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Autor: Claudine Borries

Richard Ford: Frank

Richard Ford: Frank

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Frank Bascombe ist alt geworden! Dieser Held der amerikanischen Mittelschicht, der uns aus einer Reihe von Romanen Richard Fords bekannt wurde, ist 68 Jahre alt, war Makler und ist inzwischen Rentner. Mit dem Alter änderte sich sein Weltbild. Gleich geblieben aber sind seine Betrachtungen zur Umwelt, mit denen er seine Mitbürger, ehemaligen Freunde und Kollegen und das politische Geschehen um sich herum beobachtet. Franks Einlassungen zur Zeitgeschichte haben nichts von ihrem Sarkasmus und ihrer Selbstironie verloren. In vier Episoden werden seine neuesten Eindrücke über sein Leben und das der anderen wieder gegeben.

Wir befinden uns im Jahr 2012,in dem der Hurrikan Sandy die Ostküste der USA verwüstete. Häuser, die Bascombe einst verkauft hat, liegen zerstört am Boden. Er selbst hatte sich von der Küste New Jerseys schon vor längerer Zeit zurückgezogen.

In lockerem Jargon, der nicht immer ganz nachvollziehbar ist, ergeht sich Frank in seinen Erinnerungen. Seine Reden und sein Denken sind durchdrungen vom gesellschaftlichem Wandel und seinen Folgen. Das Datum 9/11 mit dem anwachsenden Terror, der die politische Geschichte Amerikas eingreifend veränderte, und Obamas Visionen sind einer ungewissen Gegenwart gewichen.

Richard Ford wählt über weite Strecken das Stilmittel des Selbstgesprächs, mit dem er seinen Erzähler über den Sinn und Unsinn des Lebens nachgrübeln lässt.

Sein Held Frank Bascombe erfasst die Lage des Landes wie in seinem gleichnamigen Roman davor immer noch realistisch und treffsicher. Er ist ein Durchschnittsmann mit klaren Einsichten. Gezeichnet wird er als Mann, der zu den Menschen und Dingen, auch zu den eigenen Kindern, einen gewissen Abstand hält. Seine dritte Frau Sally bleibt im Hintergrund und widmet sich den zahlreichen Hurrikanopfern. Freunde oder Weggefährten, die er zufällig oder verabredet trifft, kommen nicht immer gut weg in seinen differenzierten Beobachtungen.

Er bleibt über die ganze Geschichte hinweg ein spöttischer und leicht resignierter Mann. So betrachtet er sein eigenes und das Leben seiner Mitmenschen aus einer melancholischen und abwartenden Haltung.

Die Kontakte zu seiner  Ex-Frau und gelegentliche zu seinen Kindern lassen ahnen, dass er ein zurückgezogener und letztlich einsamer Mann ist.

Im letzten Kapitel wird vermehrt über den Tod reflektiert. Man spürt seine Neugierde aber auch die Furcht in seinen Überlegungen.

Ein nachdenklich stimmendes und die Endlichkeit einbeziehendes Werk hat uns Richard Ford in der Übersetzung von Frank Heibert vorgelegt. Er gilt zu recht als einer der erfolgreichsten Schriftsteller Amerikas.

Richard Ford

Frank
224 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, September 2015
ISBN-10: 3446249230
ISBN-13: 978-3446249233
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Atul Gawande: Sterblich sein

Atul Gawande: Sterblich sein

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Wie werden wir am Lebensende leben?

Dieser Frage ist Atul Gawande nachgegangen. Er ist Arzt und Amerikaner von indischer Herkunft und berichtet über seine Erfahrungen in den USA. Sie sind mit den Entwicklungen anderer zivilisierter Länder vergleichbar.

In verschiedenen Kapiteln handelt er den Status des Lebensendes ab und zieht u.a. den Vergleich zwischen früher und heute.

Gawande zeigt auf, dass mit dem demographischen Wandel neu einzurichtende Versicherungssysteme erforderlich wurden. Verlängerte Lebenszeit, die Möglichkeiten moderner Medizin und Mobilität in der heutigen Arbeitswelt sind Bedingungen, die den Zusammenhalt unter den Familien verändert haben. Damit einher ging die Verlagerung der Fürsorge aus dem früher mehr dem Familienverband überlassenen Aufgaben der Altenfürsorge an die so genannte öffentliche Hand. Die ersten Betreuungs – und Pflegeeinrichtungen wurden in Amerika durch engagierte Ärzte und betroffene Familienmitglieder gegründet. Sie endeten häufig im Desaster zwischen sicherer Versorgung, straff organisiertem Tagesablauf und Vereinsamung.

