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Autor: Claudine Borries

Natalia Wörner: Heimat-Lust

Natalia Wörner: Heimat-Lust

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Die bekannte Schauspielerin Natalia Wörner hat ein Buch geschrieben in Anlehnung an ihre Reflexionen über das, was „Heimat“ uns sein kann oder auch nicht sein kann.

Herausgekommen ist ein durchaus lesenswertes Buch. Detailreich und flott in der Sprache berichtet sie über die verschiedenen Geschichtsphasen ihres Heimatortes Stuttgart Cannstatt, wo sie die meiste Zeit ihrer Kindheit verbracht hat. Sie erzählt über Mutter, Großmutter und Vater. Ihre Jugend hat sie schon frühzeitig als Rebellin in verschiedenen Schulen und Orten, immer jedoch noch in der Nähe von Stuttgart, verbracht. Sie ist ein neugieriges Kind, tatkräftig, durchsetzungsfähig und geliebt von Vater und Mutter, die sich früh schon getrennt hatten.

„Zupacken“: dieses für sie charakteristische Verhalten zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Aufzeichnungen. Sie hat jede Gelegenheit beim Schopf gepackt, um weiter- und hochzukommen. Dabei ist es wohl weniger der Ehrgeiz als die Neugierde, die sie antreibt. Sie will unentwegt Neues erproben, Erfahrungen ansammeln und vorwärtsstreben. Da nimmt es nicht Wunder, wie viele Menschen mit bekannten Namen sich in ihren Erinnerungen wiederfinden. Von fast beneidenswerter Unabhängigkeit beseelt schreitet sie durchs Leben.

Stark, fleißig und munter scheint sie alle Hürden zu meistern, denn sie weiß aus jeder Erfahrung das Positive herauszuziehen. Es hat den Anschein, dass sie mit ihrem charismatischen Auftreten leicht die Herzen der Menschen gewinnt. Neben ihr zu bestehen, mag nicht immer ganz einfach sein!

Wenngleich ihre Aufzeichnungen von kluger Nachdenklichkeit zeugen, ist sie mit Sicherheit keine Grüblerin. Man fragt sich, ob sie Tiefen und Kummer kennt, denn davon spricht sie nicht. Ausgenommen sind davon ihre Erlebnisse bei dem schweren Tsunami in Thailand 2004, den sie hautnah miterlebt hat. Auch daraus aber ergab sich für sie flugs ein neues Engagement in der Gründung von Kinderhilfswerken.

Ihre inneren Verfassungen sollten vermutlich hier nicht Thema sein, denn ihr geht es wohl eher um die Verortung des Menschen an Orten und mit Menschen, die sie liebt und die sie lieben. Da sie von den geschichtlichen Veränderungen ebenso beredt zu berichten weiß wie von den Orten, an denen sie Station gemacht hat in ihrem Leben und von den Menschen, die ihr begegnet sind, bleibt die Lektüre immer unterhaltsam und wird nie langweilig.

Ihre Schilderungen bieten Gelegenheit, sie in ihrer Selbstwahrnehmung kennenzulernen.

Sie erscheint dem Leser wie ein Glückskind, und das wünscht man ihr auch weiterhin.

Natalia Wörner
Heimat-Lust
256 Seiten, gebunden
Riemann Verlag, Juni 2015
ISBN-10: 3570501876
ISBN-13: 978-3570501870
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Juli Zeh: Unterleuten

Juli Zeh: Unterleuten

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Unterleuten ist der beziehungsreiche Titel eines neuen Romans von Juli Zeh. Unterleuten ist ein kleines Dorf im Brandenburgischen ungefähr 100 km von Berlin entfernt.

Worum geht es?

In Unterleuten hat sich nach der Wiedervereinigung der zwei Deutschen Staaten ein buntes Völkchen zusammengefunden: ehemalige Dorfbewohner, Arme, Reiche aus dem Westen und aus Berlin Zugezogene, die es in die Idylle der vermeintlich noch unberührten Natur zog.

Hier herrschen enge und überschaubare Verhältnisse. In ihnen aber spiegeln sich gesellschaftliche Gegebenheiten, die sich auf die ganze deutsche Wirklichkeit übertragen lassen. Es gibt mehr Feind als Freund und jeder/jede versucht, den eigenen Wertvorstellungen oder Ideologien nachzustreben. Dabei stößt man sich an allen Ecken und Enden.

