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Autor: Claudine Borries

Herman Koch: Der Graben

Herman Koch: Der Graben

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Lebensschicksale…

Robert Walter ist ein getriebener Mann. Seine Lebenssituation sieht gut aus, denn er ist Bürgermeister von Amsterdam und verkehrt in illustren Kreisen. Doch gleich zu Beginn des Romans von Herman Koch merkt man, wie seinen Protagonisten Ängste und Sorgen umtreiben, die seiner Fantasie entsprungen zu sein scheinen. Ist seine Frau ihm treu? Was könnte sie, hier Sylvia genannt, mit den Dezernenten Hoogstraten gemein haben? Robert sieht sie flüstern und fantasiert sich Schreckliches zusammen.

Tochter Diana ist aus dem Haus, so dass er mit seiner Frau eine neue Basis finden müsste.

Öffentliche Empfänge und Begegnungen mit Obama und Hollande sind in Roberts Job an der Tagesordnung. In seinem Kopf mahlt es ohne Unterlass: er beobachtet, sinniert und argwöhnt überall Unheil. Jede Bemerkung und jede noch so kleine Beobachtung am Verhalten seiner Frau nähren den Verdacht, sie könnte ihn verlassen wollen.

Fast sieht er seine Ehe schon am Ende, und jede Geste, jede Erinnerung lösen neue ängstliche Gedanken in ihm aus.

Herman Koch versteht es wunderbar, den psychischen Nöten eines von Ängsten getriebenen Mannes nachzugehen. Man fühlt und ängstigt sich mit, möchte den armen Mann aber gleichzeitig befreien. Denn mit seinen Verdächtigungen macht er nach und nach seine Beziehungen kaputt. Niemand hält es aus, dauernd unter unbegründetem Verdacht zu stehen. Wie lange kann diese Ehe halten?

Geheimnisvoll und mit vagen Andeutungen erfährt man von einem möglichen Verbrechen, das er in seiner Jugend begangen haben soll. Aber nicht nur eine Journalistin ist ihm in dieser Angelegenheit auf den Fersen: auch er selbst sieht sich mit kritischem Blick. Die Eltern kündigen ihren Freitod aus Altersgründen an, und sein guter Freund Bernhard, ein herausausragender Physiker, berichtet von einer schweren Krankheit, die ihn ereilt hat, und infolgedessen er seinem möglichen vorzeitigen Ableben entgegensieht.

Niemand außer Robert Walter kommt wirklich zu Wort. Alle Ereignisse sind ganz auf ihn zentriert.

Ab einem gewissen Zeitpunkt fängt der Leser an, den armen Mann in seinem psychischen Elend zu bedauern. So viel Not auf einmal! Das ist nur schwer zu ertragen.

Hermann Koch hat seinen Protagonisten, der doch erfolgreicher Bürgermeister von Amsterdam ist, mit einem melancholischen Charakter und mit unheilvollen Visionen ausgestattet. Das Buch liest sich ein wenig schwerfällig, weil das viele Unheil die frohen Stunden und Erinnerungen zumeist überschattet.

Die Herkunft seiner Frau aus einem ungenannten südlichen Land mit andren Sitten und Gebräuchen bleibt verborgen. Warum dürfen wir das nicht wissen?

Das Ende kommt abrupt, so wie die einzelnen Kapitel auch in Zeitsprüngen stattfinden.

Da diese fast biographische Romanform flüssig abläuft, bleibt der Leser am Ball und kann sich ganz auf den Hauprotagonisten einlassen. Es bleibt der Blick auf eine tiefsinnige Geschichte, die aufzeigt, welche Irrtümer und Geheimnisse Lebensschicksale ausmachen können.

Herman Koch
Der Graben
304 Seiten, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, Februar 2018 (15. Februar 2018)
ISBN-10: 3462050826
ISBN-13: 978-3462050820
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Dorothy Baker: Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

Dorothy Baker: Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

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Rick Martin ist ein begnadeter und musikbegeisterter Junge. Dorothy Baker hat sich von dem Jazz-Genie Bix Beiderbecke (1903 -1931) zu diesem Roman inspirieren lassen.

Rick stammt aus den Slums von Los Angeles. Jeden Morgen sitzt er am Klavier der All Souls’ Mission und formt auf dem Klavier Töne nach, die er einmal gehört hat. Dafür versäumt er die Schule und nimmt allerlei Unbilden auf sich.

Schließlich lernt er den farbigen Jazzmusiker Smoke Jordan kennen. Die beiden Jungen werden unzertrennlich und sind vereint in der Musik. Rick beneidet Smoke um die Geborgenheit seiner Familie, die ihm, Rick, in seiner Onkel-Tante -Familie nicht vergönnt ist.