Gawande stellt fest, dass es einen Perspektivwechsel zwischen jungen und sehr alten Menschen gibt: hier wird vermehrt nach einer nach außen gerichteten Aktivität und Lebensgestaltung gesucht; im Alter hingegen wird der Rückzug in die Familie und zu den Kindern und alten Freunden angepeilt, und es herrscht eine allgemeine Abneigung gegen alles Neue.

Aus der Geriatrie (Altersheilkunde) führt der Autor Beispiele an, die uns zeigen, wie anders die Gesundheitsfürsorge für alte Menschen gegenüber jungen Menschen aussehen müsse. Altersmalaisen können vielerlei Ursachen haben, die nichts mit den Symptomen kranker Menschen in der Mitte des Lebens zu tun haben.

Atul Gawande zitiert Philip Roth mit seinem Satz aus dem Buch „Jedermann“, dass das Alter ein Massaker sei. Wie wahr! Er führt aus, dass im letzten Ende das Alter von einer ununterbrochenen Folge von Verlusten gekennzeichnet ist. Verlust von Angehörigen, Freunden, körperlichen Fähigkeiten und nicht zuletzt der eigenen Unabhängigkeit. Mit der häufig am Lebensende zu beobachtenden Versorgung im Heim geht die selbständige Gestaltung des Lebens und Handelns endgültig verloren. Fremdbestimmung und Verlust der Autonomie sind die bitteren Begleiterscheinungen um das Wissen darum, dass wir alle sterblich sind.

Neben den allgemeinen Fakten und Berichten erlebt man in Atul Gawande eine sehr Anteil nehmende Persönlichkeit. Er hat sich mit Patienten aber auch mit dem Sterben und Ende seines Vaters intensiv und liebevoll auseinandergesetzt.

Sein Buch ist ein Appell an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft für ein Miteinander, dass dem alten Menschen die Würde lässt und den Tod respektiert. Doch auch jeder einzelne von uns ist aufgerufen, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen und die Verleugnung des Todes zu beenden.

Im Anhang findet man eine Reihe von Anmerkungen zu diesem außergewöhnlichen Buch.

Atul Gawande

Sterblich sein
336 Seiten, gebunden
FISCHER, September 2015
ISBN-10: 3100024419
ISBN-13: 978-3100024411
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Rowan Coleman: Zwanzig Zeilen Liebe

Rowan Coleman: Zwanzig Zeilen Liebe

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Stella ist Krankenschwester in einem Hospiz, in dem Schwerkranke die letzten Wochen, Tage oder Monate verbringen.

Diese Arbeit fordert den ganzen Menschen, und in Nachtschwester Stella ist dieser Mensch gefunden.

Sie schreibt Nacht für Nacht Geschichten oder letzte Briefe für Angehörige von den Schwerstranken. Die Bekenntnisse, Lebensbeichten, Trauerreden oder sonst wie Versäumnisse erläuternden Schreiben bieten Einblicke in diverse Lebensschicksale. Sie sollen den Sterbenden das Ende erleichtern, in dem sie Klärungen und Rechtfertigungen ermöglichen. Es sind letzte Nachrichten aus dem irdischen Jetzt an die ehemals Geliebten, Schwestern, Brüdern, Freunde und Eltern oder Kinder. Entstanden sind so Episoden und Einblicke in die Lebenswege von zahlreichen Kranken und auch in die von Stella, Hope und Hugh, die mittelbar von lebensbedrohlichen Schicksalen berichten.

Die Todesnähe macht, dass die Briefe und Erzählungen von einer besonderen Tiefe getragen sind. Letzte Worte und Mitteilungen sind eine schwere Last. Sie müssen unter Umständen die Tragweite eines ganzen Lebens wettmachen. Stella selbst ist belastet durch eine dramatische Kriegsverletzung ihres Mannes, die er in Afghanistan erlitten hat. Während ihres schweren Dienstes am Nächsten kämpft sie selber einen tragischen Kampf um die Rettung ihrer Ehe.