Der (fast) Professor für Soziologie Gerhard Fließ wandelt sich zum Vogelkundler und Umweltschützer, seine Frau Jule will Gartenbau und Gartenpflege zu ihrem Hobby machen. Die Häuser, anfangs noch verfallen, sind preiswert zu erstehen und werden im gemeinsamen Eifer den eigenen Bedürfnissen angepasst. Da stößt so mancher Gartenzaun an den anderen und die innere Stimmung samt passender Ideologie gleich mit dazu.

Von der ersten Zeile an ist man gebannt von der Dynamik, mit der Juli Zeh ihre Geschichte aufbaut. Man spürt die Wut, wenn die Enttäuschung nach dem zuvor angepeilten glücklichen Leben Risse bekommt. Und man erlebt den ehemaligen Gutsbesitzer Gombrowski, der die Kleinbürger von einst mit Verachtung straft. Alle bisherigen Wertvorstellungen geraten nach der Wende ins Wanken. Kommunisten versuchen zu retten, was zu retten ist. Der ehemalige Gutsbesitzer versucht aus der neuen Lage seine alte Herrschaft unter anderen Bedingungen wieder zu erlangen.

Es herrscht ein diffiziles Netz von Verschwörungstheorien und persönlichen Kränkbarkeiten, in dem sich nach und nach zahlreiche Dorfbewohner verfangen.

Als eines Tages ein Gewinnler aus dem Westen mit Unterstützung einiger Dorfbewohner einen Windpark in der Gegend errichten will, beginnt eine Unruhe, die die ganze Gemeinschaft erfasst. Unterleuten ist nachweisbar Naturschutzgebiet, das mit diesem Vorhaben in seiner ganzen Fauna und besonders dem Vogelreichtum vernichtet würde.

Das Dorf Unterleuten ist gewissermaßen mit seinen Einwohnern ein Schmelztiegel, in dem Frust, Lust, Schikane und heile Weltvorstellungen eine ungute Symbiose eingehen. Sie zeigt uns eine Öffentlichkeit, in der Gier, Selbstsucht und Gewinnstreben, auch Eifersucht, Neid und die kleinen Streitereien des Alltags das Leben bestimmen. Hier spiegelt sich am Beispiel der Welt im Kleinen unsere momentane gesellschaftliche Wirklichkeit.

Juli Zeh ist nach den Aussagen in einem Epilog einer Zeitungsnotiz nachgegangen, in der es in eben jenem Ort Unterleuten zu einem Verbrechen gekommen sein soll. Anhand von eigenen Recherchen kommt sie als Ergebnis zu dieser umfassenden Sozialstudie.

Zuweilen sind die Einzelheiten ihres Berichts ein wenig ermüdend in ihrer ausufernden Detailfreude.

Mit diesem Roman gesellt sie sich aber zu den ganz Großen in der Weltliteratur. Sie kann sich messen lassen mit den anerkannten amerikanischen Autoren, die ebenfalls aus einer Kleinstadt (Elizabeth Strout) oder aus der Lage des Landes (Richard Ford)ihre Schlüsse mit Blick auf gesellschaftlichen Befindlichkeiten zu ziehen vermögen.

Sie schreibt klug, einfallsreich, empathisch und mit Sinn für die kleinen Alltäglichkeiten. Man sollte sich ihren Roman nicht entgehen lassen!

Juli Zeh
Unterleuten
640 Seiten, gebundn
Luchterhand Literaturverlag, März 2016
ISBN-10: 3630874878
ISBN-13: 978-3630874876
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Vanessa F. Fogel: Hertzmann’s Coffee

Vanessa F. Fogel: Hertzmann’s Coffee

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Jüdisches Familienleben über mehrere Genrationen beobachtet.

Yankele und Dora sind ein altes Ehepaar. Sie leben in New York, wohin es sie durch die Kriegs- und Nachkriegszeit verschlagen hat.

Yankele Hertzmann hat sich ein großes Kaffeeimperium erarbeitet.

Ihre vier Kinder sind aus dem Haus. Sehr zum Kummer ihres Vaters und ihrer Mutter herrscht Zwietracht und Unfrieden zwischen den erwachsenen Kindern.

Yankele beschließt, die Familiengeschichte öffentlich und auf Umwegen den Kindern zugänglich zu machen. Er benutzt dazu die modernen Medien des Videos und des Internets.