Man begleitet Smoke und Rick auf ihren Streifzügen durch die Musikhalls und dort finden sie eines Tages ihren Platz. Rick wird Trompeter, wird entdeckt und nach New York engagiert.

Wunderbar versteht Dorothy Baker in das Milieu der Musikszenen einzutauchen und einen teilhaben zu lassen an musikalischen Entwicklungen. Sie zeigt uns, wie durch die Besessenheit vom Klang und Rythmus aus Laien professionelle Trompeter, Klavierspieler oder Drummer werden.

Höhen und Tiefen des vom Jazz besessenen Rick ziehen sich durch alle Stadien seines Lebens. Es endet früh, noch nicht einmal 30 Jahre alt, wie bei so vielen Genies seines Genres.

Man liest das Buch mit Aufmerksamkeit und Interesse. Sind doch Existenzen wie die von Rick Martin häufig in den Jazzszenen zu finden. Alkohol und der Rausch der Musik mit den exzessiven Konzerten in langen Nächten bringen nicht nur Rick Martin den Tod. Betrauert von der Jazzgemeinde enden diese von ihrer Musik Betäubten häufig in Einsamkeit und körperlichem Ruin. Auch Ricks tragisches Schicksal vollendet sich mit seinem Tod. Er blieb bei seinen zwei engen Freunden Jeff Williams und Smoke Jordan unvergessen und tief betrauert.

Freundschaften, Begegnungen und immer wieder die Musik schaffen das Klima, in das uns Dorothy Baker entführt. Es sind die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die in ihrem Roman vor uns erstehen und uns Erinnerungen bescheren an eine Zeit unvergesslicher Jazzgrößen. Ein gelungener Roman für alle, die sich dem Jazz zugeneigt fühlen.

Dorothy Baker
Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft
272 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, November 2017
ISBN-10: 3423281359
ISBN-13: 978-3423281355
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Elena Lappin: In welcher Sprache träume ich?

Elena Lappin: In welcher Sprache träume ich?

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Wächst ein Mensch in unterschiedlichen Ländern, Orten und Sprachstationen auf, kann man möglicherweise nicht mehr festmachen, welches die (Mutter)- Sprache oder der Ort der Verwurzelung ist.

So erging es Elena Lappin. Geboren wurde sie 1954 in Moskau. Mit 4 Jahren zog sie mit ihrer ledigen Mutter zum zukünftigen Mann der Mutter nach Prag. Von dort wechselte die Familie 1970 nach Deutschland. Später folgten Kanada, USA und Israel. Jetzt lebt die Schriftstellerin mit ihrer Familie in London. Ihre Mutter studierte Geographie, der Vater ist Schriftsteller und Übersetzer literarischer Werke.

In Moskau lebten die Großeltern und Urgroßeltern von Elena. Ihre junge Mutter erscheint selbstständig und selbstbewusst. Als sie zu ihrem künftigen Mann nach Prag zieht, nimmt er das Kind als eigenes an. Sie bilden nun eine kleine, glückliche Familie. Ihr leiblicher „Vater“ ist Amerikaner, doch diese Verbindung war nicht von Bestand. Spät erst erfährt Elena, dass sie einen anderen Vater hat als den von ihr sehr geliebten bisherigen. Ihre Eltern bekamen 1960 noch einen gemeinsamen Sohn, der als Schriftsteller Maxim Biller bekannt ist.

In Elenas Familie gab es viele Merkwürdigkeiten, und es ist gar nicht so schnell zu verstehen, wer da alles mit wem verheiratet war und wann und woher man eigentlich kam.

Die zahlreihen Länderwechsel spiegeln die Geschichte der russischen und sowjetischen Ära wieder. Juden wurden wie immer und überall als Außenseiter betrachtet. In Moskau herrschte die Nach-Stalinära, und in Prag ereignete sich 1968 der so genannte Prager Frühling. Der Aufstand wurde bekanntlich von russischen Truppen niedergeschlagen.

Infolge der vielfältigen politischen Bedrohungen zog die Familie 1969 nach Hamburg.

Zu Russisch und Tschechisch wurde nun Deutsch zur Heimatsprache. Doch war Deutschland Heimat für die entwurzelte Familie?

Temporeich, sprühend vor Neugierde und Lebenslust bewegt sich Elena Lappin durch die Stationen ihres Lebens. Sie trifft überall Menschen, zu denen sie sich hingezogen fühlt und schließt schnell gute Freundschaften. Nach Hamburg bricht sie zum eigenen Leben nach Israel auf, wo sie ihren Mann kennenlernt. Sie heiraten und bekommen Kinder. Einmal leben sie in Tel Aviv, dann wieder in Kanada, erneut in Haifa, dann USA und zuletzt England. Nicht alle Sprachen können den Kindern nach den vielen Wohnortwechseln erhalten bleiben.

