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Autor: Claudine Borries

Annie Ernaux: Die Scham

Annie Ernaux: Die Scham

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Wie in ihren zahlreichen vorangegangenen Büchern, in denen sie sich mit Stationen ihres Lebens und besonders der Kindheit und Jugend befasst, behandelt Annie Ernaux auch in ihrem neuesten Werk einen Abschnitt aus ihrem Leben.

Hier geht es um „Die Scham“, ein besonderes Kapitel ihrer Erinnerungen.

Sie macht ihre Erkenntnisse in diesem Buch daran fest, dass ihr Vater die Mutter eines Sonntags „habe umbringen“ wollen. Wirklichkeit oder fantasierte Schrecken der Kindheit? Jedenfalls gehörte Brutalität nicht zum Alltag ihres Kinderlebens.

Zurück im Jahr 1952 beschreibt sie, was sie sah, und wie sie sich und andere erlebt hat.
Wunderbar präzise fängt Annie Ernaux Stimmungen ein, die genau in diese Zeit um 1950 gehören.
Wir wissen, dass ihre Eltern einfache Leute sind, und dass ihr der Absprung aus der Kleinbürgerlichkeit in die höheren Sphären des Bildungsbürgertums gelungen ist.
Mit dem Studium gelang es ihr, sezierend den Blick auf die Besonderheiten des kleinbürgerlichen Alltags zu richten.
Als sie zwölf Jahre alt ist, entwächst sie der Kindheit und wird zur Tochter, die weibliche Formen annimmt, Nylonstrümpfe tragen darf und noch vieles mehr. Es hindert die Eltern nicht, sie gelegentlich zu schlagen. Fast karikierend beschreibt sie die Tages- und Wochenverläufe: was „man“ wann isst, anzieht, welchen Tätigkeiten „man“ an welchem Tag nachgeht und wie „man“ sich zu benehmen hat. Es ist ein fest gefügtes Programm, aus dem es kein Entkommen gibt

Vorurteile über das, was gut und böse ist, und wie „man“ sich zu benehmen hat, gehören zur Summe der bitteren Bilanz, die Annie Ernaux auch in diesem Rückblick aufzeigt.

Sie ist gleichzeitig distanziert in ihren Betrachtungen und gefangen in ihrer Erinnerung. Ohne Umschweife und Einschränkungen oder Beschönigung schreibt sie darüber. Wie es im Umschlagtext treffend beschrieben ist
“Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit“.

Dieses Gefühl der Scham beherrscht die Erzählung.
Wie ausgeschlossen sie sich fühlte beim Besuch einer vornehmen Schule mit Menschen höherer Bildung und kultureller Lebensart, das ist fast beklemmend. Gegenüber ihren Mitschülerinnen sieht sie sich in ihrer Gefühlslage und der Lebensformen weit unterlegen.
Ihr Bekenntnis, dass sie sich entgegen ihrer eigenen Aufgeklärtheit nicht aus den Fängen dieser einschränkenden Vergangenheit ganz befreien kann, ist absolut echt. Schreiben mag ihr helfen, alle Erfahrungen prüfend zu hinterfragen; los wird sie die Erinnerungen nicht.

Annie Ernaux ist eine mutige Frau, die mit ihrer Selbsterforschung zur Aufklärung psychischer Befindlichkeiten und deren gesellschaftlicher Zusammenhänge beiträgt. Es steht mir nicht zu, darüber zu räsonieren, warum sie sich selbst in ihren Schriften immer wieder zum Objekt der Forschung macht. Selbsterkenntnis und gesellschaftliche Zustandsbeschreibung stehen beide im Zentrum ihres Interesses.

Im Klappenztext heißt es, sie bezeichne sich als „Ethnologin ihrer selbst“. So kann man die Geschichte sehen.

Hoch gelobt von der Kritik und mit zahlreichen Preisen bedacht lebt sie in Frankreich.

Annie Ernaux
Die Scham
110 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, 17. August 2020
ISBN-10: 3518225170
ISBN-13: 978-3518225172
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Shilpi Somaya Gowda: Was uns verbindet

Shilpi Somaya Gowda: Was uns verbindet

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Dieser Roman, der sich leicht, spannend und unterhaltsam liest, behandelt das Schicksal einer vierköpfigen Familie: Vater, Mutter, Tochter und Sohn.

Die Eltern sind ein glückliches Paar. Sie lieben sich sehr. Der Vater stammt aus einfachen Verhältnissen in Amerika; er hat es zum erfolgreichen Banker gebracht. Seine Frau wuchs als Diplomatentochter einer indischen Familie auf und arbeitet ebenfalls.

