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Autor: Claudine Borries

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe

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In dem vorliegenden Roman von Susanne Abel geht es um die Familie Monderath. Sie ist durch vielfältige Verstrickungen eine wahre Schicksalsfamilie!

Das Paar Gretchen und Konrad sind die Hauptakteure.
Gretchen war mit Konrad Monderath verheiratet. Im Jahr 2016 ist er schon lange tot, und sie ist alt und dement. Tom, der gemeinsame Sohn, ist 47 Jahre alt. Er lebt und liebt in Köln, wo er eines Tages Besuch von einem Halbbruder erhält. Er wusste nicht, dass es ihn gibt, hat das aber durch Recherchen herausgefunden. Henk van Dong ist Holländer. Er sieht ihm ähnlich wie ein Zwilling, was zu allerlei Vermutungen im näheren Bekanntenkreis von Tom führt.

Die Autorin lässt die Brüder auf Spurensuche nach dem Vater der beiden gehen.
Nun beginnt in zwei Zeitabschnitten einmal die Geschichte von Tom 2016, und die Geschichte Konrads vom Kind bis zum Soldaten im Zweiten Weltkrieg von 1933-1943.

In dem Roman wird Vergangenheits-und Gegenwartsgeschichte verarbeitet.
1933 beginnt Hitlers Herrschaft mit all’ den Folgen, die jene Jahre prägten: Naziideologie, Judenhass und Verfolgung, Ermordung und Eliminierung Behinderter. Nicht zuletzt folgt der Zweite Weltkrieg. Die Schwester von Konrad, ein mongoloides Mädchen, fällt dem Vernichtungswahn zum Opfer, und Franz, der ältere Bruder von Konrad, fällt 1942 im Krieg.
Konrad wird nach Militärzeit und Gefangenschaft Arzt und findet in Gretchen seine große Liebe. Letztere hat ein verborgenes Geheimnis, dass ihr Leben begleitet und beschwert.

Charaktere unterschiedlicher Mentalität und Geisteshaltung finden sich in den Figuren der Protagonisten wieder.
Vom Nazi bis zum aufgeklärten Nachkriegskind werden alle Seiten vergangener und gegenwärtiger Zeiten berührt.

Die Spannung steigt nach der Hälfte des Romans, als Kinderwunsch und Unfruchtbarkeit an der Realität zu zerbrechen drohen. Die Ärzte Konrad und ein Onkel verstricken sich in Gesetz und Ärzteordnung.

Worum also geht es in diesem Roman?
Ein wenig schleicht sich der Eindruck ein, dass hier die großen Fragen der Menschheitsgeschichte in einen Roman gepackt wurden: Liebe, Betrug, Trauer, Kinderwunsch und Verleugnung, politische Gegensätze und Krieg. Es wird gut erzählt und viel gesprochen. Man kann der Autorin eine fantasiereiche Fabulierkunst nicht absprechen. Die zahlreichen Erzählstränge lassen den Leser*in nicht los, so dass man gebannt dem Suchen nach der Wahrheit folgt.

Der Schreibstil ist schlicht und mit zahlreichen Kraftausdrücken bestückt.
Alles in Allem kann man von einem unterhaltsamen und im Aufbau durchaus spannenden Familienepos sprechen, das sicher viele Liebhaber der leichten Literatur erfreuen wird.

Susanne Abel
Was ich nie gesagt habe
dtv Verlagsgesellschaft, Juni 2022
560 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423290234
ISBN-13: 978-3423290234
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Jessica Durlacher: Die Stimme

Jessica Durlacher: Die Stimme

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Zelda und Bor heiraten in einem Augenblick höchster Gefahr. Sie werden von einem Rabbi in New York getraut, nachdem sie schon zehn Jahre lang mit nach und nach drei Kindern eine Familie gegründet hatten.
Just im Moment der Heirat passiert in den Twin Towers in New York das schreckliche Attentat vom 9. September.
Der apokalyptische Vorfall in NY ist der Auftakt zu einer dramatischen Beziehungsgeschichte zwischen einer jüdischen Familie und dem Islam.
Bor und Zelda flüchten aus der Nähe der brennenden Türme und retten sich und die Kinder.
Dann sind sie zurück in den Niederlanden. Hier arbeitet Zelda als Psychoanalytikerin; Bor ist ein angesehener Anwalt.