Die Verständigung mit den russischen Verwandten bleibt auf der Strecke.

Elena Lappin wird eine selbstständige, agile und leidenschaftliche Literaturliebhaberin.

Sie schreibt, dichtet und arbeitet als Journalistin.

Die Biographie richtet den Fokus zum Ende hin immer mehr auf Sprachen und Dichtung. Wo findet man sich zu Hause? Wo lebt man am liebsten? Welche Rolle spielen Sprachen für das eigene Leben und Gedeihen?

Die Familie ist wichtig, und für ihre Biographie interessiert sich Elena immer mehr für die weitverzweigten Familienbindungen, die nach Russland und Amerika weisen. Der leibliche Vater tritt in Erscheinung, und wieder tun sich neue Familienzweige auf.

Die Suche nach Familie und Zugehörigkeit bestimmen richtungsweisend die Erzählung und lassen ahnen, wie sehr Familie zum Bestimmungsort der eigenen Identität wird.

Die Lebenserinnerungen sind lebendig, warmherzig und mit Herzblut geschrieben.

Hier gibt es kein kleinliches Miteinander. Die Verbindungen und der Umgang untereinander lassen auf einen gebildeten, liberalen und wohlwollenden Geist schließen. Zeigen sie doch ein weltoffenes und tolerantes Familienklima. Dass die Wanderungen der Familie auch politisch mit verursacht sind, ist exemplarisch für das traurige Schicksal unser aller geschichtlichen Vergangenheit.

Man liest diese Lebenserinnerungen als Zeitdokument mit hohem Interesse.

Elena Lappin
In welcher Sprache träume ich?
352 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, September 2017
ISBN-10: 3462050451
ISBN-13: 978-3462050455
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Annie Ernaux: Die Jahre

Annie Ernaux: Die Jahre

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Die 1940 geborene Annie Ernaux erzählt in ihrer hier vorliegenden Biographie „Die Jahre“ zunächst ausführlich über ihre Kindheit und Jugend in Frankreich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Lebenserinnerungen reichen weit bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus.

Sie schreibt ihre Biographie nicht in der Ichform, sondern verfremdet. Von „dem Mädchen“ oder „der Frau“ ist die Rede. Es geht um Bilder in Worten, in denen sie ein Gesellschaftsbild über ein halbes Jahrhundert vor uns ausbreitet.

Mit treffend und sprachgewaltig formulierten Sätzen, prägnant und genau, fängt sie die Atmosphäre einer ganzen Generation ein. In Frankreich sieht das genauso aus wie in Deutschland. Man spielt in der Kindheit die gleichen Kinderspiele wie Ringlein du musst wandern, Plumpsack oder Hinkelkästchen. Man hatte wenig zu essen, und es gab Läuse und zahlreiche andere mehr oder weniger dramatische Kinderkrankheiten. Fernsehen gab es noch nicht, aber die Erwachsenen sprachen viel von der Vergangenheit. „In den Erzählungen der Vergangenheit gab es nichts als Hunger und Krieg.“ (S. 23)

Man benutzte Plumpsklos und erfreute sich an den kleinen Dingen des Alltags. „Man lebte in der Nähe der Scheiße. Und machte Witze darüber.“ (S. 39) Man hörte Schlager und wünschte sich als Kind, nur schnell erwachsen werden zu können. „Wenn jemand starb, konnte uns das nichts anhaben“ (S.33) Im Flüsterton nur wurde über Dinge gesprochen, von denen die Erwachsenen nichts wissen durften.

Die katholische Kirche spielt eine zentrale Rolle, und dass „Lehrer und andere Gebildete nicht an Gott glaubten, war eine Anomalie.“ (S.46)

Später folgen die Studienjahre, Sex und andere Fragen, die die Autorin und ihre Altersgenossen von den Themen der Elternhäuser entfernen. Die Suche nach der eigenen Identität spielt eine raumgreifende Rolle. Sartre, Camus und Simone de Beauvoir begeistern die intellektuelle Jugend.

Weiter geht es durch die Jahre des Wandels in der Moral und mit der Rebellion der 68ziger.

Man studiert, bekommt Kinder, Ehe und Scheidungen schließen sich an.

Die Erzählung folgt dem Lauf der Jahre mit den eigenen Veränderungen und der neuen Rolle zwischen Eltern und Kindern. Freiheit und Gleichheit werden gelebt. Das Alter oder der Tod betrifft die „Älteren“ nicht aber einen selber.  Leider lässt sich auf Dauer nicht leugnen, dass das Älterwerden in mentaler und physischer Hinsicht ein unaufhaltbarer Prozess ist, der niemanden verschont! Auch das wird vermerkt.

Geschichtliche Veränderungen und Ereignisse bringen neue Kriege und Unruheherde in die Welt.