Beide Eltern sind in anspruchsvollen Berufen tätig. Die zwei Kinder von 10 und 6 Jahren bleiben immer ein paar Stunden alleine, ehe die Mutter nach Hause kommt.
Dann passiert das Unglück, das dieses großartige Glück in seinen tiefsten Tiefen erschüttert: Prem, der kleine Sohn, steigt unbeobachtet in den häuslichen Pool und ertrinkt. Karina, die 10jährige Tochter, merkt plötzlich, dass er nicht da ist, sieht ihn im Pool und versucht ihn zu retten: aber es ist zu spät.
Nichts ist mehr, wie es war. Die Wege aller drei übrig gebliebenen Familienmitglieder driften fortan weit auseinander.

Gowda zeigt Gespür für ihre Protagonisten, die verzweifelt versuchen, einen Ausweg aus der seelischen Sackgasse zu finden. Dass da jeder seine eigenen Strategien entwickelt, ist unübersehbar.
Jaya widmet sich spirituellen Meditationen, und Keith geht traurig und alleine seinen Bankgeschäften nach.
Keith wird von der verzweifelten Mutter Jaya verlassen, und Karina verlässt nach dem Ende der Schulzeit das Haus, um zu studieren. In ihrem Fall spielen ethnische Verschiedenheit eine nicht unbedeutende Rolle, da Jaya Inderin ist und ihre Tochter Kira mit ihrem hübschen Aussehen Aufmerksamkeit erregt. Sie ist aber am schlimmsten getroffen, da sie sich am Tod des Bruders schuldig fühlt. Auf ihrer Suche nach Erlösung aus dieser Schuld gleitet sie in einem Schlingerkurs hin zu einem infamen Guru, der mit allen Wassern gewaschen ist, um sich seine Schäfchen hörig zu machen.

Das Geschehen ist psychologisch großartig aufgebaut.
Man hält den Atem an, denn man erkennt eher als Karina, dass in ihrer Kommune etwas nicht stimmt.
Es ist ein Schmöker im besten Sinne: spannend, kurzweilig und von zahlreichen Irrwegen und Erfahrungen geprägt.
Am Leben und Schicksal anderer teilzunehmen, ohne selbst betroffen zu sein, löst Schauer und Erleichterung aus. Man darf sich aber durchaus vorstellen, wie es einem selbst ergangen wäre in dieser Situation.

Shilpi Somaya Gowda hat sich intensiv mit ihrem Romaninhalt beschäftigt und Fachbücher zu den jeweiligen Themen studiert. Ihre Beschreibungen östlicher Religionen und Meditationen, Erfahrungen aus dem Bankwesen und aus dem Studienfach Biologie, in das sich Karina stürzt, zeigen sehr unterschiedliche Bewältigungsversuche der handelnden Personen.

Mit diesem Roman lockt eine lesenswerte und interessante Lektüre für lange, faule Ferientage.

Shilpi Somaya Gowda
Was uns verbindet
432 Seiten, broschiert
KiWi-Taschenbuch, August 2020
ISBN-10: 3462054333
ISBN-13: 978-3462054330
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Hugo Hamiltom: Palmen in Dublin

Hugo Hamiltom: Palmen in Dublin

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In einem langen Monolog lässt uns der Icherzähler in diesem Roman an seinen Gedanken, Reflexionen und Erinnerungen teilnehmen.
Es gibt keinen nachvollziehbaren Handlungsstrang.
Er mag Anfang dreißig sein, als er mit seiner Frau Helene und zwei kleinen Töchtern nach einem langen Berlinaufenthalt nach Irland zurückkehrt. Wo ist er zu Hause? In Deutschland oder in Irland?
Man hört davon, dass sein Vater Ire und die Mutter Deutsche waren. Zu Hause wurde Deutsch oder Englisch gesprochen. Der Vater mochte Englisch nicht. Er zog die gälische Sprache vor.
Erklären sich daraus die zahlreichen schwierigen Gefühle, die diesen Mann in seinem Leben umtreiben?

Nun, man muss sich auf Gedankenfetzen, wechselnde Orte und Begebenheiten einstellen, wenn man sich diesem sehr anerkannten Autor in seinem Roman nähern will.

Der Held der Geschichte bleibt den ganzen Roman hindurch auf der Suche nach einem Zuhause. Krampfhaft sucht er in Dublin Fuß zu fassen. Er ist arm und hat Schulden. Mühsam quälen seine Frau Helene und er sich durchs Leben. Ihre Existenz steht auf tönernen Füssen. Zahlreiche Verwandte tauchen auf und verschwinden wieder. Es gibt Bindungen von Helene zu ihrer Mutter und zu ihren Geschwistern. Dann taucht die Mutter auf. Sie lebt in Kanada; doch viel mehr wissen wir nicht von ihr. Der Icherzähler verliert in einer anrührenden Szene seine Mutter.