Episode reiht sich an Episode. Die Schicksale rühren ans Herz, wenn einem auch die unausweichliche Nähe des Todes und die vielen Lebensschicksale gelegentlich zu viel werden.

Rowan Coleman neigt zu schmerzlichen Geschichten, in denen es um Krankheit und Tod geht, wie sie es in ihrem Roman „Einfach unvergesslich“ schon bewiesen hat. Sie hat einen ausgesuchten Sprachschatz und ist bemüht, neben der Trauer auch der Freude und den kurzen Augenblicken des Glücks Ausdruck zu geben.

Auf eine leicht makabere Weise ist der Roman unterhaltsam. Glück und Liebe, Schmerz und Kummer, Abschied und Frieden machen den Tenor der Erzählung aus.

Man sollte kein großes literarisches Werk von Rowan Coleman erwarten. Für eine kurze Ablenkung eignet sich der Roman durchaus. Doch eine gewisse Kürzung hätte dem Roman nicht geschadet.

Rowan Coleman
Zwanzig Zeilen Liebe
416 Seiten, broschiert
Piper Paperback, August 2015
ISBN-10: 349206017X
ISBN-13: 978-3492060172
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Emily St. John Mandel: Das Licht der letzten Tage

Emily St. John Mandel: Das Licht der letzten Tage

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Apokalyptische Visionen.

In dieser Geschichte, teils Fiktion, teils Rückblende, ist zunächst schwer ein roter Faden auszumachen.

Er zeigt apokalyptische Formen, die fast ein wenig an den ebenfalls sehr apokalyptischen Roman „Die Strasse“ von Cormac McCarthy erinnert.

Hier geht es um einen Virus, der binnen kurzer Zeit alles menschliche Leben auf Erden vernichtet. Es gibt nur wenige Überlebende.

In der Rückblende erfährt man erst Näheres über die einzelnen Akteure, Schauspieler, Liebende oder Freunde verschiedener Profession.

Arthur Leander, ein inzwischen berühmter Schauspieler, ist einer der Hauptakteure. Er hat verschiedene Ehen hinter sich. Zuerst mit Miranda, einer sieben Jahre jüngeren Frau, die er schon nach drei Jahren über hat und sie ihn! Hinreißend ist die Beschreibung, wie sie erkennt, dass sie in dieses Hollywood jener Schauspieler von Rang und Namen nicht gehört.

Doch sie ist eine aparte Person mit einem eigenwilligen Charakter. Schon lange arbeitet sie an einem Comic mit dem Titel „Das Licht der letzten Tage“. Es handelt sich nach ihren Aussagen um eine Graphic Novel, aber sie bietet niemandem Einblick in ihr Werk. Nur wir können uns vorstellen, dass dieser Comic uns an den Anfang der Geschichte zurückkatapultieren will.

So weit so gut.

Im Grunde geht es hier um die ganzen menschlichen Eitelkeiten, Entwicklungen, Trauer, Verlust und die Liebe!

Die Erzählung ist fein gesponnen, klug durchdacht und sprüht nur so vor Ideen, die den Leser herausfordern, sich intensiv mit dem Sujet zu befassen. Denn häufige Orts- und Szenenwechsel müssen verfolgt und erkannt werden.

Dann aber bekommt man Einblicke in gesellschaftliche Tabus und Verlockungen, in das Wechselspiel zwischen Beziehungen vom Beginn bis zum Ende bieten und in die Verwicklungen, in denen sich Menschen in Verkennung von Realität und Traum verfangen können.

Umrahmt bleibt die ganze Geschichte vom apokalyptischen Untergang. Die Menschen sind alle irgendwo gestrandet, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen unter Bedingungen, wie sie die Frühzeit kannte: jagen, essen, überleben und das alles immer mit dem Bedürfnis, diese Hölle alter Zeiten in die noch in Erinnerung gebliebene Zivilisation wieder verlassen zu können. Doch geht denn das?

Ratlos und geschockt bleibt der Leser zurück. Der Roman zeigt, wie es uns allen gehen könnte, wenn eine Pandemie unser gegenwärtiges Leben auslöschen würde.

Emily St. John Mandel
Das Licht der letzten Tage
416 Seiten, broschiert
Piper Paperback, September 2015
ISBN-10: 3492060226
ISBN-13: 978-3492060226

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Zeruya Shalev: Schmerz

Zeruya Shalev: Schmerz

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Wie lebt es sich mit andauerndem Schmerz?