In distanziertem Stil wird ein Zeitkolorit entworfen, das seinesgleichen sucht: treffend und genau, witzig und humorvoll werden die Lebensabschnitte abgehandelt.

Die verfremdete Form, mit der die Autorin über ihre Vergangenheit berichtet, gibt dem Ganzen eine Allgemeingültigkeit, die ihre Aufzeichnungen wirklich denkwürdig machen.

Wer in dieser Zeit Kind und Heranwachsender war, wer die Jahre bis zur Jahrtausendwende erlebt hat, wird alles genauso beschrieben finden, wie es war.

Der Bericht rührt an die eigenen Gefühle und Erinnerungen. Damit bietet er einen Wiedererkennungswert, der anrührend ist. Der letzte Satz lautet “Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird“. Das ist es!

Annie Ernaux lebt in Frankreich und ist vielfach ausgezeichnet.

Annie Ernaux
Die Jahre
255 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, Auflage 2, September 2017
ISBN-10: 3518225022
ISBN-13: 978-3518225028
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John Williams: Nichts als die Nacht

John Williams: Nichts als die Nacht

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John Williams gewann mit seinem 1967 geschriebenen Roman „Stoner“ in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als er neu entdeckt wurde, Ruhm, Ehre und eine Fangemeinde.

Jetzt ist im dtv Verlag sein Debütroman „Nichts als die Nacht“ erschienen. Es handelt sich um eine Novelle, die geheimnisvoll und düster die Geschichte von Arthur Maxley erzählt. Er lebt in San Francisco, und die Straßen und Bars der Stadt bieten den Rahmen der Erzählung. Die Ereignisse umfassen nur eine Nacht.

Der junge Mann wird getrieben von Dämonen. Er wird überschwemmt von Erinnerungen, fast immer bedrohlich, unterbrochen von zarten und liebevollen Erinnerungen an eine entrückte Mutter, in deren Armen er Sicherheit und Geborgenheit fand. In früherer Zeit ist etwas geschehen, das, angedeutet und flüchtig nur, gleichzeitig allgegenwärtig zu sein scheint.

Die Mutter ist tot, der Vater entschwunden. Max hat schwerste Zeiten hinter sich, in denen er in wilden Ängsten und Visionen schwebt. Überwältigt von Gefühlen gibt der Protagonist zu verstehen, wie ihn die Welt außerhalb seines Zimmers ängstigt und, ja auch anekelt. Er gibt sich seinen Träumen hin, erkennt den Himmel und die Sterne und lebt in tiefer Einsamkeit.

Eingelullt von seinen unwirklichen Visionen geht er durch Himmel und Hölle. Den Himmel verkörpert die tote Mutter, die Hölle besteht in der Gegenwart, in der er als Müßiggänger seinen nebulösen Vorstellungen erliegt. Hat die Mutter auf den Vater geschossen und sich selbst gleich danach umgebracht? Wo ist der entschwundene Vater?

Ein Treffen mit ihm verläuft kühl und ohne gegenseitiges Verständnis. Der Vater bleibt innerlich und äußerlich fern.

Fast alle Erfahrungen seines vergangenen Lebens erscheinen nebulös und diffus. Eine unruhige Sehnsucht nach Liebe und Sex bricht sich Bahn, und man weiß nicht, ob er träumt oder wacht. Er erlebt gequält und nur halb wach die Begegnung mit einem Freudenmädchen. Das Abenteuer endet tragisch.

William Stoner hat diese Novelle verfasst, als er 1940 mit 22 Jahren im zweiten Weltkrieg mit einem Flugzeug in Burma abgestürzt war. Er lag lange im Lazarett und hat in seinen dunklen Träumen versucht, sich mit dem allgegenwärtigen Tod auseinanderzusetzen.

Das Ergebnis ist dieses Erstlingswerk, das er lange bei keinem Verlag unterbringen konnte. Es zeugt bereits jetzt von seiner sensiblen Beobachtungsgabe und dem psychologischen Feingefühl seines späteren Romans “ Stoner“. Die poetische Kraft der Sprache und das fast surreal anmutende Geschehen bieten einen Einblick in seine Begabung. Misstrauen und verhaltene Melancholie im Wechsel mit Lust und Leidenschaft prägen dieses Werk, das in seiner Düsternis einmalig ist. Hier gibt es keine Hoffnung auf ein besseres Leben oder Erlösung aus der Einsamkeit. Man ist betroffen von dieser melancholischen und tief empfundenen Gefühlswelt.

1994 ist John William gestorben. Er war Lektor und Universitätsdozent. Seine Werke kamen erst posthum zu Ehren.

