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Autor: Claudine Borries

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

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Verlassene Heimat.

1979 wurde der Schah von Persien aus Teheran vertrieben, und durch eine Revolution, die vom Volke aus ging, gelangten die Mullahs an die Macht. Doch alle Hoffnungen auf Freiheit zerschlugen sich im Terror unter der neuen Herrschaft. Viele Freiheitskämpfer sahen sich zur Flucht aus dem Land gezwungen. Hier setzt der Roman von Shida Bazyar ein: ihr Held Behsad, dem Kommunismus verbunden, flieht und mit ihm seine geliebte Frau Nahid. In Deutschland leben sie und verfolgen von hier aus die Entwicklung in ihrem Orientgeknechteten Land. Behsad ist nach eigenem Bekunden Atheist. Menschen mit dieser Denkungsart können in einem Gottesstaat nicht leben, da sie sich damit der Verfolgung und dem Tod aussetzen.

1989 erleben wir Behsad mit seiner Frau und mehreren Kindern in Deutschland wieder. Hier ist man frei, hier darf man Brecht und andere linke Autoren lesen.

Über die Kinderbücher von Erich Kästner lernt man Deutsch und erfährt etwas über das Land, das ein Nazireich hervorgebracht hat.

Geheimnisvoll und in Andeutungen verläuft die Erzählung, die zu Beginn den Zauber des Orients atmet. In Deutschland erwarten die Flüchtlinge andere Sitten und eine andere Kultur. Sie trennt die Familie von den Gebräuchen ihrer Heimat. Behsad und Nahid gehören zu den ersten Emigranten, die ihr Land, das sie lieben, verlassen und in Deutschland ihr Heil suchen. Zurück ließen sie ihren guten Freund Peyman, von dem sie hinfort nur gelegentlich Nachrichten aus der Heimat erhalten.

Die Erzählung verläuft durch geringe Absätze und wenige direkte Reden in einer fast monotonen Weise. Vielleicht aber löst gerade diese Erzählweise Neugierde aus, denn sie unterstreicht die unterschiedliche Denkweise in Religion und Lebensweise der Völker des Orients von denen des Okzidents.

Behsad schaut genau hin und meint, etwas über den Kapitalismus zu lernen. Doch hier gibt es arm und reich, ohne dass die Rechte des Einzelnen eingeschränkt werden.

In Zehnjahresabschnitte wird aus den Augen der Kinder von Behsad und Nahid ein Bild aus dem Leben der Emigration gezeichnet. Die Kinder sind nach und nach assimilierte Deutsche geworden. Die Bindung an die Heimat ist zuletzt nur noch Erinnerung mit einer stillen Sehnsucht nach dem Land ihrer Väter.

Das Buch liest sich nicht leicht, weil die Zeitebenen zuweilen wechseln. Allerdings bekommt man einen Eindruck vom Leben in der Fremde. Kulturen wachsen in ihren eigenen Lebensräumen, und sie zu wechseln bedeutet Verlust, Sehnsucht und Heimweh. Politische Verhältnisse erfordern Anpassungen, die häufig gegen das eigene Gewissen stehen.

Shida Bazyar hat sicher persische Wurzeln, lebt aber schon lange in Deutschland, wo sie auch geboren wurde.

Ihr Buch bietet gerade unter den gegenwärtigen politischen Verwerfungen in Nahost und West einen emotional gewichtigen Beitrag zum Verständnis kultureller, politischer und religiöser Völkerdifferenzen.

Es ist ein eindrucksvolles Buch, das doch eine gewisse Fremdheit im Aufbau und Ausdruck vermittelt.

Shida Bazyar
Nachts ist es leise in Teheran
288 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2016
ISBN-10: 3462048910
ISBN-13: 978-3462048919
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David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar

David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar

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Außergewöhnliche Schicksalsverarbeitung…

Der Titel zu diesem sehr anspruchsvollen Roman ist einem jüdischen Witz entnommen. Auf ihn soll hier nicht näher eingegangen werden.

Auf die Bühne eines Theaters in der kleinen Stadt Netanja in Israel kommt koboldhaft ein kleiner Mann gesprungen: Dovele Grinstein. Wie alt mag er sein? Er beginnt sofort einen Dialog mit dem Publikum. Da seine Einlassungen sehr unvermittelt kommen, ist der Leser zunächst frappiert und ratlos, was uns der Schriftsteller mit seinem Text sagen will.