Kleine Reisen mit den Kindern, Abende mit Freunden, eigene Erlebnisreisen und gesellschaftliche Alltagsgeschichten öffnen uns den Blick in eine Welt, in der es so recht keine Gewissheiten gibt.

Wo ist Heimat, wo komme ich her, und wo gehe ich hin sind die altbekannten Fragen, mit denen sich Menschen auf der Suche nach Klarheiten befinden. Unser Held bleibt ein Suchender, fast überall eher fremd als sich zugehörig fühlend.

Es ist eine Geschichte vom Abschiednehmen, vom Ankommen und wieder sich trennen, von der Schönheit der Natur und von der Fremdheit in großen Städten; nicht zuletzt handelt sie vom Aufbruch zu neuen Ufern, und dieser bietet Anlass zu Hoffnung.

Es ist eine nachdenkliche und besinnliche Geschichte.

Hugo Hamilton entstammt selber eine Mischehe: die Mutter war Deutsche, der Vater stammte aus Irland. Aufgewachsen ist Hamilton in Dublin, der Heimat seines Vaters, wo er heute lebt.

Hugo Hamilton
Palmen in Dublin
288 Seiten, gebunden
Luchterhand Literaturverlag, Juli 2020
ISBN-10: 3630873014
ISBN-13: 978-3630873015
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Robert Seethaler: Der letzte Satz

Robert Seethaler: Der letzte Satz

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Robert Seethaler zeichnet in diesem schmalen Band das erschütternde Porträt eines Mannes, der als Komponist, Musiker und Dirigent ein erfolgreiches Leben hinter sich hat.

Er ist noch nicht so alt, aber als müder und kranker Mann befindet er sich auf der letzten Reise von New York nach Europa. Er sitzt an Deck und denkt über sein Leben nach. Fürsorglich wird er von einem Schiffsjungen umsorgt. Mahler leidet unter Schmerzen und Migräne und fühlt sich krank.
Unter Deck sitzen seine Tochter Anna und deren Mutter Alma Mahler beim Frühstück.

Es handelt sich um einen hoch erfolgreichen und berühmten Mann, der als Dirigent, Musiker und Komponist viel umschwärmt war und hohe Anerkennung genoss. Neben seiner Arbeitswut, die ihn Kräfte und Gesundheit kostete, ist er besessen von der Liebe zu der berühmten und von Männern umschwärmten Frau Alma. Sie ist die Femme fatal, die zahlreiche ebenso berühmte Männer aus Kunst und Kultur um den Verstand brachte. Noch aber leben sie zusammen, wenn er auch weiß, dass er sie verloren hat an den Architekten Walter Gropius, der nach seinem Tod ihr zweiter Mann werden soll.

Die Wende zum 20. Jahrhundert mit ihren großartigen Künstlern ersteht vor unseren Augen, wie Seethaler sie in seiner sensiblen und bilderreichen Sprache erkundet hat. Freud wird von Mahler in seiner Not um seine Ehe zu Rate gezogen. In einem einmaligen langen Gespräch werden seine psychischen Nöte erörtert und analysiert.

Seethaler beschreibt den Musiker mit anteilnehmenden und einfühlsamen Worten. Er wird dem Genie gerecht mit seiner Schilderung des Charakters. Es entsteht eine leicht melancholische Stimmung, wenn der Autor über das Meer, die Luft und den Wind schreibt und sich in Mahlers Erinnerungen vertieft. Sie sind erfüllt von Sehnsucht mach den Bergen, nach Sommer und Sonne und nach seiner verlorenen Tochter Maria, die als kleines Mädchen an Diphterie starb.

Das Büchlein liest sich schnell und unkompliziert. Es eröffnet uns aber noch einmal die Szenen jener fernen Zeitenwende, als Musik und Kunst die Welt mit der Ahnung von ganz neuen Aufbrüchen beseelte, die dann allerdings in den dreißiger Jahren schreckliche Formen annahm .

Ich habe das Büchlein gerne gelesen und kann es dem Musik- und Kunstliebhaber gerne empfehlen!

