhundert in Italien, als dort eine Zeit der Hochblüte wunderbarer Malerei der Renaissance ihren Ausdruck fand.

Hisham Matar war 1989 im Alter von 19 Jahren in Siena gewesen, hatte kurz darauf seinen Vater verloren und besucht nun nach 25 Jahren erneut die Stadt, die ihn s. Zt. so sehr angerührt hat. Er will sich erneut mit der Schule der sienesischen Malerei befassen.
Einen Monat will er sich dort aufhalten.
Im Gegensatz zu den anderen großen Städten Italiens, die vom Adel oder dem Klerus regiert wurden, war Siena eine Republik mit einer Regierung aus Mitgliedern der Bürgerschaft.

Wie Hisham Matar die Stadt beschreibt, wie sie aus vielen Gassen zu ihrem großen runden Platz, dem Piazza il Campo, führt, zeigt einen sensiblen Beobachter, der seine Eindrücke und Reflexionen in Bezug zu seinem eigenen Leben setzt.
Man findet Duccio, die Lorenzettibrüder, Simone Martini u.a. in seinen Schilderungen wieder.

Bekannt und berühmt sind die Fresken im Palazzo Publico von Ambrogio Lorenzetti, in denen er der guten und der schlechten Regierung in seinen Fresken Ausdruck verleiht. Der Autor übersetzt einzelne Szenen und Darstellungen in wortreiche Sprache mit ihrer Bedeutung für den Betrachter. Eigene Überlegungen und philosophische Gedanken ergänzen den Text, der dem Leser die Augen öffnet für die Bedeutung dieser großartigen Malerei.
Einzelne Kapitel öffnen das Herz den vielfältigen Eindrücken, mit denen Hisham Matar seinen Empfindungen von Freude, Trauer, Verlust, Liebe, Einsamkeit und Glück nachhängt.

In gewisser Weise ist es eine sinnliche Geschichte. Sinnlich in dem Sinne, dass der Stadtwanderer physisch jede Gasse, jede Bank oder jeden Ausblick und selbst das Pflaster des Piazza del Campo auf sich wirken lässt. Man spürt eine immer wieder auftretende Ergriffenheit angesichts der Schönheit der Stadt und der sie umgebenden Landschaft.

Selten begegnet er in diesem Monat Menschen. Er will alleine sein und seinen Impressionen nachhängen. Seine höfliche und freundliche Art nötigt ihn gelegentlich zu näheren Kontakten. Dem Reiz von Fremden und deren Schicksalen gegenüber ist er aufgeschlossen. Seine Augen und Sinne scheinen immer wieder hinter Fassaden im wahrsten Sinne des Wortes zu blicken. Er ist hoch reflektiert in der Darstellung seiner Eindrücke.

Es gibt jedoch auch kurze Geschichtshinweise, die einem die Lebensweise der Menschen im Mittelalter nahebringen.
Man möchte jedes Wort der kultivierten Sprache, des feinen Ausdrucks und seiner Bildinterpretationen in sich aufnehmen, behalten und verinnerlichen.
Zuweilen haben mich seine Wahrnehmung der Bildkomposition mit ihrer Aussagekraft regelrecht ergriffen.

Zahlreiche Bildtafeln ergänzen den Text.

Ursprünglich stammt Hisham Matar aus Libyen. Heute lebt er in London. Er wurde mit zahlreichen Auszeichnungen für seine Bücher geehrt.

Hisham Matar
Ein Monat in Siena
Luchterhand Literaturverlag, Mai 2021
160 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630876188
ISBN-13: 978-3630876184
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Lucy Pollock: Das Buch über das Älterwerden

Lucy Pollock: Das Buch über das Älterwerden

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Die in England bekannte Geriaterin Dr. Lucy Pollock hat ein Sachbuch über das Altern geschrieben.
Es zeichnet sich dadurch aus, dass es voller Verständnis, liebevoller Einfühlung und Wissen um die Malaisen des Altwerdens geschrieben worden ist.

Dass wir heutzutage viel älter werden als in vergangenen Zeiten, ist eine Binsenweisheit.
Gerade deshalb sind Einschränkungen in zahlreichen körperlichen Befindlichkeiten fast immer mit diesem langen Leben verbunden. Nur wenigen ist es gegeben, gesund und munter erst hochbetagt zu sterben.

Dr. Pollock erzählt von ihren Erfahrungen und führt Beispiele über ihren Umgang mit älteren Menschen an. Sie berichtet von deren Eigenheiten, Ängsten und Verleugnungen, wenn der Köper unangenehme Erscheinungen aufweist. Auch bezieht sie nahe Angehörige mit ein und bespricht die wichtigsten Fragen und nur verschämt geäußerten Selbstzweifel auf ganz natürliche und ungezwungene Art und Weise.