Zu den Zuschauern hat Dovele einen alten Freund aus Kindertagen eingeladen: einen pensionierten hohen Richter, dessen Urteile ihn immer wieder fasziniert hatten. In den irrwitzigen Vorführungen des kleinen Komödianten erkennt der Richter das eine oder andere Mal seinen alten Freund wieder. Doch worum geht es bei diesem Wiedersehen?

Der Kobold bittet ihn, ihn zu „erkennen“ oder auch das zu sehen, was man nicht aussprechen kann. Ist das nicht eine fast biblische Metapher? Sich „erkennen“ bedeutet hier, den wahren Kern des anderen zu sehen.

In irrwitziger Weise reißt der Komödiant das Publikum mit. Seine Ausbrüche in Gestalt von Witzen und langen Reden gemahnen in ihrer Form an eine Art Katharsis. Zwischen Komik und Trauer, zwischen Verzweiflung und Aufruhr erfährt man mehr über die israelische Gesellschaft und Doveles eigenes Schicksal, als man erwartet hat. Kein lustiger Comedy – Abend wird dem Zuschauer geboten, sondern ein Abend über tiefe Wunden, die durch die Shoah verursacht wurden.

Durch die Erzählung hindurch schwingt der Versuch mit, auf komödienhafte Weise dem täglichen Ernst des eigenen Schicksals zu entkommen. Der Roman stimmt traurig und melancholisch. Nichts ist wirklich komisch, denn es handelt sich hier um das Schicksal von Dovele und von dem der Juden nach dem letzten Weltkrieg.

In zahlreichen Episoden erfährt man von Dovele, wie sein Leben verlaufen ist; was ihn erschüttert hat und was ihm unerklärlich geblieben ist, und wo er vermeintlich Schuld auf sich geladen hat.

Die Form eines pausenlosen Monologs und Dialogs ohne besonderen Handelsstrang macht die Lektüre zu einer nicht leicht zu bewältigenden Hürde. Man muss sich dem Gesang des Augenblicks überlassen, um das ganze Geschehen zu erfassen.

David Gossmann ist ein außergewöhnlicher Schriftsteller, dessen sensible und feinfühlige emotionale Wahrnehmung menschlichen Seins schon in seinem Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ ergreifend war. Hier gelingt ihm das wieder auf besondere Art und Weise.

David Grossman
Kommt ein Pferd in die Bar
256 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Februar 2016
ISBN-10: 3446250506
ISBN-13: 978-3446250505
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Verschwunden

Verschwunden

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Ein stiller Ort am Meer in Irland: Galway an der Atlantik Küste.

Eine Mutter verbringt hier ihren ersten Weihnachtsurlaub alleine mit dem Sohn Tomas. Der Vater hat sie verlassen.

In sehr stimmungsvollen Bildern wird uns die Ruhe, der Geruch des Meeres, Sturm und das Tosen der Brandung nähergebracht.

Tomas bekommt einen Neoprenanzug zu Weihnachten. Er liebt es, im Meer zu sein. Mit seinen 13 Jahren ist er schon kräftig. Aber er ist auch unfügsam und ungebärdig. Außerdem ist er gehörlos.

Man erfährt noch, dass er ein russisches Kind war, das Rebecca und ihr Mann eines Tages adoptiert haben.

Am Morgen nach dem Fest ist Tomas verschwunden.

In dieser wilden, herben Landschaft ist man den Gezeiten ausgesetzt wie nirgendwo.

Colum McCann kann sehr aufwühlend und sensibel von dem Beisammensein von Mutter und Kind berichten.

Konnte Rebecca keine eigenen Kinder haben? Warum hat sie sich ausgerechnet dieses damals sechsjährige Kind in Russland ausgesucht?

Man weiß es nicht. Nur so viel: sie liebt diesen angenommenen Sohn sehr und ist fassungslos, als er nun plötzlich nicht mehr auffindbar ist.