Robert Seethaler
Der letzte Satz
128 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, 3. August 2020
ISBN-10: 3446267883
ISBN-13: 978-3446267886
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Klaus Scheidtmann: Seitenwechsel

Klaus Scheidtmann: Seitenwechsel

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Klaus Scheidtmann ist Arzt und Neurologe und hat in diesem Krankheitsbericht seine schwere Erkrankung an einem Hirntumor beschrieben.
Die Erfahrungen sind deshalb so bemerkenswert, weil sich hier ein Arzt plötzlich in der Rolle als Patient wiederfindet.

Die lange Vorgeschichte bis zur Diagnose zeigt, wie auch der Fachmann langsam in einen Zustand gerät, vor dem seine Familie zunächst irritiert und ratlos vor krankheitsbedingten Veränderungen seiner Persönlichkeit steht. Niemand, am allerwenigsten er selbst, ahnt, dass sich hinter seinem veränderten Verhalten, seines Wesens und im Umgang mit seiner Frau eine schwere Hirnerkrankung entwickelt. Psyche, Geist und Körper bilden eine Einheit. Ereignet sich beim einen oder anderen eine Störung, wirkt das auf die anderen ein.

Scheidtmann lässt nicht unerwähnt, wie großartig die Geduld und Ausdauer seiner Frau ihn am Ende auf den Weg zur Diagnose führt.

Die Erkenntnis, dass auch die so genannten Götter in weiß nur Menschen mit einem ganz normalen Lebenshintergrund sind, ist sicher nicht ganz unbekannt. Dennoch bietet der Bericht aus Sicht eines selber Betroffenen nochmal eine ganz neue Perspektive zum Arzt-Patientenverhältnis.

Mutig und aufrichtig kann K. Scheidtmann seine Schwierigkeiten beschreiben, über seine Ängste und seine Ohnmacht berichten und öffnet uns damit Einblick in sein Inneres. Der Verlust der Autonomie, wenn man sich Ärzten anvertrauen muss, wiegt schwer.

Dass K. Scheidtmann nach mehrjährigen Behandlungen und immer neuen Rückfällen den Mut nicht verlor, verdankt er seiner Familie, seinen Freunden, Kollegen und nicht zuletzt wohl seinem Glauben und seinem Wunsch, die Krankheit zu besiegen.

Eine Lehre gibt es wohl besonders in diesem Fall: dem Arzt Dr. Klaus Scheidtmann wurde sehr klar, wie wichtig die menschliche Zuwendung, das Verständnis und die Offenheit des Arztes für den Patienten sind. Die meisten Patienten suchen besonders in schwerer Krankheit nicht nur den renommiertesten Arzt sondern auch gerade von diesem menschliche Zuwendung.

Das Buch liest sich mit Spannung, weil das Leben nun einmal die spannendsten Romane schreibt.

Krankheit spielt fast in jedem Leben irgendwann einmal eine Rolle. Schwere Krankheiten rühren an die Seele der Mitleidenden. Das Buch bietet Anlass, sich der eigenen Zerbrechlichkeit bewußt zu werden. Möge es viele Leser finden, die je nach eigener Lebenslage Hilfe brauchen und sich vergewissern möchten, wie man den richtigen Arzt zur rechten Zeit findet.

Klaus Scheidtmann
Seitenwechsel
130 Seiten, gebunden
Klöpfer, Narr, April 2020
ISBN-10: 3749610320
ISBN-13: 978-3749610327
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Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

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Adeline Dieudonné hat eine düstere Familiengeschichte ersonnen.
Oder ist sie nicht erfunden und enthält gar ein Stückchen Wahrheit?
Auf jeden Fall geht es darum, wie man in der Umgebung äußerst grausamen Umgangsformen ein Eigenleben behält und überlebt.

An einer Stadtrandsiedlung nahe an einem Wald wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit Bruder, Mutter und Vater. Es ist das beste Haus einer ansonsten unscheinbaren Reihenhaussiedlung, doch innen wohnt das Grauen.

Aus den Augen des Mädchens als Icherzählerin schält sich das Bild einer vollkommen desolaten Eltern- und Ehebeziehung heraus. Der Vater, ein passionierter Jäger und Alkoholiker, führt ein eisernes und herrisches Regime über seine Frau und die beiden Kinder.
Das 10 jährige Mädchen tröstet sich mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder über die schlimmsten Stunden hinweg. Noch! Denn die Jahre vergehen und Gilles, der kleine Bruder, eifert nach einem schrecklichen Erlebnis dem Vater nach und wird ein böser Tierquäler. Die Mutter ist ein desolates, gequältes Etwas. Sie wird von der Tochter als „Amöbe“ bezeichnet.