Die Geriaterin widmet lange Kapitel der Inkontinenz, die mit zu den unangenehmen Begleiterscheinungen des Alterns gehört. Welche Mittel gibt es, um Abhilfe zu schaffen?
Hier setzt die Fachfrau an. Sie beschreibt Medikamente, Physiotherapie und Eigenhilfe, um dem Übel beizukommen. Sie macht Mut, sich mit der neuen Lebenslage auseinanderzusetzen und falsche Scham abzulegen.

Ein sehr langes Kapitel widmet die Autorin Medikamenten, die sich in ungeheurer Zahl über Jahre angesammelt haben. Zuweilen weiß keiner mehr, wofür sie ursprünglich verordnet wurden. Auch die Verträglichkeit der Medikamente untereinander in ihrer Anwendung müssten gründlich erforscht werden. Dr. Pollock geht diesen Fragen mit viel Verständnis für ihr Gegenüber nach. Die Liste der Medikamente werden gemeinsam mit ihrem/ihrer Patient*in besprochen und auf die Notwendigkeit zur Einnahme überprüft.

Nach und nach handelt Dr. Pollock die ganze Liste erwähnenswerter Vorsorgevorkehrungen ab.
Ob Demenz, Patientenverfügungen, Wiederbelebung nach Ausfall wichtiger Organe, Geschäftsfähigkeit und Behandlung multimorbider Krankheitszustände etc.: alles wird gründlich erklärt und mit Beispielen aus der Praxis belegt.

Die Begegnungen mit Patienten*innen und deren Angehörigen während ihrer langjährigen Praxis haben offensichtlich ihr Menschenbild geprägt. Aus Sachfragen werden auf diese Weise lebendige Geschichten mit menschlichem Gesicht. Rührend, anteilnehmend, teilweise gar humorvoll, zeigt sie uns ihre Patienten: wer sie sind, welche Geschichte sie haben, wie sie sich in den jeweiligen Situationen verhalten, wie die Angehörigen reagieren, und wie man sich mit diesen ganzen z.T. schweren Schicksalen auseinandersetzt.

Selbst als Laie ist dieses Buch für alle Angehörigen und vielleicht sogar den/die Leser*in von hohem Interesse.

Ich kann es gerne empfehlen als Hilfe für die langen Jahre, in denen man noch lebt aber schon von zahlreichen Einschränkungen betroffen ist! Dr. Lucy Pollock scheint eine wahre Menschenfreundin zu sein. Sie lebt in Somerset, wo sie sich als Beraterin und Betreuerin für ältere Menschen betätigt.

Dr. Lucy Pollock
Das Buch über das Älterwerden
DuMont Buchverlag, Mai 2021
340 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3832181504
ISBN-13: 978-3832181505
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Laura Imai Messina: Die Telefonzelle am Ende der Welt

Laura Imai Messina: Die Telefonzelle am Ende der Welt

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Was für eine wunderbare Einrichtung das ist! Eine Telefonzelle steht in einem Garten scheinbar am Ende der Welt am Hang des Kujirayama, etwa eine Fahrstunde von Tokio entfernt. Der Wind rauscht und umtost die Telefonzelle, die zahlreiche Menschen tägliche besuchen, um mit ihren verstorbenen Angehörigen nach alter buddhistischer Sitte zu sprechen. Der Garten Bell Gardia muss ebenfalls wunderschön sein.

Bei einem Taifun 2011 sind unglaublich viele Menschen umgekommen. Auch Yui, die Moderatorin des Radios, macht sich eines Tages auf zu diesem bezaubernden Ort, denn sie hat Mutter und kleine Tochter bei dem Tsunami verloren. Sie lernt den Arzt Takeshi kennen, der nach seiner verstorbenen Frau forscht. Beide beginnen einen vorsichtigen Kontakt miteinander.

Eingeflochten in die Erzählung erlebt man weitere handelnde Personen, die mit Mutter oder verstorbenen Kindern sprechen wollen. Das alles wirkt wie ein Traum!

In einer langen, gut erdachten Geschichte erhält man einen Blick auf Japan, wie man sich das Land herkömmlich vorstellt: zarte menschliche Umgangsformen, sehr höflich und zurückhaltend. Doch die Leiden und Freuden der Welt bleiben sich am Ende immer gleich. Yui ist eine äußerst empfindsame Person und Takeshi ein rücksichtsvoller und liebevoller Mann. Beide fahren drei Jahre lang zu dieser Telefonzelle, um sich mit Menschen zu treffen, die fast alle einen Verlust zu beklagen haben. Insofern ist es der Tod, der die Erzählung mitbestimmt. Aber nicht nur! Die Hoffnung auf einen Neubeginn ist immer mit dabei.