Iris ist Mutter zweier heranwachsender Kinder. Sie lebt in Israel und ist verheiratet mit Micki, der lieb und fürsorglich ist. Doch das wahre Glück empfindet sie mit ihm nicht!

Als sie vor zehn Jahren bei einem Attentat schwer verletzt wurde, blieb für immer ein körperlicher Schmerz, der sie zermürbt. Doch daneben gibt es einen anderen Schmerz, einen, der sie tiefer berührt, als der körperliche. Ihre frühe Jugendliebe Eitan hatte sich nach dem Tod seiner Mutter von ihr getrennt. Sie wusste nicht warum, doch sie empfand diesen Schmerz ebenso nachhaltig und beklemmend, wie den körperlichen Schmerz. Hier ist die Schnittstelle, die erklärt, dass der seelische und der körperliche Schmerz identische Pein auslösen können.

Zeruya Shalev schreibt ihre Geschichte von Iris in einem traumähnlichen und visionären Stil. Immer wieder tauchen Fragen nach der Vergangenheit auf. Iris sinniert und fantasiert und wird von ihren körperlichen und seelischen Schmerzen geschüttelt.

Eines Tages trifft sie Eitan nach dreißig Jahren auf einer Krankenstation wieder. Er ist Arzt und Schmerztherapeut. Sie kann es nicht fassen und folgt ihm, sucht ihn, trifft ihn. Wie soll ihr Leben weitergehen?

In einer langen Abhandlung folgt die Autorin den Spuren der Vergangenheit von Iris. Kann man versäumtes Glück nachholen?

Ist die Gegenwart mit der abdriftenden Tochter Alma nicht bedrängend genug, um sich Rechenschaft abzulegen über das, was war und was heute ist?

Der Reiz der Erzählung liegt in dieser taumelnden, schmerzhaften Befindlichkeit, der Zeruya Shalev beredt Ausdruck zu geben vermag. Der Erzählstrang dreht sich neben dem Alltag immer wieder um die Vergangenheit. Die Liebe zwischen Müttern und Töchtern wird ebenso thematisiert wie deren Heranwachsen und die Folgen einer lange bestehenden Ehe. Iris und Micki, der Sohn Omer und Alma sind alle auf ihre Weise in Entwicklungen verstrickt, die auf unterschiedliche Wege der Bewältigung warten.

Zeruya Shalev ist eine überzeugende Erzählerin, deren Geschichten durch lang anhaltende Reflexionen zu fesseln verstehen. Ihre Familiengeschichten sind generell von wechselnden Stimmungen, Erkenntnissen und Entwicklungen bestimmt. Subjektive Sichtweisen der einzelnen Protagonisten führen zu Missverständnissen, und eigene Anteile unerfüllten Lebens bringen Aufruhr und Unruhe in das gemeinsame Leben. Ihre Sprache ist eindringlich, poetisch und zuweilen fast biblisch in ihrer Diktion. Sie beschreibt emphatisch, wie es tief im Inneren ihrer Figuren aussieht.

Zeruyas Shalevs ist eine hoch angesehene israelische Autorin, deren Werke in viele Sprachen übersetzt wurden. Die Übersetzerin Mirjam Pressler darf man ebenfalls für ihre Übersetzungen rühmen.

Zeruya Shalev

Schmerz
368 Seiten, gebunden
Berlin Verlag, September 2015
ISBN-10: 382701185X
ISBN-13: 978-3827011855
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Sabriye Tenberken: Die Traumwerkstatt von Kerala

Sabriye Tenberken: Die Traumwerkstatt von Kerala

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Die Welt verändern und Impulse dafür geben: das ist das Thema, und das ist die Geschichte, von der man hier hören kann.

Sabriye Tenberken ist mit 12 Jahren erblindet. Dank ungeheuer positiver Erziehungseinflüsse und einer selten optimistischen Lebenshaltung hat sie es ganz weit gebracht. Nicht nach unserem herkömmlichen Sinne ist sie erfolgreich; sie ist Entwicklungshelferin von einer besonderen Art.

Nach einer guten Ausbildung und einem Studium der Tibetologie, Soziologie und Philosophie, brach sie alleine nach Tibet auf. Dort schaute sie sich um, traf ihren Lebenspartner Paul Kronenberg und gründete mit ihm die erste Blindenschule der Region.