So beginnt eine Geschichte, die in ihren Einzelheiten Grausamkeiten birgt, von denen man sich als normaler Sterblicher keine Vorstellung machen kann. Bei jeder Abweichung von den Vorgaben des Vaters oder einfach aus schlechter Laune heraus wird geprügelt und gebrüllt. Da kann als Grund schon ein nicht genehmes Essen herhalten. Von körperlicher bis zu seelischer Gewalt scheint nichts unmöglich.

Der Vater ist körperlich stark und steckt voller Wut, die regelmäßig ihre Abfuhr sucht. Das Opfer ist zumeist die Mutter. Sie ist klein, unscheinbar und wirkt hilflos den Brutalitäten des Vaters ausgeliefert. Das Abendbrot, zu dem alle am Tisch sitzen, weil es sich so „gehört“, wird schweigend und in Angst eingenommen. Man ahnt den kommenden Wutausbruch des Vaters, vor dem sich die Kinder schnell in ihre Zimmer flüchten.

Man erfährt nichts über die Ursachen dieser unglücklichen Menschen.

Die Icherzählerin schafft es erstaunlicherweise, ein inneres und äußeres Eigenleben tief verborgen hinter einem dichten Schleier versteckt zu führen. Bis auch sie vom Vater zum Freiwild und Opfer gemacht wird.

Diese Geschichte reißt mit und nimmt mit!

Wie man dem Ende aller Ereignisse entgegenfiebert, das wird gekonnt und hoch kompetent von der Autorin angepeilt. Zuvor sieht man sich einer Vielzahl von grausamen Ereignissen konfrontiert.
Das reicht von Verfolgung über Schläge bis zu Psychoterror, und das Blut fließt in Strömen.

Natürlich gibt es auch einige gute Menschen z.B. einen Physikprofessor, der sich des hoch begabten Mädchens annimmt und sie in seine Wissenschaft einführt. Auch er und seine Frau aber haben ein schreckliches Schicksal hinter sich.

Sind es vielleicht zu viele der grausamen Ereignisse?
Ich denke, die Autorin überzieht absichtlich, um auf Misstände in Familie und Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Adeline Dieudonné schreibt einen brillianten Stil und zeigt empörende Ereignisse, die an Hitchcock, Astrid Lindgen und Stephen King denken lassen.
Sie steigert mit ihren scharf beschriebenen Beobachtungen die Spannung bis zur Unerträglichkeit. Es stockt einem zuweilen fast der Atem.

Der Debütroman wird schließlich zum Fanal des Aufstands gegen Unterdrückung und Gewalt. Es bleibt kein Auge trocken, während uns die Macht und körperliche Überlegenheit des Mannes der Schwäche der Frauen gegenübergestellt wird. Der Freiheitsgedanke zur Überwindung der Unterdrückung nimmt Gestalt an, als die Tochter sich in adäquater Weise zu wehren beginnt.
Am Ende bleibt: Stille.

Der Roman ist etwas für starke Nerven und überaus spannend.
In Frankreich ist er begeistert aufgenommen worden.

Adeline Dieudonné
Das wirkliche Leben
240 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, April 2020
ISBN-10: 3423282134
ISBN-13: 978-3423282130
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Juli Zeh: Corpus Delicti – Ein Prozess

Juli Zeh: Corpus Delicti – Ein Prozess

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Von Juli Zeh ein Buch zu lesen bedeutet stets eine Denkakrobatik, um in unsere gesellschaftsgeschichtliche Gegenwart zu gelangen.

Was jedoch an diesem Werk „Fragen zu Corpus Delicti“ besonders nett ist, das ist die Art der Erklärungen, wie sie an ihr Scheiben herangeht. In Form eines fiktiven Interviews schreibt sie so, als sei man ihr Gesprächspartner, dem sie ein wenig vermitteln will, wie sie an ihre Texte kommt, und wie sie einen Roman oder, in diesem Fall ein Theaterstück, entstehen lässt.

Man lernt sie kennen als einen Menschen, der sich permanent mit Gesellschaft, Politik und allgemeinen philosophischen Fragen unseres Daseins auseinandersetzt. Aus diesem Denken heraus entwickelt sie ihre Figuren, die denn auch in unserer Zeit leben. Sie müssen sich den Fragen und Lebensfragen der Gegenwart stellen. Als Beispiel sei ihr Roman „Unterleuten“ genannt, der ein Stück gegenwärtiger Gesellschaftsgeschichte spiegelt.

„Fragen zu Corpus Delicti“ aber ist anders als ihre Romane. Das Buch war ursprünglich als Theaterstück konzipiert. Die Anfrage, diesen Stoff zu bearbeiten, hat sie zunächst irritiert. Das Stichwort dazu war „Mittelalter“. Selbstverständlich muss das Stück in der Gegenwart bleiben; so fällt ihr das Wort „Hexenjagd“ dazu ein, und das ist synonym für „Hexenjagden“ aller Art und zu jeder Zeit.
Auf diese Weise ist das Thema zu dieser Schrift entstanden.