Jessica Durlacher führt uns langsam in das Leben ihrer Protagonisten ein.
Die Ehe von Bor und Zelda ist glücklich. Auch die Kinder nehmen ihren besonderen Platz in der Geschichte ein. Es ist eine gebildete, begüterte Familie, die im Fokus des Romans steht.

Zelda, die Icherzählerin, hatte schon einen ersten geliebten Ehemann, mit dem sie den Sohn Philip hat. Nach dessen frühem Tod hat Bor sie still und selbstverständlich umsorgt, bis sie schon bald zusammengezogen sind.

Nach einiger Zeit kamen Sam und Pol auf die Welt. Das Au Pair- Mädchen Ania verlässt die Familie, und Zelda sucht dringend eine neue Hilfe. Sie lernt eine Somalierin kennen, die, malerisch nach islamischer Sitte gekleidet, schön und exotisch anzusehen ist. Sie ist aus einer strengen Familie und vor einem prügelnden Ehemann als Flüchtling in die Niederlande gekommen. Zelda nimmt sie als Kindermädchen in ihre Familie auf.
Schon bald zeigt sich, dass sie eine sehr schöne Stimme hat.

Zelda ist mit der Erziehung ihrer Kinder sehr beschäftigt. Besonders Phil mit seinen heftigen Wutanfällen bringt sie in Unruhe. Wie soll sie damit umgehen? Wie macht sie alles richtig?
Der Beruf als Psychoanalytikerin lässt sie manches wahrnehmen, was andere vielleicht noch nicht sehen.
Wir erleben ein Geschehen, das voller innerer Spannungen und tiefgründigen Reflexionen steckt.

Neben der alltäglichen Familienroutine beginnt eine spannende Entwicklung. Amal wird zur Teilnahme eines Gesangswettbewerbs angenommen.
Sie wird eine berühmte Sängerin und zugleich Verfechterin für Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen im Islam. Ihre Aktivitäten, ja fast Provokationen, führen zu Verfolgung und Feindschaft seitens islamischer Fanatiker. Damit bringt sie auch ihre Gastfamilie in große Gefahr.

Jessica Durlacher schreibt zügig und integer. Sie steigert ihre Erzählung zu immer neuen dramatischen Ereignissen, die den Leser total in Bann schlagen. In beispielloser Weise bringt sie die Verflechtungen der jeweiligen Ereignisse in einen Zusammenhang. Spannungen werden aufgebaut und Lösungen angedeutet. Zeldas Reflexionen zeugen vom tiefenpsychologischen Wissen der Autorin.

In den Roman ist viel hineingepackt: Islam und Judentum, Verlässlichkeit, Liebe, Engagement, Geheimdienste, Verfolgung und nicht zuletzt Mord und Betrug.
Die hier beschriebene zerrissene Welt ist glaubwürdig und die Dichte des Romans mitreißend.

Jessica Durlacher lebt mit ihrem Mann Leon de Winter und ihren Kindern in den Niederlanden.

Jessica Durlacher
Die Stimme
Diogenes, Mai 2022
544 Seiten, gebunden
ISBN-10: 325707185X
ISBN-13: 978-3257071856
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Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses

Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses

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Mit schmissigen Sätzen beginnt Florian Illies seine Geschichte über Menschen, die Ende der zwanziger Jahre das Leben in Kunst, Musik, Malerei und Dichtung zum Ausklang der Weimarer Republik prägten.

Wer das Berlin der zwanziger Jahre kennt, der fühlt sich sofort hineingezogen in diese Zeit, in der man fast wie auf dem Vulkan tanzte, feierte und trank. Theater, Musik und Varieté waren Zentren der Begegnung.
Viele Namen tauchen auf, und fast alle werden dem belesenen Publikum bekannt ein.
Walter Benjamin, Brecht, Weil, Werfel, Gropius, Klaus und Erika Mann, Hannah Arendt, Heidegger und Günther Anders, Picasso und Salvatore Dalí. Es sind ihrer so viele, dass man sie hier nicht alle aufzählen kann. Die Kunst von Florian Illies besteht darin, dass er eine kleine Charakteristik an die andere reiht und mit leichter Feder durch die Zeiten und Jahre eilt.