Welche Hürden es zu überwinden galt, wie man Zugang zu den Menschen fand und Überzeugungsarbeit leistete, dass blinde Menschen nicht gleich blöde Menschen sind, das kann man sich im gewöhnlichen Leben unserer Regionen kaum vorstellen.

Die beiden Aufbauhelfer leisten Unvorstellbares und bleiben beseelt davon, dass man auf diesem Weg noch weiter fortschreiten kann.

So gründeten sie eine Traumwerkstatt in Kerala/Indien. Dorthin kommen außergewöhnliche Menschen mit Behinderungen aus aller Welt, deren Visionen von neuen Projekten Erfolg zu versprechen scheinen. Hier lernen sie gemeinsam, wie man bei dieser Aufbauarbeit vorgeht.

Im Anhang sind die Namen und Länder aufgeführt, in denen schon Projekte aus der Werkstatt von Kerala hervorgegangen sind.

Sabriye Tenberken berichtet spontan und ohne Schönfärberei von ihren Anfangsschwierigkeiten, auch von Rückschlägen, immer aber getragen von der zuversichtlichen Hoffnung auf eine Veränderung der Welt. Sie ist weder naiv noch unrealistisch. Die sachliche und konkrete Berichterstattung macht das Buch zu einem Erlebnis. Wie charakterstark und selbstbestimmt muss ein Mensch sein, der trotz Behinderung sich an diese teilweise waghalsigen Projekte wagt?

Sie hat gelernt, mit der Nase und den Ohren ihre Einschränkung der Sehkraft zu kompensieren. Sie wirkt nie unsicher oder zaghaft. Stattdessen ist sie stabil und bestimmt in ihrem Vorgehen. Man merkt, dass manche ihrer Vorhaben fast unrealisierbar erscheinen.

Diese junge Frau besitzt eine außerordentliche visionäre Kraft. Sie packt etwas an, und es gelingt ihr. Gemeinsam mit ihrem Partner Paul Kronenberg hat sie fast Berge versetzt, und sie wird es weiter tun. Bewundernswert!

Ihr sind schon zahlreiche Ehrungen aufgrund ihrer Verdienste zuteil geworden.

Sabriye Tenberken
Die Traumwerkstatt von Kerala
288 Seiten, gebunden
Kiepenheuer&Witsch, September 2015
ISBN-10: 3462047175
ISBN-13: 978-3462047172
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Jane Gardam: Ein untadeliger Mann

Jane Gardam: Ein untadeliger Mann

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Lebenslinien…

In unnachahmlicher Weise werden wir zu Beginn dieses Romans sogleich hineingezogen in die Welt der englischen oberen Bürgerklasse des vergangenen Jahrhunderts.

„Old Filth“ wird der untadelige Mann von seinen Kollegen aus der höheren Anwaltschaft in Hong Kong genannt. Zusammengezogen ist dieser Name aus dem Akronym „Failed In London Try Hongkong“, denn eigentlich heißt er Edward Feathers. Er lebt jetzt in Dorset in England, wohin er sich mit seiner Frau Betty nach seiner Pensionierung zurückgezogen hat.

Er wurde ebenso wie seine Frau Betty in der englischen Kronkolonie Malaysia geboren und war dort in seiner Kindheit mit der asiatischen Sprache in Berührung gekommen. Später galt er in Honkong als herausragender Anwalt und Richter der englischen Krone.

Mit 80 Jahren untadelig wie eh und je ist er inzwischen verwitwet. Sein Auftreten, sein Haus und die Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten des Alters, das Wetter und die Landschaft werden minutiös und akkurat beschrieben. So akkurat wie sein Äußeres.

Nach dem Tod seiner Frau beginnt er, sich seiner Kindheit und seines eigenartigen Lebensweges zu erinnern. Dabei entwirren sich so manche Sonderheiten, denen er ausgesetzt war.

Er war ein Raj Kind. So wurden die Kinder genannt, die aus China in frühester Jugend nach England in Pflegefamilien geschickt wurden, wo sie oft durch hartherzige Pflegeltern einen Schock fürs Leben bekamen.

Auch seine Frau Betty war ein Raj Kind.