Hauptprotagonistin ist Mia. Sie ist zuerst angepasst an ein System, die so genannte Methode, in dem es nur noch Gesundheit gibt. Mit einem unter die Haut gepflanzten Chip wird der Mensch in seinem Zustand ständig kontrolliert. Wer sich dieser Kontrolle entzieht, wird zum Angeklagten. Mia wandelt sich zum Individuum mit eigenen Ansichten, was in diesem System nicht erlaubt ist.

Sie wird zum Tod (durch Einfrieren) verurteilt. Der Tod aber hätte sie zur Märtyrerin gemacht. Also wird sie begnadigt, was angesichts der Lage in diesem Staat einer wirklichen Qual gleichkommt, denn sie wird in ein Sanatorium verbannt. Dazu lässt sich Juli Zeh vom Text des Zauberbergs von Thomas Mann inspirieren.

Die Autorin zeigt in Teilen ihre eigene Gegenwartsgeschichte (Haus, Mann, Kinder, Arbeit), was zu dem Eindruck führt, dass man sich im Gespräch mit ihr zu befinden glaubt.

Der Text ist zutiefst durchdrungen von den Einsichten der Aufklärung. Er zeigt Denkmuster des dialektischen Denkens. Um das zu verdeutlichen, führt sie die Erfahrung verschiedener Gefühlslagen auf: Trauer gegen Freude, Schmerz gegen Glück, Gesundheit gegen Krankheit und hell gegen dunkel etc. Erst die Polarität des Einen wie des Anderen lässt uns erfahren, dass es diese Empfindungen gibt.

Aus dem Text kann man u.a. herauslesen, was es mit der Freiheit des Geistes auf sich hat. Erst die Möglichkeit, eigene Entscheidungen treffen zu können und eigene Meinungen zu entwickeln, befähigen uns zur Demokratie. Bezugnahmen gibt es neben vielen anderen zu Adornos und Horkheimers philosophischen Thesen zur „Dialektik der Aufklärung“ (S. 175) und zu Kant.

Dieses Buch ist in der Vielfalt der Thesen zu unserem Tun und Sein und den Grundgedanken dazu beeindruckend.

Man liest konzentriert und gebannt, wie sich Juli Zeh ihrem Sujet aus unterschiedlichen Sichtweisen nähert.

Dass sie hier viel über ihr eigenes Denken spricht, macht sie nahbar. Und bei so vielen ihrer Einsichten dachte ich: genau das habe ich auch schon gedacht, ohne es so formulieren zu können.
Beispiel S. 153: wie wir Menschen wirklich sind!

Um ihre Bücher mit den gesellschaftspolitischen Themen zu verstehen, ist dies Buch eine wirkliche Hilfe.

Juli Zeh
Corpus Delicti: Ein Prozess
272 Seiten, broschiert
btb Verlag, Auflage: 01, August 2010
ISBN-10: 3442740665
ISBN-13: 978-3442740666
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Fabio Andina: Tage mit Felice

Fabio Andina: Tage mit Felice

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Es handelt sich hier um eine wunderschöne Erzählung aus den Tessiner Alpen.

Ein Icherzähler berichtet, wie die Tage in diesem Dorf vergehen. Langsam! Das darf man schon sagen!

Der namenlose Erzähler begleitet den 90 jährigen Felice eine Woche lang in seinem Alltag. Es ist November und der Winter kündigt sich mit Kälte und Schnee an. Der Alltag von Felice besteht aus fast immer gleichen Handlungen. Er fährt mit seinem Auto über die umliegenden Dörfer. Morgens früh läuft er den Berg hinauf, wo er in einem Flussloch, einem so genannten Gumpen, ein Bad nimmt. Im Winter muss zuerst eine Eisschicht durchstoßen werden. Das ist wahrlich ein entbehrungsreiches Einsiedlerdasein!

Das Leben um das Dorf Leontica herum ist karg und einsam. Zahlreiche Einwohner begegnen sich bei unterschiedlichen Gelegenheiten. Man trinkt zusammen einen Schoppen und schwätzt über dies und das und erzählt sich die Neuigkeiten der Dorfbewohner. So ist man immer auf dem Laufenden.

Die Menschen sind genügsam in ihrer Armut. Es gibt die kleinen Läden, Restaurants und Bars, in denen sich die Dorfbewohner treffen. Doch auch der Schwatz über die Straße reicht häufig zum Gedankenaustausch.