Die poetisch und fein beschriebenen Vorgänge lassen einen gar nicht los. Sie erzeugen unter der ruhigen Oberfläche eine unterschwellig wahrnehmbare Spannung, die einen ganz in Bann zieht. Vor allem meint man immer wieder den aufgerissenen Himmel und die raue Luft zu spüren, die mit den tragischen Ereignissen um Mutter und Sohn korrespondieren.

Diese kurze aber feine Erzählung liest sich leicht und schnell und eindrucksvoll. Sie eignet sich bestens auch als kleines Geschenk für diverse Gelegenheiten.

Nikolaus Hansen, der Herausgeber dieser kleinen netten Reihe Edition Kattegat im Dörlemann Verlag fügt der Erzählung noch einige Eindrücke im Zusammensein mit Colum McCann an. Sie erhellen den Blick auf einen außergewöhnlichen Autor.
Er fügt wunderbar feinfühlig Realismus mit Fiktion zusammen.

Colum McCann wurde in Dublin geboren und lebt heute mit Frau und Kindern in New York.

Colum McCann
Verschwunden
112 Seiten, gebunden
Dörlemann, Januar 2016
ISBN-10: 3038200301
ISBN-13: 978-3038200307
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Lynne Schwartz: Für immer ist ganz schön lang

Lynne Schwartz: Für immer ist ganz schön lang

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Über das Auf und Ab in der Liebe…

Oh ja, eine Ehe kann einem ganz schön zu schaffen machen!

Lynne Schwartz, ich muss bekennen, dass ich die Autorin noch nicht kannte, hat einen wunderbaren Roman über ein Paar geschrieben, das es sich nicht leicht gemacht hat mit dem Zusammenleben.

Ivan und Caroline sind Akademiker, leben und arbeiten an einer Universität in Boston und konnten sich nur schwer auf eine feste Bindung einlassen. Ihre Berufe erfüllen sie beide sehr. Sie ist Mathematikerin, und er ist Kunstsachverständiger. Ein Kinderwunsch stellte sich erst nach Jahren und dann sehr heftig bei Caroline ein. Es war zunächst schwer, zur Erfüllung dieses Wunsches zu gelangen.

Kinder verändern das Leben. Das kann man bei diesen beiden charaktervollen Menschen sehr deutlich erfahren. Die beiden bekommen in langen Jahren Abstand zwei Töchter. Erst jetzt beginnt die wahre Herausforderung für ihre Liebe. Sie müssen Beruf, Familie und Interessen unter einen Hut bringen.

Lynne Schwartz zeichnet zwei Liebende, die immer wieder Zeiten der inneren Trennung durchleben. Zwischen Zuneigung und Entfremdung vergehen die Jahre. Nach zwanzig Jahren ist dann ein Tiefpunkt erreicht, aus dem fast kein Entrinnen möglich scheint.

Wie dieses Paar das Leben zu zweit meistert, wie sehr sie sich lieben und doch auch in Gegnerschaft aneinander geraten, das ist grandios beobachtet und fesselnd beschrieben. Man liest das Buch mit wachsender Spannung und erlebt eine Biographie, die der Wirklichkeit abgeschaut zu sein scheint. Als das Paar später in New York lebt, bietet sich genug Anschauungsmaterial, um sich ein Bild von ihrem Alltag zu machen. Im Zentrum der Erzählung stehen immer wieder die Liebe, die Zweifel an der Dauer einer Liebe, das Durchhalten in belastenden Situationen, der gemeinsame Kampf um den Erhalt ihrer Zusammengehörigkeit und das Älterwerden.

Das Buch ist ein gelungenes Meisterwerk, das alle Wünsche nach anspruchsvoller Unterhaltung erfüllt. Empfehlungen von Raymond Carver und Joyce Carol Oates bürgen für literarische Glanzleistungen.

Der Roman von Lynne Schwartz ist bereits 1980 in Amerika publiziert worden und liegt jetzt in einer Neuübersetzung in Deutsch von Ursula Maria Mössner in Verlag Kein & Aber vor.

Lynne Schwartz
Für immer ist ganz schön lang
256 Seiten, gebunden
Kein & Aber, September 2015
ISBN-10: 3036957251
ISBN-13: 978-3036957258
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Julian Barnes: Am Fenster

Julian Barnes: Am Fenster

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Abhandlungen über das Leben als Schriftsteller.