Durch seine Erinnerungsform werden im Wechsel alte und neue Passagen der Familiengeschichte in den Fokus genommen.

Herausgekommen ist eine lange Familiengeschichte voller Höhen und Tiefen.

Sie führt von Polen über Deutschland nach Venezuela und New York. Einmal geht es um den Zweig von Doras Familie. Dann wieder ist Yankeles Familie im Mittelpunkt des Geschehens. Durch alle Beziehungen zieht sich die Liebe, der Streit, die Versöhnung, Schicksalsschläge und die Unauflöslichkeit von Familienbanden. Man bekommt einen unmittelbaren Eindruck vom Lieben und Streiten auch aber von Yankeles Sehnsucht nach Versöhnung.

Yankele wurde während des Krieges von seiner Familie aus Deutschland beizeiten ins Ausland geschickt. Die ganze übrige Familie ist während Shoah umgekommen.

Er sucht und findet seine jüngste Schwester Leah, die durch die Vermittlung eines guten Familienfreundes in einem Nonnenkloster in Deutschland der Judenverfolgung während der Nazizeit entkommen konnte. Sie lebt in Venezuela. Doch Leah will oder kann sich nicht erinnern, und Yankeles Bemühungen führen nur mühsam zum Ziel.

Und Dora? Sie sagt ihren Kindern die Meinung in einer drastischen Weise, die mit dem Vergleich beginnt: “Leben ist genau das: Leben! Es ist vieles, aber keiner hat es bisher verstanden“ und „das Leben ist nicht wie ein Puzzle. Man kann Teile nicht einfach wieder zusammensetzen, wenn man sie auseinandergerissen hat.“

Das Buch ist mit viel Wärme und Empathie geschrieben, so dass man sich vor allem den beiden Hauptprotagonisten nahe fühlt. Die Geschichte geht zu Herzen und zeigt einmal mehr, wie Familien in Streit und Versöhnung verbunden sein können, und wie viel Weisheit, Klugheit, Gelassenheit und Geduld dazu gehören, Verbindungen gelingen zu lassen.

Vanessa F. Fogel ist den Spuren ihres Großvaters beim Abfassen zu diesem Roman gefolgt.

Analogien und Vergleiche, poetische Abhandlungen und Empfindungen wechseln ab mit Erzählungen aus dem wahren Leben. Der Extrakt von Weisheit und Erkenntnis zweier alter Menschen, die sich in Kraft, Freundschaft und Liebe verbunden sind, werden hier aufgezeigt. Hertzmann’s Coffee ist ein wunderbarer Roman über die Kraft der Liebe und Versöhnung. Jüdische Familiengeschichten enthalten immer den besonderen Ton von Zusammengehörigkeit. Dieser Zusammenhalt und ihre Lebensformen sind überlebenswichtig in einer ihnen häufig nicht wohlgesonnenen Umwelt. In diesem Roman kann man diese Lebensformen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und sich ein Bild von jüdischen Leben machen.

Vanessa F. Fogel
Hertzmann’s Coffee
320 Seiten, gebunden
Weissbooks, Juli 2014
ISBN-13: 978-3863370435
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Minna Lindgren: Rotwein für drei alte Damen

Minna Lindgren: Rotwein für drei alte Damen

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Wie es Menschen im Alter überall auf der Welt ergehen mag…

Hier können wir einen Eindruck davon bekommen.

Der Einband und der Beginn der Erzählung lässt an eine lustige Geschichte denken.
Doch so lustig ist sie dann leider nicht!

Drei über neunzigjährige alte Damen leben in ihrer Heimat Finnland. Dort spielt sich ihr Leben in dem Altenheim „Abendhain“ ab.
Toll ist es dort nicht gerade. Aber drei Dämchen mit Namen Irma, Siiri und Anna-Liisa sind noch gut drauf, trinken gerne ihren Rotwein und beobachten mit wachen Augen, was um sie her vor sich geht.

Als der junge Koch Tero eines Tages unerklärlicherweise zu Tode kommt, sind sie alarmiert und machen sich allerhand Gedanken über seinen Tod. Sie werden aktiv in einer Weise, die gefährlich für sie werden könnte.