Nie habe ich alle die bekannten Namen der Maler, Dichter, Schauspieler und einschlägigen Künstler auf so engem Raum beieinander gefunden. Neben den Fertigkeiten, die diese Männer und Frauen auszeichneten, spielen natürlich Beziehungen untereinander eine herausragende Rolle.
Man gewinnt schnell den Eindruck, dass hier zwischen den Geschlechtern Sodom und Gomorra herrschte. Unglaublich, mit welcher Kraft und Ausdauer Ehen geschlossen oder geschieden wurden. Als ein Beispiel sei hier die Ehe von Erika Mann und Gründgens genannt.
Homosexuelle und heterosexuelle Beziehungen wechselten schnell die Seiten, zuweilen waren Männer und Frauen beides.

Wie der Autor alle die Einzelheiten dieser Beziehungen zusammentragen konnte, ist ein Rätsel. Wer weiß schon so genau, wer da mit wem in Liebe oder Ehe verbunden war? Es war eine Zeit des Aufbruchs und der weiblichen Emanzipation, die man hier kennenlernen kann.
Die Schilderungen sind vorurteilsfrei und umfassend.

Illies kann mit leichter Feder eine Zeit heraufbeschwören, die uns sehr fern und doch so nah zu sein scheint. Nie hat man wohl auf so engem Raum beschrieben, wie die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen die Menschen in einen Rausch von Liebe, Sex und Drogen getrieben hat.

Figuren mit bekannten Namen in der Kunst, Dichtung, im Theater und in der Malerei, nicht zu vergessen im Film, schienen im Drogenrausch ihren Halt zu verlieren. Marlene Dietrich, die Fitzgeralds, Klaus und Erika Mann: sie alle haben im Drogenrausch die Zeit vergessen. Die französische Riviera, Treffpunkt von mehr oder weniger allen, die Rang und Namen in diesen Szenen hatten, bietet mit ihrem „savoir vivre“ den Ort persönlicher Begegnungen, der das ausschweifende Leben ermöglichte. Berlin und Paris gehörten ebenso dazu, denn auch Simone de Beauvoir und Sartre dürfen in diesem Reigen nicht fehlen. Einige gingen schon bald nach Amerika. Die USA boten Zuflucht für jene, die dem Naziregime entkommen wollten. Zahlreiche Juden von Adorno bis Hannah Arendt, dem Verlegerehepaar Wolff oder die (nicht primär jüdische) Familie Mann waren auf der Flucht aus Nazideutschland unterwegs.

Insgesamt kann man sagen: „who is who“ in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts findet man in diesem Buch wieder!
Es war eine künstlerisch reiche Epoche mit morbidem Lebenswandel der Protagonisten.
Wer sich dafür interessiert, findet wirklich alle Berühmtheiten wieder.

Florian Illies weiß wohl zu schreiben!

Florian Illies
Liebe in Zeiten des Hasses
S. FISCHER, 5. Auflage, 27. Oktober 2021
432 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3103970730
ISBN-13: 978-3103970739
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Tania Blixen: Babettes Gastmahl

Tania Blixen: Babettes Gastmahl

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In einer wunderschönen kurzen Erzählung werden wir in das Leben zweier Schwestern hoch im Norden Norwegens eingeweiht.
Sie sind die Töchter eines Probstes, der seine Anhänger streng um sich schart.
Die Geschichte spielt in den Jahren 1871-1885.

Die beiden Töchter des Probstes sind hübsch, fromm und liebenswert. Zweimal fanden sich sehnsuchtsvolle Bewerber aus fernen Ländern, die aber nicht ankamen bei den beiden schönen Damen.
Wie es zu dem Hausmädchen Babette kam, und wie es zu einem Gastmahl kam, das wird uns in zauberhaften Worten erzählt.

Es geht um die Einsamkeit der Natur, um die Abgeschiedenheit von allem urbanen Leben; es geht auch um den Kontrast pietistischer Lebensformen gegenüber der bunten Adelswelt in Paris und Schweden.