Laura Imai Messina, die Autorin des Buches, ist schon in jungen Jahren zum Studium nach Japan gegangen und lebt heute dort mit Mann und zwei Kindern. Wenn man ihre Erzählung liest, kann man schon verstehen, wie sehr sie vom Leben und der Schönheit des Landes entzückt war und ist. Die Zartheit im Umgang der Menschen miteinander, die ausgeprägte Selbstdisziplin, die ästhetischen Farben der Landschaft und so vieles mehr zeigen uns ein Land, in dem die Menschen nicht laut und dröhnend sind. Messina gibt dem vornehmen und eher zurückhaltenden zwischenmenschlichen Ton Raum. Alle Personen haben in ihren Erinnerungen an die Verlorenen eigene Vorstellungen. Es gibt den Verlust des Glücks, die Schuldgefühle über begangenes Unrecht und eine äußerst liebevolle Sehnsucht nach all dem Vergangenen. Keiner mag wirklich glauben, dass die Liebsten für immer verloren sind.

Laura Messina besitzt eine ausdrucksvolle Sprache, mit der sie die Poesie der japanischen Seele einfängt.
Ihre Liebesszenen sind diskret und zeugen von einer sensiblen Sprachkultur. Gebannt schaut der Leser auf das Geschehen, das diese ruhigen, beschaulichen Landschaftsbilder zu Zeiten in böse, alles zerstörende Orkane verwandeln kann.
Die ganz und gar ungewöhnliche Liebesgeschichte gibt der Erzählung das Gerüst und bietet den roten Faden, mit dem man das Erlebte nachempfinden kann.
Es ist eine von tiefer Empathie getragene Geschichte.

Schon das Deckblatt bietet einen Blick auf eine Telefonzelle, die wie verlassen im leeren Raum steht. Ein zarter Zweig mit rosa Blüten weist in ihre Richtung.

Im Anhang findet man Erklärungen zu japanischen Wörtern und Symbolen.

Laura Imai Messinas Roman war lange auf den Bestzellerlisten in aller Welt.

Laura Imai Messina
Die Telefonzelle am Ende der Welt.
btb Verlag, März 2021
352 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3442758963
ISBN-13: 978-3442758968
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Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

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Es gibt Bücher, die lösen Glücksgefühle beim Leser aus.

Gabriele von Arnims vorliegendes Buch ist so eines.
Nicht, weil es eine schöne, leichte Geschichte ist, sondern im Gegenteil: weil man ein Schicksal von ungeheurer Tragweite in einer Sprache und reflektierten Wiedergabe erzählt bekommt, wie sie vergleichbar kaum vorkommt. Am ehesten ist die Amerikanerin Joan Didion noch mit diesem Stil gleichzusetzen.

Aber beginnen wir von vorn.
Gabriele hat ihrem Mann gesagt, dass sie nicht länger mit ihm leben kann.
Spät abends erfährt sie, dass ihr Mann im Krankenhaus liegt.
Er hatte einen Schlaganfall.

Es beginnt eine Zeit, die sich keiner vorstellen mag. Noch zahlreiche weitere gesundheitliche Einbrüche folgen dem ersten. Er bleibt viele Wochen im Krankenhaus. Erst nach und nach wird erkennbar, wie geschädigt sein Gehirn ist.

Mit eindringlichem Ton und in abwägenden Worten erzählt Gabriele von Arnim über ihren Mann, wie er war, was sie vermissen wird, wie ihm die „Gefangenschaft“ im eigenen Körper zur Qual wird. Er, ein freiheitsliebender Mensch, ein Redner und Diskutant par excellence, wird nie wieder richtig artikulieren können; er wird nicht lesen und nicht schreiben können, keinen Sport mehr treiben können und lebenslänglich auf körperliche Hilfe angewiesen sein. Dazu bleibt er im Geist und Verstand wach und präsent.

Wie von Arnim sich der Tragödie nähert; wie sie ernst und aufrichtig, gescheit und ehrlich die verschiedenen Phasen dieser Jahre andauernden Leidenszeit schildert: das zeigt uns eine Frau von außerordentlicher Bildung und großer Charakterstärke, die Zitate vieler Autoren parat hat, mit denen sie ihre eigenen Gefühle jeweils noch untermauern kann.

Es ist überwältigend, wie sie auch intimste Gedanken preisgibt, von Stimmungsschwankungen berichtet und über die wechselnden Phasen sich selber fast vergessen hat. Es ist aber auch das Bekenntnis zu einer innigen Liebe, die im Angesicht dessen, was sie zusammen durchmachen, noch an Intensität gewinnt.

Die Erzählung geht ans Herz und öffnet dem Leser, der vielleicht vergleichbare Erfahrungen hatte, die Möglichkeit, in Gedanken just die gleiche Leidenszeit in passende Worte gefasst zu finden.

Viel mehr mag man nicht sagen, weil im Angesicht der Schwere dieses Schicksals jedes Wort aus fremden Mund zu viel sein könnte!