Mehrheitlich sind die Bewohner alt, d.h. um die 70 bis 80 Jahre. Es tut sich nicht viel, und es gibt in diesem kurzen Roman keinen Handlungsstrang. Allerdings sind die Figuren in ihren Eigenheiten charakterlich meisterhaft gezeichnet. Sie sind skurril und zuweilen auch witzig.

Zentrale Figur bleibt Felice, auch er ein armer Kauz, der doch Zufriedenheit ausstrahlt.

Er fährt mit seinem alten Auto die Dörfer ab, und unser erzählender Begleiter erlebt ihn und seine Welt mit staunender Bewunderung.

Gekocht wird, was die Natur hergibt. Viele Male wird aus den geernteten Kräutern ein Sud gekocht, der als Tee herhalten muss. Das Feuer im Kamin muss als Heizung reichen.

In langen Schilderungen der Natur bei Schnee, Regen und Sonnenschein taucht man ganz in die Stimmung aus Kälte, Einsamkeit und Kargheit ein.

Dieses Buch liest man mit Beschaulichkeit und hingegeben an die Atmosphäre einer hinreißenden Landschaft. Die Ruhe überträgt sich auf den Leser und man meint fast, selber die herrliche Luft und das Bergpanorama zu erleben. Ein paar Tiere, Kinder und wenige jüngere Bewohner bereichern das Bild von einem Ort der Stille.

Man weiß nicht, was den Icherzähler dazu angeregt hat, sich mit Felice und dem Leben dort zu befassen.

Im SFR Literaturclub wurde das Buch empfohlen als Möglichkeit, sich zu entschleunigen. So sehe ich es auch: man kommt zur Ruhe! Die poetischen Beschreibungen der Naturereignisse bieten so viel Abwechslung, dass man immer wieder hineinversetzt wird in diese ruhige Bergwelt mit ihren grünen Oasen, kleinen Wasserquellen und vielseitigen Früchten.

Das Buch ist etwas für Liebhaber ruhiger Lebenseindrücke. So geht es zu in den abgelegenen Dörfern der Schweizer Bergwelt! Da gibt es keine Hetze und kein Jagen nach immer neuen Events und Abwechslung.

Der Roman verlangt dem Leser einiges an Geduld und Ausdauer ab. Er wird belohnt mit der Sichtweise eines beschaulichen und reizvollen Lebens fern aller sonst allenthalben zu beobachtenden Hektik und Unruhe. Felice, der Glückliche, macht es einem vor, wie es sich auf diese Weise lebt!

Fabio Andina
Tage mit Felice
224 Seiten, gebunden
Rotpunktverlag, März 2020
ISBN-10: 3858698636
ISBN-13: 978-3858698636
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Ulla Coulin-Riegger: Mutters Puppenspiel

Ulla Coulin-Riegger: Mutters Puppenspiel

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Was für eine grässliche Mutter!

Ulla Coulin-Riegger hat mit diesem Debütroman wohl ihrem Herzen aus der reichlichen Erfahrung ihrer psychotherapeutischen Arbeit Luft gemacht!

Es gibt sie! Diese Mütter aus Vorwurf, Selbstmitleid und Erwartung. Immer voller Anspruch und Eifersucht bis hin zu kränklichen Zuständen, mit denen das Kind, in diesem Fall die Tochter Lisette, zu Gehorsam und Fürsorge gezwungen wird. Diese Tochter kann sich einfach nicht befreien aus dem Zwang der Abhängigkeit.

Sie, die Tochter, ist 38 Jahre alt, Ärztin und toll verliebt in einen verheirateten Mann mit Frau und Tochter im Hintergrund. Anlass zu Ärger für die Mutter ohne Ende!

Ulla Coulin –Riegger beschreibt die Beziehungen aller beteiligter Personen so wahrhaftig, dass man ganz gefangen wird von den verworrenen Beziehungsstrukturen. Man ärgert sich mit der Tochter mit, man möchte ihr helfen, herauszukommen aus der Abhängigkeit sowohl vom Liebhaber als auch von der Mutter.

Es fehlt nicht an existenziellen Ereignissen, die das ganze starre System zum Zusammenbruch zu bringen droht.

Liebe, Zärtlichkeit und Erwartungsfreude zum Liebhaber werden erst angeknackst, als Emil immer und immer wieder eine Stellungnahme und Entscheidung für oder gegen die Geliebte hinauszögert.

Alle Personen haben Schwierigkeiten, sich auf wirkliche Nähe, Distanz oder notwendige Konfrontationen einzulassen.