In einer langen Abhandlung erfährt man von den Intrigen und den Tricks, mit denen man alte Menschen in Heimen ausbeutet, für dement erklärt und ihnen das Leben schwermacht.
Man hört von unerklärlichen Todesfällen und von undankbaren Verwandten und gewitzten Ausbeutern. Selbst vor kriminellen Machenschaften ist man in den einschlägigen Heimen nicht geschützt! Da bleibt zuweilen kein Auge trocken. Doch die über 94 Jahre alten Damen sind noch voller Elan und schaffen es, sich aus allerlei Unbilden zu befreien.

Alter und wie man mit alten Menschen umgeht ist überall auf der Welt ein Problem.
Die Schilderung aus dem hohen Norden von Minna Lindgren bietet da keine Ausnahme. Teilweise unterhaltsam, witzig und kurzweilig fahren einem gelegentlich doch auch Schauer über den Rücken! Gott sei Dank schwankt die Erzählung zwischen Humor und Ernsthaftigkeit.

In Finnland gilt der Roman von Minna Lindgren über das „Abendhain“ als Bestseller.

Als einen gelungenen Einstieg in die Welt des hohen Alters kann man den Roman mit Gewinn lesen. Zu hohe literarische Ansprüche darf man nicht erwarten, denn eine gewisse Langatmigkeit haftet dem Roman an.

Übersetzer sind die auch bei uns bekannten Autoren Niina und Costin Wagner, die Finnland als ihre zweite Heimat ansehen.

Minna Lindgren
Rotwein für drei alte Damen
288 Seiten, broschiert
KiWi-Paperback, März 2016
ISBN-10: 3462047248
ISBN-13: 978-3462047240
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Carolina De Robertis: Perla

Carolina De Robertis: Perla

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Argentiniens Militärdiktatur und die Folgen.

Zu Beginn des Jahres 2001 lebt in Buenos Aires in Argentinien ein junges Mädchen namens Perla. Sie ist eine verwöhnte Tochter aus gutem Hause. Eine dunkle Wolke scheint jedoch das friedfertige Leben mit ihren Eltern zu überschatten. Der Vater ist Marineoffizier. Er ist liebevoll aber unnahbar. Die Mutter ist von betörender Schönheit und leicht exzentrisch.

Inzwischen ist Perla Studentin, und ihre Eltern sind vereist. Eines nachts erscheint in ihrem Wohnzimmer eine unheimliche Figur. Nackt, schwach, durchnässt und nach Brackwasser stinkend liegt ein Mann auf dem Wohnzimmerteppich.
Man weiß nicht: ist hier Fantasie oder Wirklichkeit am Werk?

Rückblickend erleben wir Perla noch einmal in der Schule zusammen mit ihrer liebsten Freundin Romina, die sich eines Tages unerklärlicherweise von ihr abgewandt hat.

Viel ist in ihren Gesprächen mit Freunden und Freundinnen von den „Verschwundenen“ die Rede. Die Zeit der Militärdiktatur von 1976 -1983 hat Spätfolgen hinterlassen, die noch nicht vergessen sind. Tausende von Männern, Brüdern, Frauen und Söhnen wurden damals als Regimegegner abgeholt und tauchten nie wieder auf. Man erfuhr auch nie, wohin sie gekommen waren. Die Mehrzahl wurde auf grausame Art und Weise ermordet.

In diesem Buch verschwimmen die Zeiten vom Vorgestern zum Heute. Perla erkennt erst langsam, in welcher Weise die Militärdiktatur Menschen, ob schuldig oder unschuldig, verfolgt, entführt und aus deren Leben gerissen hat. Frauen gehen nach dem Ende der Diktatur jahrelang mit weißen Kopftüchern demonstrieren, um auf die unhaltbare Vergangenheit aufmerksam zu machen und nach ihren verschwundenen Brüdern, Männern, Schwestern, Müttern und Vätern zu suchen.

In langen Passagen erfährt Perla, welche Bedeutung der nasse Mensch in ihrem Wohnzimmer für ihr Leben bedeutet.

In ihrem Roman verarbeitet Carolina De Robertis die tragischen Umstände, die in Argentinien s. Zt. die ganze Gesellschaft in ein Chaos gestürzt hatte. Waisenkinder aus der Hinterlassenschaft der „Verschwundenen“ wurden häufig von korrupten Militärs und anderen als eigene Kinder angenommen.

Die Geschichte ist dramatisch. In ihr verlieren sich Liebende und andere finden sich wieder.

Die Last und die Bürde ist für manche zu schwer. Auch Perla muss erkennen, dass sie ein falsches Leben geführt hat.