John Williams
Nichts als die Nacht
160 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, September 2017
ISBN-10: 3423281294
ISBN-13: 978-3423281294
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Irene Dische: Schwarz und Weiß

Irene Dische: Schwarz und Weiß

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In dieser seltsamen Liebesgeschichte geht es um eine Mischehe in New York. Beginnend in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts endet die Geschichte in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts.

Lili ist die weiße und sehr hübsche Tochter eines jüdischen Künstlerpaars in New York, und der mischfarbige Duke kommt aus dem Süden der USA.

Die beiden lernen sich kennen und können fortan nicht voneinander lassen. Die liberalen Eltern von Lili begrüßen den Freund ihrer Tochter und nehmen ihn gerne bei sich auf.

Nun beginnt eine rasante Geschichte, die von der wirbelnden und umtriebigen Lili mit gesteuert wird. Sie ist Chemikerin, Krankenschwester und zuletzt hoch dotiertes Fotomodell. Duke, ihr schwarzer Freund und bald schon Ehemann, besitzt die seltene Gabe, Weine auf ihre Güte hin zu testen. Er erfährt in dem Geschäftsmann Mr. Perkins einen Partner, der seine Fähigkeiten, Wein zu verköstigen und die Beschreibung dessen, was er mit den Weinen verbindet, sehr schätzt.

Irene Dische gibt der Geschichte einen Ton, der sie lebhaft und farbenfroh ausgestaltet. Fast erscheinen einem die Sätze wie im Staccato dahingeschrieben, so schnell und munter wird das gesellschaftliche Bohèmemilieu vermittelt. Die Eltern von Lili verkehren als Komponisten und Journalisten unter Intellektuellen. In ihren Kreisen ist man liberal. Sehr selten nur blitzt die Diskriminierung Farbiger an einigen Stellen durch.

Die Liebesgeschichte zwischen Lili und Duke ist innig und überzeugend und außer Konkurrenz. Leider wird der Roman im zweiten Teil ein wenig langatmig, so dass man die Lust zum Weiterlesen verliert. Die zahlreichen Abenteuer, Liebesgeschichten und Irrungen und Wirrungen ermüden auf die Dauer. Immerhin bekommt man ein lebhaftes Bild vom Leben in NY der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Dass die Geschichte am Ende recht unversöhnlich in eine Katastrophe mündet, ist nur folgerichtig.

Geselligkeit wird in der Erzählung großgeschrieben. Satire und Witz bringen eine gewisse Distanz, mit der die Autorin ihr eigenes Empfinden aus allem heraushält. Ihre lakonischen Sätze betonen diese innere Distanz noch. Die Abstinenz jedweder Empathie teilt sich dem Leser mit, und man weiß zuletzt nicht, wem die Sympathie in der Geschichte gelten soll. Dem schwarz-weißen Liebespaar? Den liberalen Eltern? Über Dukes Herkunft wird so kurz hinweggegangen, dass sie fast überflüssig erscheint. Sie rundet am Ende aber die ganze Geschichte ab.

Intellektuelle, Parvenüs, Partys und Wein nebst den entsprechenden Beobachtungen am geselligen Treiben beleben die gesellschaftlichen Zusammenkünfte und machen die Lektüre wenigstens im ersten mit „Norden“ überschriebenen Teil unterhaltsam und anregend.

Irene Dische
Schwarz und Weiss
496 Seiten, gebunden
HOFFMANN UND CAMPE, Oktober
ISBN-10: 3455404774
ISBN-13: 978-3455404777
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Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen

Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen

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In diesem kleinen Büchlein über den Begriff des Anstands hat der Schriftsteller Axel Hacke in feuilletonistischer Art und Weise versucht, uns mit seiner Definition von Anstand bekannt zu machen.

Hacke beschreibt auf Seite zwanzig in wenigen Worten, wie man Anstand interpretieren kann, und das klingt ganz einfach: Begriffe wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness fallen in diesem Zusammenhang ebenso wie Aufrichtigkeit im Handeln und Reden und, sehr wichtig wie mir scheint, die Fähigkeit, das eigene Denken kritisch zu überprüfen.

Schnell wird aus seinen folgenden Ausführungen jedoch klar, dass „Anstand“ in der Tat seit längerer Zeit der Verrohung herkömmlichen Umgangsformen gewichen ist. Es fällt im Alltag gar nicht so sehr auf, wie weit wir uns vom Verfall guter Sitten und der Grenzüberschreitung im persönlichen Umgang entfernt haben.

An zahlreichen Beispielen macht A. Hacke seine Thesen fest. Er nennt die Namen einer Vielzahl bekannter Dichter, Philosophen und Denker, um seine Argumente zu untermauern. Kästner, Fallada, Marc Aurel, Kant und nicht zuletzt David Foster Wallace und viele andere mehr werden in Zitaten herangezogen, um über Formen des Anstands zu referieren.