Gabriele von Arnim
Das Leben ist ein vorübergehender Zustand
Rowohlt Buchverlag, März 2021
240 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3498002457
ISBN-13: 978-3498002459
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Juli Zeh: Über Menschen

Juli Zeh: Über Menschen

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In ihrer unübertroffen leicht ironischen Sprache erzählt Juli Zeh wieder einmal über Menschen.

Wir sind in der Jetztzeit angekommen. Es herrscht Corona all überall.

Dora, ca 36 und Texterin von Beruf, ist von Berlin aufs Land gezogen. Warum? Sie wollte weg von ihrem Freund mit seinen Klimagedanken und seiner Unruhe. Jetzt lebt sie in Bracken, einem kleinen Dorf in Brandenburg.
Das Haus, das sie erworben hat, besitzt noch wenig Charme aber einen großen Acker, den sie zu bestellen gedenkt.
Ein seltsamer Kauz bewohnt das Nebenhaus. Er streut rechtes Gedankengut aus.
Sie beobachtet fleißig, was um sie herum geschieht. Das ist zumeist gar nichts.

Zu ihrer Geschichte sei noch kurz angemerkt, dass ihre Mutter tot, der Vater ein angesehener Neurochirurg und der Bruder ein ausgemachter Faulpelz ist.

Wie lebt es sich in ihrem neuen so ungewöhnlichen und von der Großstadt Berlin mit seiner Hektik entfernten Umfeld?
Juli Zeh nutzt die Erzählung, um in kurzen Kapiteln, die kleinen Geschichten gleichen, ihre zutreffenden gesellschaftlichen Beobachtungen zu machen.

Während ihr Roman „Unter Leuten“ eine Vielzahl von eigenbrötlerischen Gestalten mit besonderen und sehr unterschiedlichen Charakteren in einem Dorf vereint, geht ihre Protagonistin Dora einen ganz eigenen Weg.
Sie will ihre Individualität leben und sich von niemandem vereinnahmen lassen.
Das fängt bei ihrem Freund Robert an und hört bei ihrem Bruder Axel auf, der als Hausmann nur allzu gerne sie als Tante und Babysitter für seine Kinder einsetzen möchte.

Die Kunst von Juli Zeh besteht im Wesentlichen darin, dass sie jede Gelegenheit nutzt, um auf die Defizite menschlicher Verhaltensweisen in ihren stets gelungenen Analysen hinzuweisen.
Ob es die einsame Dora mit ihrem Hund Jochen- der- Rochen oder die komplizierte Beziehung zu ihrem der Apokalypse verfallenen Freund Robert ist: mit einer neben der Ironie oft Witz versprühende Diktion ist sie in ihren Schilderungen punktgenau und intelligent.
Sie sieht sehr genau hin und vergisst das Unglück nicht, in dem sich Seelen häufig verfangen.

Gote, der skurrile Nachbar, bei dem ein AFD Schild an der Haustür prangt, und die beiden verbundenen Kerle, die ebenfalls Zweifel am politischen Tun äußern, gehören zu ihren Dorfbetrachtungen. Zugleich sind alle erstaunlich hilfsbereit. Der Zwiespalt und die Widersprüchlichkeit menschlichen Tuns wird immer wieder in einzelnen Szenen festgehalten.

Juli Zeh zeigt die menschliche Seite und verlässt ihren sarkastischen Stil, als sich so einiges Unvorhergesehenes ereignet.
Wie immer sieht sie beide Seiten des Menschen: Unglück und Glück, Hilfsbereitschaft und Takt. Und wie immer stoßen Menschen an Grenzen.

Ein wenig umfangreich ist das Buch mit 412 Seiten geraten. Eine gewisse Kürzung hätte ihm nicht geschadet.
Dennoch volle Empfehlung von mir!

Juli Zeh
Über Menschen
Luchterhand Literaturverlag, März 2021
416 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3630876676
ISBN-13: 978-3630876672
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Helga Schubert: Vom Aufstehen

Helga Schubert: Vom Aufstehen

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Sie ist alt geworden! Und jetzt kommen ihr so viele Erinnerungen an ihre Heimat, ihr Leben in der DDR, Überwachung durch die Stasi und die Wende 1989!

Nun sollte alles anders werden.

In einer wunderbaren Sprache erzählt uns Helga Schubert, wie sehr sie das Land liebt, in dem sie lebt. Vor-und Hinterpommern, später Mecklenburg sind ihre Sehnsuchtsorte aus der frühen Kindheit. Über die Weiten der Felder und das Aufwachen in der Hängematte im Garten ihrer Großmutter in den Sommerferien in Greifswald erzählt sie voller Hingabe. Und wie man im Winter durch die zugefrorenen Furchen des Ackers gehen kann. Imme wieder blitzen die Erinnerungen über die Schönheit des Landes auf.

Schon die ersten Sätze des Buches voller Erinnerungen sind bestrickend und ziehen uns zu dieser Frau hin, die mit so viel Wärme zu erzählen weiß. Die Großmutter ist die Mutter von Helgas Vater, der im Krieg gefallen ist, und auf den die Großmutter so stolz war. Zu ihrer Schwiegertochter, Helgas Mutter, pflegt sie keinen Kontakt.