In poetischen und zuweilen visionären und apokalyptischen Bildern beschwört De Robertis die Vergangenheit herauf. Mit ihrem Erzählstil vergegenwärtigt sie das Phänomen einer Grausamkeit, die dramatischer nicht sein könnte.

Perla
Carolina De Robertis
336 Seiten, broschiert
FISCHER Taschenbuch, Juni 2014
ISBN-10: 3596194466
ISBN-13: 978-3596194469
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Jane Gardam: Eine treue Frau

Jane Gardam: Eine treue Frau

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Psychogramm einer Ehe zur Zeit des Britischen Empire in Honkong…

Nachdem wir mit dem Roman „Der untadelige Mann“ schon einen nachhaltigen Eindruck vom literarischen Können Jane Gardams erleben konnten, liegt nun ein weiterer Roman von ihr in der Übersetzung von Isabel Bogdan auf Deutsch vor: “Eine treue Frau“. Es handelt sich um die Vorgeschichte von Richter Edward Feathers und dessen Lebensbeichte im ersten Roman.

Die Geschichte spielt zum größeren Teil in  der Kronkolonie Honkong in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Dorthin hat es zu Zeiten des Commonwealth auserwählte Anwälte mit ihren Familien verschlagen. Feine englische Lebensart und das Gesellschaftsleben in den englischen Kolonien bieten den Rahmen, in dem sich Liebe, Verluste, Freundschaften und Leidenschaften abspielen. Erst 1997 wird Honkong unabhängig von der englischen Krone, und die pensionierten Anwälte kehren in ihre Heimat zurück. In Dorset/ England verbringen sie ihren Lebensabend.

Betty ist die Frau des Anwalts Edward Feathers, der ihr das Heiratsversprechen abgenommen hatte, ihn nie zu verlassen, da seine Kindheit vom Trauma des Verlasssenwerdens gekennzeichnet war. Sie hat es ihm versprochen, wenngleich sein Heiratsansinnen wenig romantisch bei ihr ankam. Doch Terry Veneering, dem Gegner ihres Mannes bei zahlreichen Prozessen und seinem Erzrivalen, wird ihre große Liebe gelten. Beide sind Anwälte und spätere Richter der englischen Krone (QC) in der ehemaligen Kronkolonie Honkong.

Beginnt man mit dieser Lektüre, wird einem schnell bewusst, dass Jane Gardam sich gegenüber dem vorherigen Roman selbst übertroffen hat. In einer hinreißenden Szene beschreibt J. Gardam, wie Betty im Angesicht von Veneering ihre große Liebe erkennt: eine Stunde nach ihrem Heiratsversprechen gegenüber Edward Feathers wird sie Veneering vorgestellt und denkt „es ist eine Stunde zu spät“.

In der Folge erleben wir aus ihrer Sicht, wie es ihr in all’ den Jahren mit ihrem Mann ergangen ist.

Er war nie ihr Traummann; doch er ist solide, verlässlich und von liebevoller Fürsorge.

Fein gesponnen und in immer neuen Versionen erlebt man mit ihr das Leben in den Kolonien. Ihre Freunde und ihre Vertrauten bieten Einblick in vielfältige Charaktere. Über alledem lieg der Zauber der Exotik und des fernen Landes China.

Spöttisch und geistreich, mit einer gewissen Komik und englischem Humor nimmt Betty ihren Weg mit diesem Mann, der ihr innerlich zeitlebens fern geblieben ist. Die selbstironisch gezeichnete Betty zeigt uns ihre Haltung von Anstand und Wohlverhalten, wenngleich sie selber ein stilles Geheimnis bis in den Tod mit sich trägt.

Beobachtungen von Eddie auf allen seinen Wegen sind voll poetischer Kraft im Ausdruck.

In dem sich steigernden spannungsgeladenen Geschehen wird uns die Tragik menschlicher Irrungen und Wirrungen bewusst. Das Leben schlägt allenthalben Kapriolen, und unter der freundlichen Fassade brodeln verdrängten Wünsche und Sehnsüchte bei allen beteiligten Protagonisten. Jane Gardam versteht es, uns mit ihrer subtilen Beobachtungsgabe verheißungsvoll zu unterhalten.  Man bleibt bis zuletzt gebannt bei der Sache. Ein hervorragendes literarisches Meisterwerk ist Jane Gardam auch mit diesem zweiten auf Deutsch erschienenen Roman gelungen.