Sein Vater war District Officer der Provinz Kotakinakulu. Ein kaltherziger und unzugänglicher Mann, der seinen Sohn zu einfachen Malaysiern in Pflege gab, als seine Frau unerwartet im Kindbettfieber verstarb. Mit fünf Jahren gab er ihn dann nach England in eine Familie, von wo er in ein Internat mit Grundschule wechselte.

Hier setzen seine Erinnerungen ein, die sein ganzes Leben umfassen.

Feinsinnig und echt beschreibt Jane Gardam die Beziehungen untereinander und die ganze Atmosphäre der Kolonialbeamten und der verschiedenen Persönlichkeiten, die um die Person des Edward Feathers eine Rolle spielten. Zeitversetzt werden diese oder jene Episoden und Erfahrungsberichte zusammengeknüpft, bis sich ein rundes Bild der Persönlichkeit von Edward Feathers ergibt.

Der Zweite Weltkrieg ist lange präsent. Auf abenteuerlichen Wegen geht Filth seinen Weg, der wahrlich schicksalhaft erscheint.

Jane Gardam rollt hier ein Leben auf, das an Brüchen und Kanten reich war und von den unterschiedlichsten Bedingungen gezeichnet war. Es gab wenige Freunde, vorübergehende Weggefährten, die frühe malaysische Kinderfrau und immer wieder Verluste. Aus wechselnden Perspektiven lässt uns Jane Gardam an dem Schicksal dieses ehrlichen und auch kauzigen Mannes teilnehmen, in dem sich das ganze Jahrhundert des englischen Empire spiegelt. Teilweise ironisch, teilweise witzig, immer aber mit dem besonderen englischen Humor oder auch bissigem Humor ausgestattet liest man diesen Roman der außergewöhnlichen Autorin mit größtem Vergnügen. Gut dass es uns jetzt zugänglich gemacht wurde, denn in Englisch erschien der Roman bereits 2004.

Jane Gardam ist heute 86 Jahre alt. Sie wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.

Jane Gardam

Ein untadeliger Mann
352 Seiten, gebunden
Hanser Berlin, 2. Auflage, 24. August 2015
ISBN-10: 3446249249
ISBN-13: 978-3446249240
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David Foenkinos: Charlotte

David Foenkinos: Charlotte

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Biographie

Der wunderbare Erzähler David Foenkinos hat sich der Biographie einer ungewöhnlichen Frau genähert. Er ist fasziniert von einer Künstlerin, die durch die Nazis umgebracht wurde und in wunderbaren expressionistischen Bildern die Geschichte ihres Lebens hinterlassen hat. Auf dem Umschlagsbild sieht man das Selbstporträt der Künstlerin: skeptisch, trotzig und abwartend!

Charlotte Salomon, geb. 1917, war Zeichnerin und Malerin und hat ihr besonderes Talent für die Malerei nur kurz feiern können. Sie war Jüdin und musste eine lange Flucht mit Verlusten überstehen, als die Judenverfolgung in Deutschland mit ihren Auswüchsen ihren Anfang nahm.

Doch wie begann das alles?

David Foenkinos berichtet über seine Entdeckung der Malerin und der Suche nach ihren Wurzeln. Er ist begeistert von ihr und verwendet in seinem vorliegenden Roman die Form der klaren Erzählung im Wechsel mit seinen eigenen Forschungen nach ihrem Werdegang. Ohne hier alles vorwegzunehmen, kann man sagen, dass auf ihrer Familie ein schweres Schicksal lastete. Zahlreiche Suizide haben in ungewöhnlicher Weise einzelne Familienmitglieder aus dem Leben gerissen.

Charlotte erfährt erst spät, wie ihre Mutter gestorben ist und besuchte in frühester Kindheit schon das Grab der Schwester ihrer Mutter, die ihren Namen trug. Die Mutter starb 1926 ebenfalls durch Suizid.

Die Künstlerin wirkte wie ein erschrockener Mensch, der sich schon in frühester Kindheit tragischen Familienereignissen ausgesetzt sah, ohne diese zu verstehen. Sie machten sie einsam und ließen sie früh schon zum Zeichenstift greifen.

Der Vater hatte 1930 in zweiter Ehe eine bekannte Konzertsängerin geehelicht, die von Charlotte sehr akzeptiert wurde. Man führte in Berlin Charlottenburg ein großbürgerliches Leben. Bekannte jüdische Künstler, Wissenschaftler und Größen aus Forschung und Lehre verkehrten in dem geselligen Haus.