Julian Barnes gehört zu meinen unbedingten Favoriten unter den englischsprachigen Autoren. Auch mit seinem neuen Buch, den Essays und einer Shortstory, enttäuscht er nicht.
Im Gegenteil: wie er in einem Prolog auf 1 ½ Seiten erklärt, welche Bedeutung die Literatur in unserem Leben hat, zeigt sich der wahre Meister. Ja, durch Literatur lernen wir die Welt verstehen! Zitat “Literatur erklärt und erweitert das Leben mehr als jede andere schriftliche Form“. Und ein weiteres Zitat: “Romane erzählen uns die reinste Wahrheit über das Leben; was es ist, wie wir es leben, wozu es da sein könnte, wie wir es genießen und was es uns wert ist, wie es misslingt und wie wir es verlieren“. Prägnanter und kürzer könnte man nicht ausdrücken, wie Literatur unser Leben erfasst.
Hinzu kommt seine Wortwahl, mit der sich der Leser unmittelbar angesprochen und in seine Überlegungen mit einbezogen fühlt.

In den folgenden Essays beschäftigt sich Barnes mit Ford Madox Ford, dessen Vorzüge in seinen Schriften er zu beschreiben weiß. Zahlreiche namhafte Schriftsteller wie George Orwell, Graham Greene, Henry James und viele andere mehr finden Eingang in seine Gedanken. Kiplings Frankreich und Frankreichs Kipling zeigen seine geist – und kenntnisreiche Art, sich mit Autoren auseinanderzusetzen und sich in deren Werke zu vertiefen.
Barnes erwähnt die Vorlieben dieser Dichter, ihre schriftstellerischen Besonderheiten, den Umgang mit dem Leser und so fort. Er offenbart sein breites Wissen über Schriftsteller der Vergangenheit und Gegenwart. Man wird sich manche Namen merken und andere wieder vergessen. Kipling, Dickens und Houellebeque werden ausführlich erörtert. Wer die Romane der genannten Autoren kennt, ist besser dran beim Lesen der Essays als der Unwissende.

Am unmittelbarsten nähert sich Julian Barnes dem Leser, wenn er ihn mit seiner eigenen Entdeckung der Literatur konfrontiert.
Seine Ausführungen gleichen Vorlesungen über Literatur. Man kann sie in schneller Folge lesen oder immer mal wieder in den Essays blättern. Das ganze Buch ist ein Plädoyer für die Welt der Bücher!

Julian Barnes
Am Fenster
352 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch,Januar 2016
ISBN-10: 3462048643
ISBN-13: 978-3462048643
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Truman Capote: Wo die Welt anfängt

Truman Capote: Wo die Welt anfängt

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Erzählungen können niemals eine ganze Lebensgeschichte enthüllen. Immer geht es nur um Episoden aus dem Leben einzelner.

Diese spät entdeckten Erzählungen aus jugendlichen Jahren von Truman Capote erfüllen alle Kriterien von gut erzählten kurzen Lebensabrissen. Es ist ein kurzes aber inhaltsreiches Bändchen nur.

Mit kraftvoller Sprache und großer Intensität erzählt Capote die skurrilsten und drolligsten Geschichten. Einmal makaber, dann wieder tragisch und geheimnisvoll begegnet man zwei alten Damen, die über den Freitod eines Mannes sprechen. Dann wieder malen sie sich aus, wie man gekonnt und unauffällig jemanden um die Ecke bringen könnte, der einem im Wege ist. Auch ein Mord passiert, vor dem einen graust. Die Geschichten zeigen Fantasien, die von tiefen Gedanken des Abseits getragen sind.

Der kleine Junge, der sich einen Hund wünscht, der ungewöhnliche Tod eines anderen, seltsame Kindheitsfantasien und traurige Lebenserfahrungen: alle zusammen ergeben Blitzlichter aus dem gewöhnlichen Leben, die uns erschauern lassen. Sie sind von poetischer Sprachgewandtheit, lebendig, vielfarbig und originell.

Die Erzählungen schreiten munter fort und bieten leicht überzogen ein buntes Kaleidoskop menschlicher Begebenheiten.

