Annie Ernaux: Die Scham

Annie Ernaux: Die Scham

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Wie in ihren zahlreichen vorangegangenen Büchern, in denen sie sich mit Stationen ihres Lebens und besonders der Kindheit und Jugend befasst, behandelt Annie Ernaux auch in ihrem neuesten Werk einen Abschnitt aus ihrem Leben.

Hier geht es um „Die Scham“, ein besonderes Kapitel ihrer Erinnerungen.

Sie macht ihre Erkenntnisse in diesem Buch daran fest, dass ihr Vater die Mutter eines Sonntags „habe umbringen“ wollen. Wirklichkeit oder fantasierte Schrecken der Kindheit? Jedenfalls gehörte Brutalität nicht zum Alltag ihres Kinderlebens.

Zurück im Jahr 1952 beschreibt sie, was sie sah, und wie sie sich und andere erlebt hat.
Wunderbar präzise fängt Annie Ernaux Stimmungen ein, die genau in diese Zeit um 1950 gehören.
Wir wissen, dass ihre Eltern einfache Leute sind, und dass ihr der Absprung aus der Kleinbürgerlichkeit in die höheren Sphären des Bildungsbürgertums gelungen ist.
Mit dem Studium gelang es ihr, sezierend den Blick auf die Besonderheiten des kleinbürgerlichen Alltags zu richten.
Als sie zwölf Jahre alt ist, entwächst sie der Kindheit und wird zur Tochter, die weibliche Formen annimmt, Nylonstrümpfe tragen darf und noch vieles mehr. Es hindert die Eltern nicht, sie gelegentlich zu schlagen. Fast karikierend beschreibt sie die Tages- und Wochenverläufe: was „man“ wann isst, anzieht, welchen Tätigkeiten „man“ an welchem Tag nachgeht und wie „man“ sich zu benehmen hat. Es ist ein fest gefügtes Programm, aus dem es kein Entkommen gibt

Vorurteile über das, was gut und böse ist, und wie „man“ sich zu benehmen hat, gehören zur Summe der bitteren Bilanz, die Annie Ernaux auch in diesem Rückblick aufzeigt.

Sie ist gleichzeitig distanziert in ihren Betrachtungen und gefangen in ihrer Erinnerung. Ohne Umschweife und Einschränkungen oder Beschönigung schreibt sie darüber. Wie es im Umschlagtext treffend beschrieben ist
“Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit“.

Dieses Gefühl der Scham beherrscht die Erzählung.
Wie ausgeschlossen sie sich fühlte beim Besuch einer vornehmen Schule mit Menschen höherer Bildung und kultureller Lebensart, das ist fast beklemmend. Gegenüber ihren Mitschülerinnen sieht sie sich in ihrer Gefühlslage und der Lebensformen weit unterlegen.
Ihr Bekenntnis, dass sie sich entgegen ihrer eigenen Aufgeklärtheit nicht aus den Fängen dieser einschränkenden Vergangenheit ganz befreien kann, ist absolut echt. Schreiben mag ihr helfen, alle Erfahrungen prüfend zu hinterfragen; los wird sie die Erinnerungen nicht.

Annie Ernaux ist eine mutige Frau, die mit ihrer Selbsterforschung zur Aufklärung psychischer Befindlichkeiten und deren gesellschaftlicher Zusammenhänge beiträgt. Es steht mir nicht zu, darüber zu räsonieren, warum sie sich selbst in ihren Schriften immer wieder zum Objekt der Forschung macht. Selbsterkenntnis und gesellschaftliche Zustandsbeschreibung stehen beide im Zentrum ihres Interesses.

Im Klappenztext heißt es, sie bezeichne sich als „Ethnologin ihrer selbst“. So kann man die Geschichte sehen.

Hoch gelobt von der Kritik und mit zahlreichen Preisen bedacht lebt sie in Frankreich.

Annie Ernaux
Die Scham
110 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, 17. August 2020
ISBN-10: 3518225170
ISBN-13: 978-3518225172
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