Babette ist eine herausragende Köchin, die in Paris ein Edelrestaurant zu Ehren und Ruhm gebracht hat. Ihr Mann und Sohn kamen bei Aufständen in Frankreich 1871 ums Leben. Sie selber wurde als Aufrührerin verfolgt und floh mit einer Empfehlung des verflossenen Heiratsanwärters eines der Mädchen in das abgeschiedene Fleckchen Erde Norwegens. Dort hat sie jahrelang die karge Kost der Bewohnerinnen zubereitet. Dann ergab sich eine Gelegenheit, ihre Kochkünste einmal vorzuführen. Denn sie bezeichnet sich als Künstlerin und beklagt den Zustand, wenn ein Künstler nicht sein Bestes geben kann.

Mit dem Aufschrei „Gebt mir die Erlaubnis, gebt mir die Gelegenheit, mein Allerbestes zu liefern“ endet diese bezaubernde Erzählung. Philippa, eine der Schwestern, ist tief berührt.

Die kurzen und präzisen Sätze treffen immer den Kern einer Sache. Es werden nur die wichtigsten Daten genannt; mehr Aufmerksamkeit gilt der Natur in ihrer einmaligen Schönheit. Die klare Luft und die Stille sind einprägsame Momente. Handelnde Personen werden in ebenso kurzen Sätzen ohne viel schmückendes Beiwerk beschrieben und gewinnen doch einen hervorragenden Platz in der Erzählung.

In einem langen Nachtrag gibt Erik Fosnes Hansen eine Interpretation, die dem Leser*in dieses literarische Kleinod noch tiefer verstehen lässt.
Man lasse sich erbauen von dem kleinen Meisterwerk.
Eine sorgfältige Liste mit Anmerkungen gibt dem Werk zusätzlich die seriöse Note, die es verdient.
Auch der Einband ist ein künstlerisches Gebilde. In der Übersetzung von Ulrich Sonnenberg ist das Büchlein im Manesse Verlag 2022 zum ersten Mal auf Deutsch erschienen.
Es eignet sich hervorragend als kleines Geschenk zu besonderem Anlass.Die Dänin Tania Blixen lebte von 1885 bis 1962.

Tania Blixen
Babettes Gastmahl
Manesse Verlag, Februar 2022
120 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3717560018
ISBN-13: 978-3717560012
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Jane Gardam: Mädchen auf dem Felsen

Jane Gardam: Mädchen auf dem Felsen

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Wir befinden uns in einem flirrend heißen Sommer an der britischen Küste. Es ist die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
Wieder wie in vorhergehenden Romanen beschäftigt sich Jane Gardam mit den Tücken des Familienlebens, mit Freigeistern und mit Predigern.

Margaret lebt in einer Familie von bigotter Selbstherrlichkeit und sturen Regeln des Umgangs.
Sie ist 8 Jahre alt und langweilt sich tödlich. Ein Baby, der gerade erst geborene Bruder des Mädchens, nervt mit seinem Geschrei, seiner Hässlichkeit und den üblichen Ausdünstungen eines Neugeborenen. Vater hält biblische Reden und ist vollkommen desinteressiert am allgemeinen Familienleben.

Jane Gardam in ihrem bekannten Erzählstil vermittelt einen unmittelbaren Eindruck von der bigotten und weltfremden Welt ihrer Figuren.

Wäre da nicht Lydia, das neue Hausmädchen, Margaret wüsste nicht, wie sie sich die Zeit vertreiben sollte. Lydia ist deftig, drall und geradeaus. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und scheint die einzige vernünftige Person in diesem Reigen menschlicher Unzulänglichkeiten und Plattheiten. Margaret liebt die Ausflüge mit ihr, bei denen sie sich endlich frei fühlt! Sie kann rumtollen, auf Bäume klettern und jeglicher Neugier frönen.

In einer langen Folge von Episoden vermittelt Jane Gardam die skurrilen Formen menschlichen Lebens mit engem Horizont und spießigen Lebensansichten. Aber man täusche sich nicht! Unter der nach außen gezeigten Wohlanständigkeit schlummern heftiges Begehren, „unzüchtige“ Gedanken und schließlich auch Handlungen.
Der Vater von Margaret, ein bigotter Prediger für Moral und Anstand, kann seinen eigenen Gelüsten nicht wiederstehen.
So spitzt sich die Geschichte zu einem Drama zu. Das Gebäude wankt, denn auch Margarets Mutter wird von ihren „verbotenen“ Sehnsüchten eingeholt.