Eine jede Erzählung bietet einen anderen Grundton, doch bleibt die Erzählkunst Truman Capotes unverwechselbar in jeder seiner Geschichten spürbar. Er weiß Stimmungen und Landschaftsbilder gekonnt einzufangen, so dass man sich hautnah am Geschehen fühlt.

Die Geschichten stimmen einen nachdenklich und lassen darauf schließen, dass Capote frühzeitig eine intensive Beobachtungsgabe entwickelt und eigene sehnsuchtsvolle Lebenserfahrungen gemacht hat, die ihn zu einem Ausnahmeschriftsteller werden ließen.

Truman Capote
Wo die Welt anfängt
160 Seiten, gebunden
Kein & Aber, 2. Auflage, November 2015
ISBN-10: 3036957316
ISBN-13: 978-3036957319
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Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater

Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater

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Fantasie und Wirklichkeit…

Die bekannte Fernsehmoderatorin Anne Gesthuysen hat nach dem Roman über drei Tanten „Wir sind doch Schwestern“ einen neuen Roman geschrieben. Die Geschichte ist angelehnt an die authentische Malerin Georgette Agutte und ihres Mannes Marcel Sembat.

Wie hat alles angefangen?

Zwei Austauschschülerinnen aus den achtziger Jahren haben enge Freundschaft geschlossen. Besonders Lilie Agutte aus Frankreich hat in dem Vater von Hanna am Niederrhein einen „Gastvater“ gefunden, dem sie sich eng verbunden fühlt. Ihre eigenen Eltern und besonders der Vater waren nie so richtig für sie da. Sie fährt 2007 nach Veen an den Niederrhein, um den Gastvater zu besuchen, der an Krebs erkrankt ist. Mit im Gepäck hat sie ein Bild, das lange in ihrer Wohnung in Paris herum hing ohne rechte Würdigung zu erfahren. Man hatte es ihr bei einem Einbruchsversuch zu entwenden versucht. Ist es denn etwas wert, und wer ist der/ die MalerIn? Hermann, der Gastvater, wird neugierig und beginnt, sich intensiv mit der Entstehungsgeschichte zu befassen. Dabei erleben er und seine zwei „Töchter“ Neuigkeiten ganz eigener Art. Die Entstehungsgeschichte des Bildes datiert etwa um das Ende des 19. Jahrhunderts.

In wechselnden Szenen sind wir einmal in Deutschland um 2007, um uns dann wieder in die Darstellung des Bildes und seines möglichen Ursprungs zu vertiefen. Lilie, Hanna und ihr Vater machen sich auf eine abenteuerliche Reise, um der Geschichte des Bildes und damit der Ahnen von Lilie auf die Spur zu kommen.

Wir werden zurückversetzt in die Zeit der Belle Epoque mit allen ihren damaligen Kunstrichtungen und den bekannten Malern und Künstlern des Impressionismus. Die drei erfahren bei ihrer Suche, dass Lilies Ururgroßtante Georgette Agutte eine talentierte Malerin war. Zu ihrem Freundeskreis gehörten Maler wie Matisse, Pissarro und viele andere Künstler. Sie war in zweiter Ehe glücklich verheiratet mit dem sozialistischen Politiker Marcel Sembat.

Anne Gesthuysen weiß leicht und unkompliziert zu erzählen, wenn ihr die Anfänge der Geschichte auch ein wenig breit und ausufernd geraten sind. Ihre Familiengeschichten sind warmherzig und liebevoll angelegt. Hier hat sie das Wagnis unternommen, eine wahre Geschichte mit einem fiktiven Roman zu verbinden. Das hat ihrer Fantasie keine Grenzen gesetzt. Man merkt, dass sie Lust am „Schreiben“ hat. In langen Passagen schildert sie Mensch und Natur, lässt ihre Figuren Dialoge führen und befasst sich mit Kunstgeschichte und Geschichte, die bis zum Beginn und Ende des Ersten Weltkriegs reicht. Wie den Faden eines Wollknäuels verwirrt und entwirrt sie ihre Geschichte mit immer neuen möglichen Lösungen. Nicht zuletzt dreht sich die Erzählung um Familienbeziehungen, gute wie weniger gelungene, und um die „Zeit“ als Rahmen für Beginn und Abschied.