Jane Gardam
Eine treue Frau
272 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, März 2016
ISBN-10: 3446250743
ISBN-13: 978-3446250741
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J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville

J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville

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Debütroman eines bemerkenswerten Schriftstellers.

Es handelt sich im Romandebüt von J.Paul Henderson um eine lange Geschichte, die mehrere Zeitebenen und Ortswechsel umfasst.

Hauptakteur und Icherzähler ist Eugene Chaney, der inzwischen 72 Jahre alt ist.

Die Szenen wechseln von den Nordstaaten in die Südstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika zur Zeit der Aufhebung der Rassendiskriminierung. Diese war von zahlreichen Aufständen und Kämpfen um die Rechte der farbigen Bevölkerung zu Ende der fünfziger und Beginn der sechziger Jahre in den Südstaaten gekennzeichnet.

In unterschiedlichen Kapiteln werden Auszüge aus Chaneys Leben, dem seiner Geschwister, Freunde und Freundinnen erzählt.

Nach einer behüteten Kindheit ging Chaney seinen eigenen Weg, der ihm frühe Verluste und tief traurige Erlebnisse brachte.

Als Student schloss sich Gene, wie Henderson hier auch genannt wird, der Bürgerbewegung gegen Rassismus an und hatte einen guten Freund, Bob, der aus dem farbigen Milieu stammt.

Beginnend mit seiner großen Liebe Nancy, die sich aus für ihn nicht ersichtlichen Gründen spontan und ohne weitere Erklärung aus seinem Leben entfernt hat, setzen sich seine Erinnerungen fort mit Spotlights aus seinen Studienjahren, Familiengeschichten, einer kurzen Ehe und so vielen Jahren, in denen er alleine sein Leben als Allgemeinmediziner hinter sich gebracht hat.

Die Geschichte spinnt sich fort und fort voller spannender Einzelheiten, die einen nicht mehr loslassen.

Kurze Momente befassen sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Vietnamkrieg, der so viele Opfer forderte.

Kristallisationspunkt der Geschichte aber ist die Alzheimerkrankheit, die einen Großteil der Erzählung ausmacht. Eine heimliche Spannung wird im ersten Teil durch den frühen Wunsch Nancys mit einer Bitte an Gene erzeugt, ihr im Falle einer Erkrankung an Alzheimer, die in ihrer Familie gehäuft auftrat, beizustehen.

Der erste Teil des Buches hört nicht auf, einen in Bann zu schlagen. Leider ufert die Erzählung in der zweiten Hälfte ein wenig zu weit aus. Es erscheinen immer neue Figuren, deren Lebens- und Werdegang breit und ausführlich beschrieben werden. Das ermüdet. Es ist, als wäre die Geschichte eigentlich schon zu Ende, als weitere Personen auftauchen und die Geschichte umranken. Diese Ausschweifung tut der Erzählung nicht gut. Slapstickartig ist von Verfolgung, CIA und anderen Unbilden die Rede.

Der Erzählton ist traurig und witzig und gelegentlich auf komische Weise lakonisch.

Man kann sich dem Sog der Erzählung zu Beginn nicht entziehen und möchte unentwegt weiter lesen. Sie steuert auf ein ungewöhnliches Ende zu.

Paul Henderson lebt in Bradford, Yorkshire, wo er sich mit diesem Roman als Schriftsteller etabliert hat.

Sein Buch ist durchaus empfehlenswert!

J.Paul Henderson
Letzter Bus nach Coffeeville
528 Seiten, gebunden
Diogenes, März 2016
ISBN-10: 3257069596
ISBN-13: 978-3257069594
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Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz

Dieses Buch direkt bei Amazon bestellen!Sprachgenie und Lebenskünstler.

Mit einem wahren Sprachrausch beginnt Benjamin von Stuckrad-Barre seinen fulminanten Roman über sein eigenes Leben.

Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus: mit amüsierter und spöttischer Beobachtungsgabe vermittelt er dem Leser einen Eindruck von seinem liberalen, ökoorientierten und wider die Spießigkeit agierenden Elternhaus. Man gibt sich friedensbewegt und allem Gewöhnlichem abholt. Dass sonntägliche Wanderungen, musikalische Früheerziehung und fleißige Geschwister einen ebenso unguten Druck im Heranwachsenden auslöse könnten, entgeht den fortschrittsgläubigen Eltern ganz. Aber nicht nur die häuslichen Gewohnheiten werden aufs Korn genommen. Ebenso geht es gegen Düfte von Essen und Ungewaschenheit, wie der junge Benjamin sie wahrnimmt. Eines wird bald klar: hier lökt einer permanent wider den Stachel. Udo Lindenberg wird weit über seine Zeit hinaus zu seinem Idol. Benjamin entwickelt eine frühe Begabung, sich denen zu nähern, von denen er sich ein Fortkommen verspricht. Geld verdienen, Platten kaufen, sich so zu kleiden, wie er es sich ersehnt, – das alles ist in diesem Roman zu finden.

Allerdings ist das erst der Beginn einer Entwicklung, die ihn weit und weiter führt ins Drogen- und Suchtmilieu und auf Pfade, die gegen jede bürgerliche Ordnung und Erwartung verstoßen.

Hinreißend ist die Begabung von Stuckrad-Barre, mit einfachen Wortkonstruktionen das Erleben und seine Beobachtungen zu formulieren. Seine Sätze reihen sich übergangslos aneinander und vermitteln ein gutes Bild von einem sensiblen Jungen, der auf der ständigen Suche nach dem von ihm ersehnten wahren Leben ist. Dass man auf diese Weise ein Bild vom Heranwachsen in den poppigen achtziger Jahren gewinnt, einem die Nöte eines begabten Jungen mit überbordender Fantasie und nachgerade auch schrecklichen Erfahrungen in Drogenmilieus mit allen dazu gehörigen Abstürzen vor Augen geführt werden: wem sollte das schaden?

Er ist Narziss mit starkem Drang zum Außenseitertum, er blufft und schlängelt sich allmählich in die Kunst -Popszene hinein; doch er ist auch ein genialer Macher mit Grips und Chuzpe.

Man lese das Buch und freue ich über die Teile, in denen er den Zeitgeist persifliert, die gesellschaftlichen Zwänge und auch sich selbst auf die Schippe nimmt! Ich mochte das Buch sehr!

Benjamin von Stuckrad-Barre
Panikherz
576 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, März 2016
ISBN-10: 3462048856
ISBN-13: 978-3462048858
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Rasha Khayat: Weil wir längst woanders sind

Rasha Khayat: Weil wir längst woanders sind

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Wie mag es sich anfühlen, wenn man als Kind aus Saudi- Arabien nach Deutschland verpflanzt wird?

Das ist das Thema des neuen Romans von Rasha Kayat.

Rasha Khayat nimmt uns mit in eine Saudi-Arabische Familie, in der es zauberhaft, bunt und blumig zugeht. Der große Clan der Familie mit fast unüberschaubaren Familienzweigen bietet einen Eindruck vom Leben in einem Land, das uns fern und fremd ist. Doch die beiden Hauptfiguren, Layla und Basil, müssen sich entscheiden, welchem Leben sie den Vorzug geben wollen.

Barbara, die Mutter von Layla und Basil, hat als deutsche Krankenschwester den Saudischen Arzt Tarek geheiratet. Zunächst leben sie in seiner Heimat, um dann eines Tages nach Deutschland umzusiedeln. Die Kinder gehen in Hamburg in die Grundschule. Tarek will in Deutschland eine Facharztausbildung machen.

Gab es womöglich auch politische Gründe für den Umzug nach Deutschland?

Die Kinder wurden nicht gefragt und sind zunächst einigermaßen sprachlos, als die in der nun neuen Umgebung in die Schule gehen sollen und aus dem Urlaub nicht nach Saudi-Arabien zurückkehren werden.

Nach dem frühen und unerwarteten Tod des Vaters muss seine Frau Barbara sehr bald schon das Leben der Familie in ihre Hände nehmen.

Wir erfahren nicht viel über die Vorgeschichte, denn zwanzig Jahre nach der Auswanderung entschließt sich Layla, nach Saudi-Arabien zurückzukehren und einen Saudischen Mann zu heiraten. Basil kommt zur Hochzeit. Weder seine Mutter noch er selbst verstehen so recht, warum sich Layla auf dieses Abenteuer einlässt. Schließlich erwartet sie dort ein Leben nach den strengen Regeln Saudischer Gesetze. Und das, obwohl sie ein Freigeist und ungläubig ist.