Helga Schubert fallen so schöne kleine Gedichte ein, die sie als Kind lernte! Das ist rührend mit zu erleben. Die Sommer ihrer Kindheit bei der Großmutter waren glücklich, und „sie fühlte sich geborgen bei einem unsichtbaren Vater“.

Das Leben als Schriftstellerin in dieser DDR war ein Leben, wie sie schreibt, in dem sie sich in verschiedenen Rollen fühlte. Sie war Mitglied der Kirche, sie zitiert kenntnisreich sicher Zitate aus der Bibel und von Brecht, aber auch von längst vergangenen Berühmtheiten wie Heine und Kleist; und sie spricht über den Besuch von der Mayröcker, die spontan sagt „hier könnte ich nicht leben“.

Sie darf abwechselnd als gerühmte Schriftstellerin ausreisen, ein anderes Mal nicht. Es ist ein unsicheres Pflaster, auf dem man sich als SchriftstellerIn bewegt.

Das Buch atmet den Geist der Vergänglichkeit! Der Vater, der so früh im Krieg fiel, und von dem sie nur aus Erzählungen erfährt. Großmütter, die starben, Verwandte, die sie und die Mutter auf der Flucht zurückließen; kann man sich in so einem Leben überhaupt freuen?

Ja, sie hat Erfolg als Schriftstellerin, und sie hat einen langjährigen Gefährten, um den sie sich im Alter sorgt, und den sie versorgt.

Über der ganzen Erzählung liegt ein Schatten von Melancholie. Assoziativ folgt eine Erinnerung der nächsten. Eine kalte und böse Mutter hat es ihr schwergemacht, diese zu akzeptieren. Zu ihr blieb das Verhältnis zeitlebens getrübt. Sie fühlt diese Beziehung als Last und Schuld, mit der sie nicht umzugehen weiß.

In der Kirche sucht sie Trost, findet ihn höchstens in den Versen von Bonhoeffer und Paul Gerhard.

Gegenwart vermischt sich mit Vergangenem, Liebevolles mit Boshaftigkeit.

Man folgt diesen Reflexionen und empfindet mit, wie sie die Jahre mit den Erschwernissen von Vertreibung, Flucht und Neubeginn überlebt und eine anerkannte Schriftstellerin wird. Es ist ein zu Herzen gehendes Vermächtnis, das sicher Leser mit ähnlichen Erinnerungen ansprechen wird. Aber auch andere, die sich auf Erinnerungen über das Altwerden einlassen wollen, werden dieses Buch gerne lesen. Ich empfehle es sehr!

Helga Schubert
Vom Aufstehen
dtv Verlagsgesellschaft, März 2021
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423282789
ISBN-13: 978-3423282789
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Lori Gottlieb: Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden

Lori Gottlieb: Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden

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In diesem Buch kann man lernen, was Therapie für den Menschen bedeuten kann! Es gleicht stellenweise einem Sachbuch über den Verlauf von Therapien.

Lori Gottlieb ist Therapeutin und gerät selber in eine psychische Krise. Sie weiß sich keinen Rat, als eine Freundin ihr zuredet, sich therapeutisch helfen zu lassen. An wen aber kann sich eine Therapeutin wenden?
Nahestehende Kollegen dürfen es der mangelnden Distanz wegen nicht sein.
Lori beschreibt ihre Verzweiflung und ihre Suche nach einem für sie geeigneten Therapeuten.

In den folgenden Kapiteln wechseln Erfahrungen als aktive Therapeutin mit denen, sich selbst als Ratsuchende in einem therapeutischen Prozess zu befinden.

Spannend sind therapeutische Prozesse schon deshalb, weil sie die intimsten Gedanken und Gefühle zwischen Klient und Therapeut beleuchten. In den Falldarstellungen von Lori Gottlieb werden Nöte der Klienten so beschrieben, dass man jeweils mit Spannung deren weiteren Verlauf nachgeht.

Die Autorin beschreibt, wie Therapeuten in einer möglichst neutralen Position bleiben, um sich ganz auf das Gegenüber einzulassen. Projektionen sind Teil eines Geschehens, in dem es um die Aufschlüsselung verborgener Erlebnisse und Erinnerungen geht. Der Therapeut hört zu, nimmt das gesprochene Wort und bemüht sich um die Wahrnehmung unausgesprochener Gefühle, um seine Beobachtungen mit eigenen Worten dem Klienten widerzuspiegeln.

Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient spielt eine herausragende Rolle.
Ist man sich sympathisch? Meint man, dass sich ein Gesprächsklima entwickelt, in dem man mit Mitteilungen, Fragen und Einfühlung an die Wurzeln verschütteter Erinnerungen gelangen kann? Diese bieten fast immer den Schlüssel zu dem, was gegenwärtig passiert.