Man darf mit Fug und Recht sagen: es ist eine leicht zu lesende Lektüre!

Anne Gesthuysen
Sei mir ein Vater
432 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, November 2015
ISBN-10: 3462048325
ISBN-13: 978-3462048322
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Dorothy Baker: Zwei Schwestern

Dorothy Baker: Zwei Schwestern

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Blick in die Abgründe der menschlichen Seele…

Der wörtlich übersetzte englische Titel „ Cassandra auf der Hochzeit“ wäre wohl der bessere Titel gewesen, denn es geht hier um Zwillinge, von denen der eine sich zur Heirat entschlossen hat, der andere aber in symbiotischer Beziehung zum Gegenüber hängen geblieben ist.

Von Beginn an geht es um diese geplante Hochzeit, von der die Schwester Cassandra einfach nichts wissen will. Sie ist Dozentin in Berkley und macht sich unwillig auf die Reise zu ihrer elterlichen Ranch, wo die Hochzeit ihrer Schwester Judith mit einem jungen Arzt stattfinden soll. Gleich zu Beginn spürt man Cassandras Sarkasmus und ihre Ungläubigkeit, dass ihre Schwester Judith sie verlassen wird. Judith ist gelassen und ruhig. Sie hat ihr Leben selber in die Hand genommen, weil sie ein eigenständiges Leben liebt. Cassandra ist innerlich wütend und hektisch. Die Erzählung ist so gehalten, dass man deutlich spürt, wie sie rebelliert und gegen den Vorsatz der Schwester anzugehen versucht. Die Schwestern waren sich so innig verbunden, dass sie sogar die gleichen Kleider zur Hochzeit unabhängig voneinander ausgesucht haben! Judith wird Zeugin eines Dramas, in dem sie die Hauptrolle als ungetreue Schwester spielt. Schaut Cassandra in den Spiegel, sieht sie zugleich mit dem eigenen Spiegelbild das Gesicht der Schwester. Ohne es zu bemerken, hat sich Judith von Cassandra entfernt. Diese ist darüber zutiefst schockiert und aufgebracht.

Der Kampf zweier äußerlich gleicher aber charakterlich und mental ungleicher Schwestern bestimmt das gesamte Geschehen in dem Roman. Die Begegnungen finden auf der elterlichen Ranch statt. Dort lebt neben dem Vater, einem pensionierten Philosophen, nur noch die etwas exzentrische Großmutter.

Die Autorin spielt auf der Klaviatur der Gefühle, in der sich die vier Menschen verhakt haben. Die Zwillingsschwestern erzählen abwechselnd in der Ichform, so dass man meint, es habe sich alles genauso zugetragen.

Mit feinem Gespür für die Seele des Menschen analysiert Dorothy Baker eine Beziehung, die durch Geburt als Zwillinge in einer ausweglosen Symbiose zu ersticken droht. Bei der äußerlichen und durch die Heirat von Judith auch innerlichen Trennung geht Cassandra existenziell fast zugrunde.

Die Geschichte wird packend erzählt und schlägt den Leser durch feine Nuancierungen in der Wahrnehmung der Gefühle Cassandras in Bann. Man kann sich gut in ihr inneres Erleben einfühlen. Dorothy Baker ist eine ausgezeichnete Beobachterin und Erzählerin. Ihr Roman fesselt u.a. durch die Tragik im Erleben ihrer Hauptfigur.

Gelegentliche Längen tun der Lektüre keinen Abbruch.

Dorothy Baker (1907 -1968) ist ähnlich wie John Williams mit seinem Roman „Stoner“ eine Wiederentdeckung aus dem letzten Jahrhundert. 1965 erschien ihr Roman in der Übersetzung von Günther Huster zum ersten Mal auf Deutsch. Jetzt ist er in der guten Übersetzung von Kathrin Razum bei dtv neu aufgelegt worden.

Man kann ihn sehr empfehlen!

Dorothy Baker
Zwei Schwestern
280 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, September 2015
ISBN-10: 342328059X
ISBN-13: 978-3423280594
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Tamara Dietl: Die Kraft liegt in mir

Tamara Dietl: Die Kraft liegt in mir

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Bewältigungsstrategien in Lebenskrisen.