Erst als eine neue Freundin der Tochter ins Spiel kommt, eine Psychotherapeutin, gelingt es Lisettte, aus der Umklammerung der Mutter fast herauszufinden. Ruth, diese neue Freundin, hat zwar auch ein Problem, aber sie scheint es besser in den Griff zu bekommen.

So wie Ulla Coulin-Riegger alles beschreibt, wird man zum Zuschauer des psychodynamischen Geschehens. Man sieht, was alles nicht stimmt, und glaubt, Lösungen zu kennen; aber man ist ja nur von außen dabei. Es macht einen Unterschied, ob man selbst in so einer bizarren Verstrickung lebt, oder nur Zuschauer mit Brennglas ist.

Zuletzt wird noch ein überraschendes Geheimnis gelüftet, das aber wichtig ist und den Leser sehr erschüttert.

Dass am Ende alles recht glücklich endet, ist fast nicht zu glauben.

Ein spannendes, aufregendes und fesselndes kleines Buch, das viel über die Psyche und ihre Verstrickungen verrät.

Sehr lesenswert!

Ulla Coulin-Riegger
Mutters Puppenspiel
174 Seiten, gebunden
Klöpfer, Narr, 30. März 2020
ISBN-10: 3749610274
ISBN-13: 978-3749610273
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Hubert Achleitner: flüchtig

Hubert Achleitner: flüchtig

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Hier wird die Geschichte von Maria und Herwig, einem freundlichen und zugänglichen Paar in Österreich, erzählt.

Nach dreißig Jahren Ehe, in denen es existenzielle Konflikte gab, ist Maria eines Tages verschwunden. Niemand hat eine Erklärung dafür.

Die beiden hatten nicht in heißer Liebe zu einander gefunden. Sie waren sich ganz im Gegenteil erst langsam nähergekommen. Als Maria schwanger wurde, heirateten sie. Nach einigen Wochen verlor sie das Kind, und das Unglück darüber war groß.

In langsam vorbeiziehenden Bildern und Berichten entwickelt Hubert Achleitner das Psychogramm einer Ehe, wie es sie wohl häufiger gibt. Entfremdung, Ehebruch, Heimlichkeiten: es fehlt nichts, was uns diese Geschichte nicht verstehen lässt. Man leidet mit, trauert mit und ist sehr berührt vom Schicksal dieser zwei Menschen. Es gipfelt im Verschwinden von Maria, die bei ihrem Verschwinden keinerlei Spuren hinterlässt.

Nach dem ersten noch sehr realitätsnahen Teil der Geschichte, wird der zweite Teil recht abstrus und sonderbar.

Er führt zu einer abenteuerlichen äußeren und inneren Reisebeschreibung, die aus dem fernen Österreich tief in den Süden bis nach Griechenland zu einem Heiligen Berg und abgelegenen Kloster führt. Hier wird es für den Leser zuweilen irritierend. Seelenzustände und Landschaftsbeschreibungen, menschliche Begegnungen und Abenteuer wechseln sich ab. Maria führt ab jetzt eine Aussteigerexistenz. Der Leser erfährt von immer neuen Irrwegen menschlichen Seins. Es geht um Selbstverwirklichung, Erleuchtung und psychedelische Erfahrungen, die sich auf vielerlei Art und Weise manifestieren. Ganz oben aber steht der Wunsch nach einem Leben ohne innere Zwänge, genau gesagt: Freiheit. Zuweilen verwirrend, immer aber spannend lässt uns Achleitner an den dramatischen Abenteuern und Erfahrungen seiner Protagonisten teilnehmen.

Gesellschaftliche und politische Bezüge in Musik und Lebensformen weisen auf die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts hin.

Hubert Achleitners Fantasien im Erfinden abstruser Erlebnisse und Aktionen zeugt von impulsiver Vitalität und Vielfalt. Gelegentlich scheint es einem fast zu viel des Guten.

Zuweilen ist es schwer, allen verworrenen Beziehungsstrukturen zu folgen. Doch kann man dem Autor eine wahrhaftig lebhafte, bilderreiche und malerische Schreibkultur nicht absprechen.

Wer sich gut unterhalten will, kommt wunderbar auf seine Kosten!

Hubert Achleitner ist in seinen Kreisen ein bekannter Vertreter der Neuen Volksmusik, der mit diesem Debütroman Erfolg haben wird!

Rezension von Claudine Borries

Hubert Achleitner
Flüchtig
304 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag, 2. Auflage Mai 2020
ISBN-10: 3552059725
ISBN-13: 978-3552059726
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