Fachbegriffe wie Übertragung und Gegenübertragung sind ebenso Thema wie die so genannten blinden Flecken, mit denen eigene unbewusste Erfahrungen mit denen der Ratsuchenden kollidieren.

In Kontrollstunden, Supervision genannt, die verantwortungsbewusste Therapeuten fast immer besuchen, gelingt es häufig, die Verknotungen und dunklen Seiten auf dem Weg zur Erkenntnis zu lichten. In der Gruppe können die Einfälle beobachtender Kollegen Wegweiser zu weiterem Vorgehen werden.

Lori Gottlieb hat eine überzeugende Art, mit Originaltexten, Gesprächen und zahlreichen menschlichen Begegnungen den Therapievorgang mit Leben zu füllen.
Dass sie sich selber einschließt, zeigt die menschlichen Seite des Erlebens.

Es ist eine aufschlussreiche Darstellung therapeutischer Prozesse und ihrer Folgen für den Ratsuchenden. Man kann über dieses Buch etwaige Ängste vor Therapien überwinden und den möglichen Bedarf einer eigenen Therapie zuversichtlich entgegensehen.

Lori Gottlieb
Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden
hanserblau, 6. Edition, 27. April 2020
496 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446266046
ISBN-13: 978-3446266049
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Benedict Wells: Hard Land

Benedict Wells: Hard Land

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Benedict Wells hat einen Coming-of-Age Roman geschrieben. Er kann das, wie er schon in seinem Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ bewiesen hat.

Ein Junge von 16 Jahren lebt in einer kleinen Stadt in Missouri. Sam, so heißt unser Held, ist der Icherzähler in diesem Roman. Es geht ihm nicht gut, denn seine Mutter ist schwer krank, und er lebt ein Eigenleben ohne Kontakte zu anderen Jugendlichen und Mitschülern. Seine Eltern würden ihn gerne in den Sommerferien zu Verwandten schicken, um ihm die freie Zeit zu erleichtern. Doch er zieht den Job in einem Kino vor. Dort lernt er einige ältere Jungen und Mädchen kennen und schließt sich ihnen an. Ein vielversprechendes Abenteuer beginnt.

Er lernt Filme, einschlägige Schlager und Kraftausdrücke kennen. Vor allem aber lernt er Kirstie und ihre Freunde kennen und darf schon mal mit ihnen Alkohol trinken und die erste Zigarette rauchen.

Als er eines Tages spät abends auf einem Friedhof in der Nähe seines Elternhauses sitzt, denkt er daran, wie wenig ihn sein Vater versteht. Er fürchtet seinen Zorn und seine Kälte. Von weitem sieht er Kirstie kommen. In seiner schüchternen Art ist er ihr mehr als zugeneigt. Sie erfährt seine Geschichte und hört ihm aufmerksam zu. Kristie hört auch von seiner älteren Schwester, die nicht mehr zu Hause lebt, studiert und ihm so fremd ist. Am meisten bedrückt ihn die Angst um seine Mutter. Sie ist unterschwellig immer da, und er fürchtet, dass er sie verlieren wird.

Tief in seinem Inneren ist er ein einsamer und trauriger Junge, der seinen Weg sucht.

Benedict Wells versteht traurige junge Menschen. Er kann sich in sie einfühlen und gibt ihnen eine Stimme. Trauer, Tod und Verlust zeigen die eine Seite des Erwachsenwerdens. Die andere besteht in den Begegnungen mit Freunden. Sam erlebt herrliche Abende, in denen die Jungs und Kirstie Unternehmungen starten, die ihn in ihre Welt mitreißen. Er erlebt Momente großen Glücks in ihrem Kreis.

Benedict Wells schildert Sam als einen nachdenklichen und reflektierten Burschen. Er beobachtet alles mit wachem Sinnen und findet in Kirstie eine Gleichgesinnte. Sie sitzen häufiger am Abend oder in langen Nächten zusammen und denken über das Leben und ihre gemeinsamen Erfahrungen nach. Kirstie gilt seine stille Liebe. Er ist nicht selbstbewusst und fühlt sich körperlich und seelisch den anderen „Nachtgefährten“ unterlegen. Die Jungen und Mädchen, mit denen er sich befreundet hat, gehen bald schon aufs College, während er noch weitere Jahre zur Schulen gehen wird.