Mit feiner Beobachtungsgabe beschreibt Jane Gardam die Geschichte einer kleinen und befangenen Gruppe von Menschen, die sich in ihrer eigenen Gedankenwelt bewegen und sich in verborgenen Fantasien verfangen.

Viele Jahre vergehen bis zum Ende der Geschichte, bei dem herauskommt, wie das Leben für alle weiterging. Zuweilen sind die Figuren in ihren Beziehungen untereinander und die Zeitsprünge etwas verwirrend, in denen sich die die Handlung bewegt. Alles in Allem ist der Roman eine anregende Lektüre.

Die begabte und erst spät zu Ruhm gelangte Schriftstellerin Jane Gardam ist mit ihrer Trilogie von „Old Filth“ zu Weltruhm gelangt. Ihre nachgereichten früheren Romane kommen an diese ausnehmenden Werke nicht heran.

Jane Gardam
Hanser Berlin, April 2022
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446272283
ISBN-13: 978-3446272286
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Christa Hein: Die Frau am Strand

Christa Hein: Die Frau am Strand

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Christa Hein hat ein gewaltiges Familienopus geschrieben.

Liz, ihre Heldin, bekommt eines Tages Besuch von ihrer Nichte, die lange verschollen war. Sie sieht ziemlich verwildert aus und ist froh, bei der Tante einen Unterschlupf zu finden. Eine Weile nistet sie sich bei der Tante ein, und Liz kommt mit der Zeit ins Erzählen. Inese interessiert sich sehr für die Familiengeschichte.

Bei dieser Gelegenheit fallen Liz eine Reihe von Gegenstände aus dem Familienbesitz ein, die alle eine Geschichte haben. Auch hat sie sorgfältig Notizen ihrer Großmutter aufgehoben, aus denen man die Familiengeschichte rekonstruieren kann.

Liz ist Schriftstellerin und setzt sich hin, um alles aufzuschreiben. Beim Schreiben vertieft sie sich ganz in die alten Geschichten. Auf diese Weise entsteht ein Familienporträt von ungeheurer Weite. Beginnend Ende des 19. Jahrhunderts umfassen die Erinnerungen Städte und ferne Kontinente ebenso wie fantastische Landeroberungen und abenteuerliches Leben. Liz geht einzelne Episoden an und fängt bei Urahnen und Ahnen an. Dadurch bleibt man ganz bei den einzelnen Lebensphasen der diversen Urgroßeltern und Großeltern.

Die Urgroßeltern gingen nach Amerika und machten Land urbar. Sie starben früh und ließen ihre beiden Kinder Annie und Fred als Waisen zurück. Die beiden schlagen sich wacker durch, werden aber durch die Geschicke getrennt. Während Annie, die Großmutter von Liz, in Europa ihr Glück findet, zieht es Fred zur Seefahrt, und die Geschwister verlieren sich aus den Augen.

Christa Hein hat die Zeiten mit ihren wechselnden Landschaften und Lebensumständen wunderbar getroffen. Annie liebt die Kunst und malt selber gerne. Sie wird bei einer entfernten Verwandten zu einem geordneten Leben erzogen und macht eine erstaunliche Karriere. Schließlich findet sie einen netten Mann und beginnt ein eigenes Leben.

In der Erzählung geht es von Sylt nach Amerika und dann zurück nach Fehmarn, weiter nach Hamburg, Berlin, Gibraltar, Portugal und so fort. Der Erste Weltkrieg zwingt dem Großelternpaar ganz neue Wege auf.
Das Meer mit seinen besonderen Reizen spielt keine geringe Rolle in dem ganzen Geschehen. Auch die Malerei hat einen herausragenden Stellenwert.

Insgesamt umfasst die Geschichte fast ein Jahrhundert. Christa Heim hat jedem Zeitalter den ganz eigenen Charakter zuerkannt: Farmerleben in Amerika, in Deutschland der Erste Weltkrieg, Inflation und zwanziger Jahre bis hin zu Nazideutschland und die Zeit danach.

Zwischen Fabulierkunst und fast autobiographisch anmutenden Zeilen entwickelt die Autorin ihr Zeitgemälde. Fiktion und Wahrheit scheinen dicht beieinander zu liegen.
Zuletzt sind die Verbindungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern fast nicht mehr überschaubar.