Mit zarten Tönen, einer wunderbar poetischen Erzählweise und dem Nymbus traditionsgebundener Saudis bezaubert uns Rasha Khayat mit ihrer Geschichte, die fast wahr zu sein scheint. Man fühlt sich als Leser fasziniert von den orientalischen Gebräuchen, der Vielfarbigkeit des Lebens und der Landschaft mit ihren Gerüchen und der flimmernden Hitze. Das ferne Deutschland erscheint dagegen zwar politisch freizügig dabei aber ärmlich und nüchtern. Warum aber wagt Layla diesen Spagat aus einer Heimat, in der sie zuletzt wohnte, hin zu den Wurzeln ihrer Geburt?

Sie hat beide Lebenswelten kennen gelernt und entscheidet sich für die Arabische.

Die Schilderungen von der Herzlichkeit und Gastfreundschaft in der großen arabischen Familie ist hinreißend und macht plausibel, warum es jemandem dort gefällt.

In diesem Roman kann man erfahren, dass die äußere und innere Wärme des Lebens in Saudi-Arabien so bestrickend sein kann, dass man dafür das trübe, oftmals graue und nüchterne Leben in Deutschland aufgeben möchte. Und Layla hat sich dazu entschieden!

Die Geschichte ist wertfrei und treffend in der feinen Beobachtung der lebhaften Gewohnheiten in Saudi-Arabien.

Eine wunderschöne Erzählung erwartet den Leser. Das ist kein dumpf verschlossenes Leben hinter Mauern, sondern eines, das von Liebe, Zuwendung, Heiterkeit und Lebensfreude zu berichten weiß.

Rasha Khayat
Weil wir längst woanders sind
192 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, März 2016
ISBN-10: 3832198148
ISBN-13: 978-3832198145
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Emanuel Bergmann: Der Trick

Emanuel Bergmann: Der Trick

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Magische Welt der Kindheit…

Zwei ca zehnjährige Jungen mit ihren Familien bilden den Plot einer Geschichte, die den Leser verzaubern könnte.

1934 lebt in Prag Mosche Goldenhirsch. Sein Vater ist Rabbi, seine Mutter kürzlich verstorben. Er fühlt sich verloren in der Welt, als er vom Schlosser, einem vorübergehenden Liebhaber seiner Mutter, in einen Zirkus eingeladen wird. Dort erlebt er seltsame und wunderbare Dinge. Er ist so entzückt, dass er der strengen Zucht seines Vaters zu entfliehen trachtet. Er beginnt, den Honigmann zu folgen, der im Zirkus als Magier auftritt.

2007 in Los Angeles sucht der zehnjährige Max ebenfalls einen Zauberer, den großen und berühmten Zabbatini, um seine Eltern, die sich scheiden lassen wollen, wieder zusammenzubringen.

Beide Jungs sind kleine Juden, die der Magie zuneigen.

Um ihre Suche nach der Wahrheit und dem Glück im Leben dreht sich die Erzählung, in der sie die abenteuerlichsten Erlebnisse haben.

Wir sehen sie im Wechsel zwischen der Vergangenheit und dem Heute. Man kann ihre Reise über Berlin, das Nazireich mit der grausamen Judenverfolgung und dem schrecklichen Krieg weit über die Länder Europas hinweg bis nach Amerika in das Jahr 2007 verfolgen. Hier vollendet sich ein Roman, der reich an Zauber und Grausamkeit über alle Hürden hinweg schließlich zur Liebe führt.

Emanuel Bergmann hat eine zauberhafte Erzählung geschaffen. Das jüdische Milieu in Prag und Amerika prägt das Geschehen, das zu einem fernen Zeitpunkt die Suchenden zusammenführt. Im einen Fall fühlt man sich in alte Zeiten jüdischen Lebens mit ihren Traditionen und dem Glauben zurück versetzt. Dann aber stellt man fest, dass auch in heutiger Zeit Wunder möglich sind, wenn man nur an sie glaubt! Ausgewogen werden Geschichten erzählt, die zwischen Komik, Verzweiflung, Sehnsucht und Glück changieren.

Emanuel Bergmann schreibt für Verlage und verschiedene Filmstudios; er unterrichtet Deutsch, übersetzt Bücher und schreibt nun auch Romane. Dieser ist ihm gut gelungen.

Emanuel Bergmann

Der Trick
400 Seiten, gebunden
Diogenes, Februar
ISBN-10: 3257069553
ISBN-13: 978-3257069556
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