Vom Steinzeitmenschen bis in die Gegenwart reichen Hackes Vergleiche, was Formen des Anstands und des Umgangs miteinander betrifft. Durch seine Zeilen erfährt man, wie über die Jahrtausende durch Bildung, Entwicklung und Forschung ein faires Miteinander erst möglich wurde. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Studie von Norbert Elias „Über den Prozess der Zivilisation“ hingewiesen.

Da das Buch eher die Erwartung an ein Feuilleton erfüllt, muss der geneigte Leser keine wissenschaftliche Studie erwarten. Der Bericht ist gewissermaßen ein Parforceritt im Plauderton durch die Geschichte und heutige Gegenwart.

Dazu gehören natürlich Tablets und Smartphones, die Paare, Eltern und Kinder im Beisammensein vereinsamen lassen, weil die Technik das Gespräch verdrängt.

In langen Passagen widmet sich der Autor den schrillen Tönen auf Facebook.

Axel Hacke fasst in seinem Buch zusammen, wie wir die Welt und die Formen unseres Umgangs erleben. Seine Ausführungen lassen uns von einer versöhnlichen Welt träumen, in der man Rücksicht nimmt, Gegensätze friedlich austrägt und insgesamt ein harmonisches Miteinander pflegt. Eine schöne, einträchtige Welt, wie wir alle sie uns wünschen würden! Leider sieht die Wirklichkeit anders aus, und Hoffnungen auf ein besseres Zusammenleben sind eine schöne Utopie!

Man kann Hackes Ausführungen als berechtigte Zivilisationskritik betrachten.

Sein Werk mag auch als ein Appel an uns alle gelten, uns um Umgangsformen zu bemühen, die uns Respekt, Höflichkeit und Zuhören abverlangen. In seltenen Fällen bei aufgeklärter Bildung und Erziehung mag das gelingen. Doch wenn man einmal mit Lehrern spricht, dann weiß man, wie schwer diese hoffnungsvollen Vorsätze an der Wirklichkeit integrativer Vielfalt zerschellen! Darüber hinaus bietet die derzeitige globale Politik keinen Hoffnungsschimmer auf eine bessere Welt.

Ich empfehle das Büchlein dennoch, weil es auf einfache Weise vermittelt, was uns allen so sehr fehlt: Eintracht, Freundlichkeit und—-Menschenliebe!

Axel Hacke
Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen
192 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann, August 2017
ISBN-10: 3956142004
ISBN-13: 978-3956142000
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Sonja Heiss: Rimini

Sonja Heiss: Rimini

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Familienleben mit vielen Zwischentönen.

Drei Paare: Eltern, Tochter und Sohn mit Partnern bilden den Mittelpunkt dieser Geschichte, in der es um Liebe, Treue, Anhänglichkeit, Versagen und wie immer auch Vergänglichkeit geht.

Die Eltern, Barbara und Alexander, haben bereits nach langen Ehejahren ihr Rentenalter erreicht. Weihnachten treffen alle wie gewohnt zusammen.

Hans, ihr Sohn und Anwalt von Beruf, dümpelt in seiner Ehe mit einer sehr dominanten Frau vor sich hin. Ihre beiden Kinder Lou und Leo sind in den Augen der Großeltern reichlich streng und rigide erzogen. Und Masha erst! Sie ist die jüngere Schwester von Hans und mit 39 eigentlich ein altes Mädchen, aber auch sie scheint den Absprung ins eigene Leben nicht recht zu schaffen. Das Weihnachtstreffen findet bei Hans und Ellen statt und rundheraus lässt sich sagen: alle gehen einander auf die Nerven. Irgendetwas scheint allen zu fehlen, um zu einem glücklichen und autonomen Leben zu finden.

Gespannt folgt der Leser einer Entwicklung, bei der so nach und nach die Eigenheiten aller Partner zum Vorschein kommen, und man ist nicht erfreut, wie unübersichtlich das emotionale Durcheinander aller Beteiligten ist.

Außer Ellen, dieser großen und durchsetzungsfähigen Frau von Hans, gehen alle scheinbar gegenseitig aneinander unter.

Hans leidet an unkontrollierten Wutanfällen und besucht regelmäßig eine Psychoanalytikerin, in die er sich zuletzt verliebt. Damit ist der Therapieerfolg natürlich ausgeschlossen.

Alles in allem beruhen die Thesen des Romans auf der Erkenntnis, dass Menschen im Laufe ihres Lebens Wandlungen durchmachen, die sehr häufig das Zusammenleben stören.