Tamara Dietl hat ein durchreflektiertes Buch über ihre Jahre mit dem kürzlich verstorbenen Regisseur Helmut Dietl geschrieben.

Als sie ihn kennenlernt, ist sie bereits eine erwachsene und sehr reife Persönlichkeit. Sie war Journalistin, Dokumentarfilmerin und inzwischen Coach für diverse Unternehmen. Angezogen von den Thesen des Psychiaters Viktor Frankl hat sie sich dessen Lehren vom Sinn des Lebens zu Eigen gemacht. VF war Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse. Von diesen Thesen ist sie tief durchdrungen. Sie basieren auf einer positivistischen Sichtweise des Lebens, in dem wir Herr unseres Schicksals und unserer Handlungen sind.

Krisen bieten demnach die Möglichkeit, sich auf sich selber zu besinnen und sich durch Eigenerkenntnis zu stärken. Wir sind nicht Herr über das Leben oder Sterben, wohl aber darüber, wie wir leben oder sterben.

Darüber hinaus ist die Autorin durch Großmutter und Mutter schon früh auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft aufmerksam geworden. Sie nimmt Emanzipation als Funktion war. Wir können gleich berechtig handeln, ohne gleich zu sein.

Todesfälle im Freundes- und Familienkreis sind jeweils tief emotional anrührende Momente, die Tamara Dietl trauernd durchlebt, ohne sich zu verlieren.

Von Beginn an merkt man in ihren Aufzeichnungen, wie stark sie ist, und wie selbst bestimmt sie auch die Ehe mit Helmut Dietl eingeht. Natürlich hat sie mit 36 Jahren, als sie ihn kennenlernt, bereits eine beachtliche Karriere in wechselnden Berufen hinter sich. Sie weiß, dass sie alleine leben kann, und sie weiß, wie man Partnerschaft durch sinnvolle Absprachen gestalten kann, so dass das Scheitern der Beziehung möglichst nicht einkalkuliert werden muss.

Helmut Dietl war fast zwanzig Jahre älter als sie. Durch seinen Tod wurde eine offensichtlich harmonische, liebevolle und von zwei gleichberechtigten Partnern bestimmte Beziehung vorzeitig beendet.

Tamara Dietl beschreibt ihren inneren Werdegang sehr einleuchtend. Sie reflektiert alle Begebenheiten in ihrem Leben mit Neugierde und anhaltendem Interesse für die inneren Zustände, in denen sie sich befindet. „Einhalten und Durchatmen“ sind ihre Devisen; damit ist sie weit gekommen. Nicht jedem sind die intellektuellen Möglichkeiten und Feinheiten gegeben, so diszipliniert zu denken, das eigene Verhalten zu Durchforschen und Ergebnisse zu akzeptieren.

Den folgenden Spruch hat sie sich als Tröstung zu Eigen gemacht:

Gott gebe mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern,
die ich ändern kann
und die Weisheit,
das eine vom andern zu unterscheiden.

Friedrich Christoph Oetinger (1702 -1782)

Man profitiert von ihren Aufzeichnungen auf je eigene Weise und kann sie sehr empfehlen.

Tamara Dietl
Die Kraft liegt in mir
296 Seiten, gebunden
btb Verlag, November 2015
ISBN-10: 3442754941
ISBN-13: 978-3442754946
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Navid Kermani : Wer ist wir? – Deutschland und seine Muslime

Navid Kermani : Wer ist wir? – Deutschland und seine Muslime

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Navid Kermani versucht in seiner Studie über das „Wir- Gefühl“ und die Identitätssuche bei interkulturell aufwachsenden Bürgern zu recherchieren, wie weit doktrinäre Religionsauffassungen und Vorschriften von Religionsführern als Grund für kulturelle Missklänge und Gegensätze interpretiert werden.