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde das Leben für Juden jedoch ungeheuer schwer. Jeder kennt die Folgen.

Charlotte gelingt dank ihrer außergewöhnlichen Begabung und Befürwortung durch einen Kunstlehrer zunächst noch die Aufnahme in die Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst. Doch auch das Glück dieser Tage endete durch die politischen Ereignisse.

Foenkinos hat eine Gabe, klar und nüchtern und doch ansprechend zu erzählen. Er beschreibt detailgenau, wie er für dieses Sujet zu eben dieser Erzählweise fand. Die knappen und kurzen Sätze ergeben ein ungeschöntes aber wahrheitsgetreues Bild der Künstlerin. Jeder Satz beginnt auf einer neuen Zeile, als solle ihm damit Nachdruck verliehen werden.

Durch die Erzählweise in dieser besonderen Form, in der das Leben von Charlotte Salomon noch einmal heraufbeschworen wird, erfährt man von einer Ausnahmekünstlerin mit ihrer besonderen Ausstrahlung.

Obwohl sie innerlich einsam war, besaß sie doch enorme seelische Kräfte. Eine kurze Liebesaffäre mit dem Gesangslehrer ihrer Stiefmutter ließ sie nie mehr los. Die Geschicke der Zeit im dritten Reich führten sie auf einem langen Weg über Frankreich und das Lager Gurs nach Südfrankreich, wo sie für einige Zeit sicher war.

Ihre Lebensgeschichte hat sie in einer Zeichenmappe mit dem Titel „Leben? Oder Theater?“ mit Bildern und Texten als Vermächtnis hinterlassen. In zahlreiche Ausstellungen waren ihre Bilder seither immer wieder zu betrachten. David Foenkinos ließen sie nie mehr los!

Man bleibt fasziniert und vertieft sich mit anhaltendem Interesse in die Geschichte dieser feinen, sensiblen und tief fühlenden Künstlerin, die wie so viele andere am Ende den Tod im KZ fand.

Foenkinos hat ihr mit seiner fabelhaften Erzählweise in der Übersetzung von Christian Kolb Ausdruck und Leben verliehen.

David Foenkinos
Charlotte
240 Seiten, gebunden
Deutsche Verlags-Anstalt, August 2015
ISBN-10: 3421047081
ISBN-13: 978-3421047083
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Bregje Hofstede: Der Himmel über Paris

Bregje Hofstede: Der Himmel über Paris

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Fluch und Segen der Liebe…

Mit feinem Stift und klugen Worten erzählt die Autorin Bregje Hofstede von einem Paar, das sich auf ungewöhnliche Weise kennen lernt und sich zu einander hingezogen fühlt.

Der mittel alte Professor der Kunstgeschichte Olivier soll sich auf Bitten seines Dekans um eine junge holländische Studentin kümmern, die er vorübergehend bei sich aufgenommen hat. Diese erinnert Olivier in auffallender Weise an seine frühe Jugendliebe Mathilde. Immer wieder muss er hinschauen und sich wundern über diese Ähnlichkeit!

Seine jetzige Freundin Sylvie, mit der er nicht zusammen lebt, ist patent und gegenwärtig. Die frühere Freundin aber lebt noch immer in seinen Fantasien in ihm fort.

Zuerst nur zögerlich, dann immer interessierter beschäftigt sich Olivier mit Fie, wie die junge Studentin heißt. Er lässt sich dazu herab, ihre Übungen zu Kunstbetrachtungen zu überprüfen und mit ihr zu diskutieren. Fie ist spröde, zurückhaltend und wartet ab.

Mit diesem Beginn ist schon alles gesagt, was in dem Roman der jungen Autorin abgehandelt wird.

Verstrickt in Vergangenes und fasziniert vom Gegenwärtigen gerät der renommierte Professor immer tiefer in eine Lebenskrise. Sein ganzes bisheriges Leben kommt dabei auf den Prüfstand. Am Ende steht nicht mehr ein Stein auf dem anderen. Es gilt, neue Perspektiven zu finden und nach ihnen zu leben.