Sonja Heiss wirft einen realistischen Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Geheime Wünsche, erwartete Freuden, mentale und sexuelle Erfüllung und immer wieder auch Enttäuschungen sind die Eckfeiler menschlicher Existenzen. Hier zappelt sich jeder und jede ab, um am Ende an den Widersprüchen von Wünschen und Wirklichkeit zu scheitern. Wie die Autorin die einzelnen Widrigkeiten beschreibt, ist der Wirklichkeit recht genau abgeschaut. Gerüche des Partners, Geiz oder eigensinnige Verhaltensweisen stören den ehelichen Frieden und führen zur inneren und äußeren Abkehr. Als Alexander stirbt, merkt Barbara erst, wie sehr sie das Zusammenleben mit ihm als Selbstverständlichkeit hingenommen hat, und die in ihren Augen abstoßenden Verhaltensweisen das Leben überschattet haben. Man ist nahe dran an den Protagonisten und kann sich lebensnah in die gegenseitigen Zweifel, die Wut und Abkehr einfühlen. Es ist ein wenig traurig mit anzusehen, wie nach und nach die Beziehungen aller zueinander in die Brüche gehen. Ein paar schöne Erinnerungen an die Frühzeit der Eltern bieten Lichtblicke, doch das Scheitern auch der beruflichen Erfolge von Hans und Masha überwiegt. Immerhin schafft Masha sich sehr verspätet noch ein persönliches Glück. Meint man beim Lesen aus der Ferne nicht „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen aufscheinen zu sehen? Der Zerfall von Familien ist in beiden Romanen zentrales Thema.

Am Ende des Romans findet man zu dem Schluss, dass Leben von unterschiedlichen Schattierungen geprägt ist, und dass es vieler zu bestehender Bewährungsproben bedarf, um heil und unverletzt aus dem Lebensschlamassel herauszukommen.

Der Debütroman von Sonja Heiss lässt auf weitere Erfolge hoffen!

Sonja Heiss
Rimini
400 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, August 2017
ISBN-10: 3462050443
ISBN-13: 978-3462050448
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Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben

Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben

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Pierre Lemaitre ist ein fein beobachtender Autor, der mit seinen Themen tief in das Leben seiner Protagonisten eindringt.

In dem kleinen Ort Beauval in Frankreich verschwindet kurz vor Weihnachten 1999 der sechsjähriger Rémi spurlos.

Niemand kann sich erklären, wo er geblieben ist.

Einer der Dorfbewohner ist 12 Jahre alt und heißt Antoine. Er hat sich im Wald ein Baumhaus gebaut. Dorthin begleitet ihn häufig der Hund vom Nachbarn Desmedt. Er ist der Vater von Rémi. Die anderen Kinder spielen mit dem Playmobil von Kevin. Antoines Mutter aber möchte, dass ihr Sohn weiter in der Natur und im Wald spielt. So fühlt er sich oft einsam. Sein Vater ist schon lange auf und davon, und die Mutter schlägt sich tapfer mit ihm durch.

Leider passiert ein Unglück, und Antoine zerstört sein Baumhaus in einem Anfall von Wut. Nachvollziehbar schildert uns P.Lemaitre, wie Antoine tags zuvor zusehen musste, als Desmedt seinen von einem Auto verletzten Hund erschießt. Das Ende des Hundes mit dem pikanten Namen Odysseus ist ein Schock für Antoine, denn er war sein stiller Begleiter und Tröster in der Not. Was aber weiß er vom Verschwinden Rémis? Er war derjenige, der ihn zuletzt gesehen hat.

Minutiös schildert uns PL, wie Antoine in ein Netz von Verstrickungen gerät. Er verhält sich auffällig, unruhig und verdächtig. Niemand käme auf die Idee, dass er etwas mit dem Verschwinden von Rémi zu tun haben könnte. PL zeigt uns seine tief verletzte Seele, die vom Tod des Hundes in eine Art Schockstarre gefallen ist. Der Junge wird von Einsamkeit und Schmerz überwältigt.

Das Dorf mit seinen aufgeschreckten Menschen, den untersuchenden Beamten und der Unruhe, die das Verschwinden des kleinen Rémi gebracht hat, ist höchst genau beobachtet. Es sind drei Tage, in denen die Suche nach Rémi das Geschehen bestimmt.

Ein apokalyptisches Unwetter verwischt schließlich alle Spuren, und die Suche wird aufgegeben.

Im Jahr 2015 ist Antoine Arzt. Er hat eine Freundin, und die Ängste und Schrecken der Vergangenheit scheinen überwunden. Er wird sich ein neues Leben aufbauen.

Doch Lemaitre wird die Geschichte neu ankurbeln und mit unglaublichen Ereignissen zu einem mehr oder weniger unerwarteten Ende führen.