In seiner makellosen, gepflegten Sprache erzählt Kermani aus seiner eigenen Kindheit, die er im Raum Siegen in Westfalen wohl behütet im Kreise seiner iranischen Familie verbracht hat. Überzeugend und glaubwürdig hat er gespürt, dass soziale und ökonomische Einflüsse für die Zugehörigkeit zu einer Kultur viel bedeutsamer sind, als die Religionszugehörigkeit und die fremdartigen Lebensgewohnheiten unterschiedlicher Völkergemeinschaften. Er, dessen islamische Familie zur oberen Mittelschicht gehört, fühlte sich keineswegs als Außenseiter. Eher waren die Unordnung und eine sorglose Freiheit im Elternhaus bestimmend für seine Kindheit, so dass seine Freunde liebend gerne zu ihm zum Spielen kamen. Erst als er, der begeisterte Fußballspieler, in einem Verein spielte, zu dem vorwiegend Kinder aus minderbemittelten Familien gehörten, wurde ihm bewusst, dass er aus einer anderen Schicht stammte und eigentlich nicht dazu gehörte. An vielen kleinen Beispielen wie z.B. dem Umgang mit den Eltern, dem gegenüber den deutschen Mitschülern nachlässig verpackten Schulbrot und sprachlichen Differenzierungen macht Navid Kermani sein Aufwachsen in zwei verschiedenen Kulturen fest. Seine persönliche Entwicklung entschied er als eine zwischen dem Innen und dem Außen. Der Wechsel war verinnerlicht und gelang ihm mühelos.

Nach Kermani ist eine allgemeine Identitätssuche in allen Religionen zu beobachten, ob im Hinduismus, im Islam oder bei den Evangelikalen in Amerika und bei christlich fundmentalistischen Gruppierungen überall in der Welt. Die Ausgrenzung Andersgläubiger und der Zusammenschluss innerhalb einzelner Religionsgruppen mit festen Ritualen sind Merkmale einer Suche nach Halt und Zugehörigkeit. Die Angst vor dem Identitätsverlust ist in ungebildeten und einfachen strukturierten Bevölkerungsschichten ungleich tiefer verankert als in denen, die in besser gesicherten ökonomischen und bildungsorientierten Sphären leben. Dennoch kommen Fundamentalisten und Terroristen mehrheitlich aus besser situierten Familien. Hier kommen Ideologien und Fanatismus mit ins Spiel, die als Grundlagen für die Übernahme von Macht und Herrschaft dienen.

Nach und nach entfaltet Kermani eine breite Palette sozialer Verhaltensweisen und ideologischer Aussagen bei Vertretern der verschiedenen Religionen. Indem das eigene Verhalten und die eigenen Glaubensgrundsätze für allein gültig erklärt werden, grenzt man Minderheiten als Gefährdung für die eigene Identität aus. Das klingt so simpel und wird doch erst durch Beispiele aus Indien, Indonesien und Iran fassbar veranschaulicht.

Kermani befasst sich in weiteren Kapiteln mit Einzelaspekten kultureller Konflikte und nicht zu übersehenden Gemeinsamkeiten. Insofern bieten seine Ausführungen im Wechsel zwischen Theorie und Praxis differenzierte Einblicke in den multikulturellen Alltag unseres Lebens. Er analysiert aber wertet nicht, wenn ihm auch gelegentlich polemische Bemerkungen unterlaufen. Mit klarem Verstand zeigt er die Ambivalenzen und Konflikte, die aus unterschiedlichen Anschauungen und Lebensgewohnheiten entstehen. Diese werden zwar über Religion und Volkszugehörigkeit erklärt, sind aber nicht zuletzt ein allgemein zwischenmenschliches Phänomen. Der Autor weitet den Blick vom kleinen in eine unfassende Ansicht auf kulturelle Gegensätze und die dadurch bedingten internationalen Streitigkeiten und beschränkt sich nicht nur auf den deutschen Alltag.

Man kann den Autor nach seinen Ausführungen fast als überkonfessionell bezeichnen, so klar und durchsichtig geht er die Probleme an. Dass der Orientalist und Schriftsteller Mitglied der deutschen Islamkonferenz ist, kann der Arbeit im Hinblick auf Verständigung, Toleranz und Offenheit für alle Themen von interkultureller Relevanz nur dienlich sein. Sein verständlich geschriebenes Buch ist ein beachtenswerter Beitrag zur gegenseitigen Völkerverständigung.

Navid Kermani
Wer ist wir? – Deutschland und seine Muslime
189 Seiten, broschiert
C.H.Beck, 4. Auflage, November 2015
ISBN-10: 3406685862
ISBN-13: 978-3406685866
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