Bregje Hofstede erzählt prägnant und weitblickend. Was Menschen mit ihrem Leben anfangen, und was aus ihnen werden kann. Scheu und verloren wirken die einen, stark und sicher die anderen. Die junge Studentin verantwortet mit ihrem Verhalten allerlei Widrigkeiten, unter denen Olivier unterzugehen droht. Die Nebenfiguren bieten die Reibungsfläche, unter der Schicksale zu zerschellen drohen.
Gelegentlich verwischen die Konturen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Ist das aber nicht im wirklichen Leben sehr ähnlich?

Menschen können an sich selber verzweifeln, wenn sich Wahrnehmung und Fantasie vermengen.

Es geht in dem Roman um Liebe, Treue und Zuverlässigkeit und um Rache und Verrat.

Eine erstaunlich einfühlsame Studie ist der jungen holländischen Autorin und der Übersetzerin Heike Baryga mit diesem Roman gelungen.

Bregje Hofstede
Der Himmel über Paris
224 Seiten, gebunden
H.Beck, August 2015
ISBN-10: 3406683436
ISBN-13: 978-3406683435
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Philippe Pozzo di Borgo: Ich und Du

Philippe Pozzo di Borgo: Ich und Du

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Schicksal meistern lernen…

Dieses neue Buch von Philippe Pozzo di Borgo nimmt einen von der ersten Zeile an gefangen.

Er hat ein ungewöhnliches Schicksal.

Nach der Lähmung von den Schultern abwärts durch einen Gleitschirmabsturz und nach dem Krebstod seiner Frau, als er ca 43 Jahre alt war, hat Philippe Pozzo di Borgo wohl so ziemlich alles an schwerem Leid ertragen müssen, was man als Mensch nur fassen kann. Zu Monate langen Krankenhausaufenthalten verdammt hat er, der aus einer wohlhabenden Familie stammt, viel Zeit zum Nachdenken und Reflektieren.

Jenseits des öffentlichen Hypes um den Autor, der mit seinem Buch und Film „Ziemlich beste Freunde“ seit einigen Jahren Furore macht, spricht hier derselbe Mensch über seine Selbsteinsichten gepaart mit zuweilen herber Selbstkritik. Die geäußerten Gedanken sind offen, ehrlich und aufrichtig.

Pozzo di Borgo hat offensichtlich seine Hybris und Eitelkeiten abgelegt und ist durch leidvolle Erfahrung zu einer inneren Haltung gelangt, die ihn wach und lebendig im Geiste zu immer tieferen Einsichten führt. Es geht ihm um Toleranz und Respekt dem Nächsten gegenüber, um eine Horizonterweiterung im Denken und darum, Mitmenschen in ihrer je eigenen Art gelten zu lassen. Seine These heißt: aus Ich und Du soll Wir werden in gegenseitiger Toleranz, Akzeptanz, Wohlwollen und Anerkennung.

Der Text ist selbstverständlich und klar im Ausdruck, so dass man keinerlei Eitelkeiten oder gar Eiferertum entdecken könnte.

Wenn das Leid gar zu groß wird, beschreibt er, wie er dann im „Augenblick“ zu leben beginnt. „Es mag prätentiös klingen, aber ich betrete dann die „Zeit“.( S 42)

Der Autor lässt mit dieser Niederschrift andere an seinen Einsichten teilhaben. Sympathisch, mit einem Schuss Ironie und Humor, hat di Borgo seine Entwicklungsgeschichte beschrieben, die ganz einfach neugierig macht. Neugierig auf einen Menschen, dessen Kräfte schier unerschöpflich zu sein scheinen, und der immer neue Stadien und Hürden des Lebens bewältigt.

Eingeflochtene kurze biographische Einschübe erweitern den Blick auf eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Sie mag wahrlich Trost und Vorbild für andere Betroffene sein.

Festhalten muss man, dass Pozzo di Borgo eine visionäre Vorstellung über das menschliche Miteinander hegt, die sich nur schwer verallgemeinern lässt. Zu groß sind die Diskrepanzen der menschlichen Spezies zwischen Herkunft, Bildung, Begabung, Chancen und Wohlstand.

Man kann jedoch von seinem Weg durchaus für das eigene Wachsen und Gedeihen profitieren.

Für die Nachdenklichen unter den Lesern ist die Lektüre überaus lehrreich und anregend.

Philippe Pozzo di Borgo
Ich und Du
152 Seiten, gebundn
Hanser Berlin, August 2015
ISBN-10: 3446249451
ISBN-13: 978-3446249455
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