Man kann nicht umhin, den Autor für das Maß an Genauigkeit und Recherche mit feinsten Details zu bewundern. Die Mischung aus Krimi und vorstellbarer Lebenstragödie gibt dem Roman den letzten Schliff. Darin ist Pierre Lemaitre ein Meister, wie er schon mit seinem Roman“ Wir sehen uns da oben“ bewiesen hat. Mit diffizilen und sparsamen Mitteln steigert er die Geschichte bis zu einem wirklich überraschenden Ende. Atemlos und gespannt kann man vom Lesen nicht mehr lassen. Einmal mehr beweist uns die Geschichte, dass das Leben unergründliche Wendungen nehmen kann, die Lebenspläne und Hoffnungen zunichtemachen können. Literatur kann die Schattenseiten des Lebens aufzeigen. Dieser Roman ist ein Beispiel dafür. Sehr empfehlenswert.

Pierre Lemaitre
Drei Tage und ein Leben
272 Seiten, gebunden
Klett-Cotta, September 2017
ISBN-10: 3608981063
ISBN-13: 978-3608981063
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Uwe Timm: Ikarien

Uwe Timm: Ikarien

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Zu Beginn der Lektüre fragt man sich, ob man wirklich noch einmal mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und seinen Gräueln konfrontiert werden will.

Doch nach den ersten Zeilen lässt einen die Geschichte nicht mehr los.

Worum geht es?

Michael Hansen geht als deutschsprachiger Offizier nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Frankreich und von dort nach Bayern. Seine Eltern sind durch Zufall schon vor dem Krieg aus Deutschland nach Amerika geraten, wo sie dann geblieben sind.

Uwe Timm hat die großartige Gabe, Sachliches mit Poetischem zu verbinden. Während der junge Offizier von einem Auftrag zum nächsten eilt, bemerkt er den nahenden Frühling und kann die Farben und Stimmungen in Worte fassen. Ihm begegnen die ersten Nazis und Menschen, die keine Parteimitglieder waren.

Unwillkürlich kommen beim Leser Erinnerungen hoch an die ersten Eindrücke vom Einmarsch der Alliierten und von den armseligen, verhungerten Gestalten, die durch die Straßen der zerstörten Städte schlichen.

Die sauber gekleideten Soldaten und die abgemagerte und gedrückte Bevölkerung bilden einen krassen Gegensatz.

Hansen bekommt einen besonderen Auftrag: er soll etwas über die Rassehygieniker herausfinden, deren Ideologie der reinrassigen Bevölkerung zu den unmenschlichen Versuchen an Menschen und Behinderten im Nazireich geführt hatten.

In München findet er einen Antiquar, den Dissidenten Wagner, der den Eugeniker Alfred Ploetz kannte.

Im weiteren Verlauf berichtet er Hansen, der ihn im Auftrag des CIC verhörte, von einer ideologisch verbrämten Gemeinde zu Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika.

Aufbauend auf sozialistischen und kommunistischen Gedankengut und den Ideen des französischen Revolutionärs Étienne Cabet, hatten sich die Auswanderer eine utopische Gemeinde mit Namen Ikarien vorgestellt und in die Praxis umzusetzen versucht.

Das Experiment scheitert, doch A. Ploetz wird zum Verfechter einer reinen Rasseidee.

Nun beginnt eine lange Abhandlung über die Verhöre und zugleich des Lebens der amerikanischen Soldaten in Deutschland.

Uwe Timm nimmt sich Zeit, in seinen Perspektiven zwischen Verhören und Leben in Deutschland zu wechseln.

Auf diese Weise entsteht ein atmosphärisches Bild dieser „Zwischenzeit“. Zwischen dem Kriegsende bis zur Normalisierung des Lebens und Gründung der BRD lagen einige Jahre, in denen Fraternisierung verboten und schließlich übersehen wurde. Jeder sah am Ende, wie er am besten durchkam.

Das Buch ist umfassend und beleuchtet die Zustände der Euthanasie, über die schon während des Krieges und erst recht danach die unmäßigsten Behandlungspraktiken und Menschenversuche bekannt wurden.

Die Ausführung der Tötung der von oben bestimmten Kategorie von „unwertem Leben“ hat nach dem Krieg zu einem Aufschrei der Empörung und der Tabuisierung jedweder Euthanasiegedanken in Deutschland und in der Welt geführt.

Sich mit dem barbarischen Tun noch einmal zu konfrontieren ist aufschlussreich aber auch quälend. Die guten poetischen Einschübe beispielsweise über einen Vogelkundler unter den Amerikanern und kleine Liebeleien und Bootsfahrten auf dem Starnberger See entspannen die Erzählung und bieten den Rahmen der Menschlichkeit, die es schließlich überall und immer auch gab.

Die schwere Kost ist nicht für jeden erträglich. Uwe Timm ist ein Könner unter den Autoren, und wer ihn kennt, wird auch diesen Roman begrüßen.

Uwe Timm
Ikarien
512 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, September 2017
ISBN-10: 3462050486
ISBN-13: 978-3462050486
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