Wie Benedict Wells in die Welt der Heranwachsenden eintaucht, ihre ständigen Schwankungen und deren Stimmungen nacherzählt, das zeigt sein Können. Zarte Begegnungen wechseln mit solchen, in denen es um Selbstdarstellung geht, besinnliche Momente und Mutproben erscheinen neben denen, in denen die Selbstzweifel vorherrschen. Wells erfasst die ganze Tragweite einer unruhigen und vorwärtsstrebenden Jugend. Sam wird in seiner erwachenden Männlichkeit mit wechselnden Phasen beschrieben. Er und seine Freunde und Freundinnen blicken mit Neugier und gleichzeitig Zaudern in die Zukunft. Die innere Befindlichkeit ist noch gefangen bei den Eltern und zugleich auf dem Absprung aus deren Dunstkreis. Man erlebt mitreißend den Prozess des Aufbruchs. Besonders die nachdenklichen Phasen zwischen Mutter und Sohn und Kirstie und Sam rühren an das Herz des Lesers. In diesem Roman ereignet sich viel. Die tiefsinnigen Gedanken der Protagonisten zeugen von Mitgefühl, Verständnis bis Missverstehen und Versöhnung. Alles könnte so im wirklichen Leben spielen.

Der Roman bestrickt u.a. durch seine Themen Neugier, Aufbruch, Anteilnahme, Freundschaft und Abschied. Man kann ihn uneingeschränkt empfehlen.

Benedict Wells
Hard Land
Diogenes, Februar 2021
352 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257071485
ISBN-13: 978-3257071481
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Mirna Funk: Zwischen Du und Ich

Mirna Funk: Zwischen Du und Ich

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Noam und Nike sind die Nachfahren von Holocaustopfern. Sie haben schon einiges in ihrem Leben hinter sich, als sie sich in Tel Aviv begegnen.
Nike ist als Jüdin in Ostberlin zwischen Mutter und Großmutter aufgewachsen. Beide Frauen sind sehr dominant. Nike schreibt in der Ichform über ihre vergangenen Jahre. Es war kein glückliches Leben, und sie lebt jetzt lange Zeit schon alleine. Gute Freundinnen sind ihre Gesprächspartnerinnen.

Sie ist zur Vorbereitung einer Konferenz des DAAD nach Israel gekommen. Oder ist sie gar vor ihrer Vergangenheit mit einer unglücklichen Liebe dahin geflohen? Vieles bleibt unausgesprochen und ergibt sich aus Andeutungen und Gesprächen mit ihren Freundinnen.

Noam ist Journalist bei der Zeitschrift Haaretz, ein Job, den er gerade aufgegeben hat. Er hat ein skurriles Familienleben. Mit seinem Onkel Asher teilt er sich eine Wohnung in Tel Aviv. Sein Vater ist tot, und seine Mutter hat die Familie früh verlassen. Er war der unüberlegten Gewalt von Sportlehrer und Onkel ausgesetzt.

Je mehr die beiden über die Vergangenheit erfahren, desto schwieriger zeigt sich das Zusammenleben für sie.

Voller Sehnsucht und Hoffnung nach vorangegangenen Enttäuschungen suchen sie Nähe und Glück beieinander. Die Annäherung erfolgt scheu und vorsichtig. Als Leser hofft man, dass die Beziehung beiden Protagonisten Erfüllung bringen möge.
Die poetischen Einschübe mit der Freude über das Meer, Sonnenuntergänge und schöne gemeinsame Stunden nähren diese Hoffnung.
Wie aber können zwei so unterschiedliche Charaktere zusammenfinden?

Da man in langen Passagen immer wieder mit Andeutungen auf die verschiedenen Lebensstationen der beiden gestoßen wird, fällt es anfangs schwer, sich ein zusammenhängendes Bild zu machen. Der herbe Umgangston mit Rosa, Nikes Großmutter, ist bedrückend. Und dem Missbrauch und der Gewalt, denen Noam schon als Kind ausgesetzt war, lässt Bitteres ahnen.

Mirna Funk hat einen Roman geschrieben, der jüdisches Leben heute zum Thema hat. Bedrückend bleiben in der Erzählung die Umstände von Geburt und Tod, Einsamkeit, Gewalt und Sex.

Nach Mirna Funk wird das Leben mit bestimmt durch jüdische Feiertage, den Ritualen der Feste und religiösen Regeln auch bei jenen, die nicht mehr glauben. Diese Tage sind die einzigen sicheren Konstanten im Leben. Unterschwellig spürt man die Wut, den Zorn und die Zerstörungskraft der handelnden Personen über all das Vergangene. Gefangen in den Stimmungen unbewältigter Ereignisse lässt sich ein wirkliches Glück nicht erfahren. Insofern verspricht die Geschichte keine Hoffnung auf Erlösung aus den Fallstricken vergangenen Unglücks. Die Traumata ganzer Generationen lassen sich nicht auslöschen.

Es ist ein ehrliches Buch. Traurigkeit liegt über der Erzählung und man mag ahnen, wie es sich als Jude/ Jüdin mit der schweren Bürde unvorstellbarer Gräuel der Vergangenheit lebt. Man sollte den Roman lesen, um die Geschichte der Juden nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Mirna Funk
Zwischen Du und Ich
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2021
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423282673
ISBN-13: 978-3423282673
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Johann Scheerer: Unheimlich nah

Johann Scheerer: Unheimlich nah

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Ein Junge von 13 Jahren erlebt eine unheimliche Geschichte: sein Vater ist entführt worden. Sein Vater heißt Jan Philipp Reemtsma. Er ist reicher Erbe einer Zigarettendynastie, Wissenschaftler und Mäzen.
Im Alter des Jungen beginnt man gerade, sich von seinen Eltern abzunabeln. Jetzt aber gilt es für ihn, ganz nah mit der Mutter das Ende der Geschichte abzuwarten.

Als der Vater wieder frei ist, steht bei allen Beteiligten die Welt auf dem Kopf.
Das Elternhaus in einem vornehmen Hamburger Stadtteil wird in eine Festung umgebaut: überall gibt es jetzt um und am Haus Bewegungsmelder und Kameras. Zusätzlich bewachen eine Menge Sicherheitsleute alle Bewegungen der Familie und alles, was sich im und am Haus tut. Das sind die Fakten.

Was aber macht die Erzählung über eine gebrochene Kindheit so bemerkenswert?
Dieser Junge hat eine überaus feine Beobachtungsgabe und dazu ein hohes Reflexionsvermögen über die eigene Befindlichkeit und alles, was ihm bei seinen Beobachtungen bewegt.
Freunde besuchen, unbefangen zur Schule gehen, sich amüsieren und mit den Freunden “abhängen“, das alles ist plötzlich nur noch unter den Augen der Sicherheitsdienste möglich. Wie muss man sich fühlen, wenn man pausenlos unter Beobachtung steht? Keine Regung oder plötzlich Eingebung für eine Aktion bleibt unbeobachtet, und das spontane Leben erlischt.

Sein Vater, ein ernster und mimisch unbewegter Wissenschaftler, kennt nur seine Bücher und das Schreiben. Die Mutter neutralisiert zwar so manche kritische Situation; für Johann wird ein gemeinsamer Urlaub zu einer nervenzehrenden und langweiligen Angelegenheit. Man spürt förmlich, wie der Junge innerlich verkümmert, weil er immer nur aus sich selber schöpfen muss, wie er sich die Zeit vertreibt. Natürlich gibt es auch im Urlaub eine Rundumbewachung. Es gelingt Johann gelegentlich, sich mit dem Sicherheitsteam die Zeit zu vertreiben.

Präzise gesagt haben wir hier einen Protagonisten, der in erschütternder Weise mit den Folgen eines schweren Verbrechens konfrontiert bleibt.
Johann durchläuft eine Jugend zwischen Ängsten, Wut, Auflehnung und wirklichen Bemühungen, sich aus den Zwängen seiner Umgebung zu befreien.
Dass er dabei diskret und doch offen seine innere Entwicklung aufzeichnet und auch seinen äußeren Bewegungsdrang offenbart, ist von einer tiefen Scheu begleitet, sich nicht pathetisch oder in einer Sonderrolle zu zeigen.
Er hat Eltern, die ihm alle Freiheiten lassen, die unter diesen Umständen nur möglich sind.
Bei den Versuchen, ein möglichst „normales“ Leben zu führen, bleibt die Belastung immens, sich ständig Zeitplänen und Kontrollen fügen zu müssen.

Johann Scheerer lässt in seinen Jugendjahren nichts aus. Von der Sprache bis zum Punk, einer Jungendband und der entsprechenden äußerlichen Aufmachung, Tätowierung und Piercing ist alles möglich.
Er hat die Begabung zu psychologischem Einfühlungsvermögen, lakonischer Berichterstattung, Distanz schaffender ironischer Überziehung ernster Situationen und insgesamt authentischer Wiedergabe seiner jugendlichen Entwicklung. Die Suche nach der eigenen Identität durchzieht die ganze Geschichte.

Die sensible und genaue Wahrnehmung seiner Umgebung, seiner Eltern und seiner eigenen Gefühle machen das Buch zu einer Rarität. Wer eine so treffende Beobachtungsgabe zeigt und differenziert zu erzählen weiß, der hat wahrlich das Zeug dazu, seinen Mitmenschen über ein absolut unvergleichliches Ereignis Bericht zu erstatten. Ein sehr einsamer Junge geht auf diese Weise aus sich heraus. Um sich zu befreien? Oder um Zeugnis abzulegen über die Folgen eines Verbrechens, das sich, auch für die Angehörigen des Opfers, zu einer Dauerschikane ausweitet? Es gilt wohl beides.

Nicht zuletzt ist sein Bericht so spannend, dass man das Buch nicht aus der Hand legen möchte.

Er ist heute erwachsen und schreibt folglich aus der Rückblende. Das ist ihm hervorragend gelungen.

Johann Scheerer
Unheimlich nah
331 Seiten, gebunden
Piper, Januar 2021
ISBN-10: 3492059155
ISBN-13: 978-3492059152
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