Der Roman ist kein literarisches Meisterwerk.
Ich würde diesen Schmöker für lange Urlaube oder regenreiche Sonntage empfehlen.

Christa Hein
Die Frau am Strand
Frankfurter Verlagsanstalt, März 2022
576 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3627002954
ISBN-13: 978-3627002954
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Julia Schoch: Das Vorkommnis

Julia Schoch: Das Vorkommnis

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Die Geschichte einer namenlosen Frau beginnt überraschend: es handelt sich um eine Schriftstellerin, die im Kulturzentrum einer Norddeutschen Stadt aus einem neuen Buch liest.
Während sie nach der Lesung Bücher signiert, spricht eine fremde Frau sie mit den Worten an: “wir haben übrigens den gleichen Vater.“ Sie springt auf und umarmt diese.

Was ist nur los mit ihr?

In der Folge erfährt man, wie sie lebt, was sie gerade tut, und wie es ihr geht.
Sie hat zwei kleine Kinder und einen Ehemann. Lesungen und Literaturaufträge führen sie bis nach Amerika.

In langen Reflexionen, die wie Träume daherkommen, erinnert sie sich an ihre Kindheit und ihre Eltern. Das Geheimnis um eine unbekannte Schwester treibt sie um. Als habe sie es immer schon geahnt, dass es ein Familiengeheimnis gibt!

Julia Schoch schreibt über eine Begebenheit, die in ihren Dimensionen immer weitere Blüten in der Fantasie ihrer Heldin treibt. Es geht um unerwünschte Schwangerschaften, Eheleben, Veränderungen und auch um das Leben in der DDR.

In langen Passagen wendet die Protagonistin ihre Zweifel über das, was wirklich ist und was nur Fantasie, immer intensiver hin und her. Sie wird ihren eigenen Einschätzungen gegenüber misstrauisch. Ihr Mann, ein unkomplizierter Typ, tut ihre Infragestellungen ab, er kann sie nicht verstehen.

Julia Schoch hat ein sehr reflektiertes Werk verfasst. Der Leser:in folgt dem Wahn der Icherzählerin, alles und jedes zu hinterfragen und gerät selber ins Grübeln. Leider vergiftet die Selbstbefragung nach und das Denken der Erzählerin, deren als Biographie bezeichnetes Leben sich vor uns abspielt. Sie wirkt dadurch der Gegenwart entrückt und in großer Distanz zu ihren Kindern, ihrer Mutter und auch ihrem Mann. Das Geheimnis um die fremde Frau lüftet sich, und ja, es gibt Dinge in Familien, die wir nicht wissen. Dass sie jedoch eine Art Unwirklichkeitsgefühle im Menschen auslösen mögen, mag sein. Insgesamt aber sind existenzielle Fragen nach den Veränderungen im Wesen, Verhalten und Aussehen natürlich und folgerichtig. Auch gibt es keine Statik zwischen Menschen. Von der Kindheit bis ins hohe Alter verändern sich Denken, Verhalten, Aussehen und die Ansichten. Julia Schoch ist es gelungen, mit psychologischem Feingefühl diesen Fragen nachzugehen.

Insofern ist die Geschichte gut konzipiert und durchaus realitätsnah. Wie zu lesen war, soll die „Biographie einer Frau“ noch Fortsetzungen erfahren. Wir dürfen neugierig bleiben!

Julia Schoch ist in der DDR geboren und aufgewachsen. Sie lebt in Potsdam und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

Julia Schoch
Das Vorkommnis
dtv Verlagsgesellschaf, Februar 2022
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 423290218
ISBN-13: 978-3423290210
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Helen Wolff: Hintergrund für Liebe

Helen Wolff: Hintergrund für Liebe

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Hinter einer autobiographisch gefärbten Liebesgeschichte verbirgt sich Helen Wolff, die legendäre Verlegerin und Frau des ebenso bekannten Verlegers Kurt Wolff.

Im Sommer 1932 fuhr die Protagonistin des Romans mit ihrem Geliebten Kurt an die Cote d’Azur, um dort einen schönen Sommer zu verbringen. Beide arbeiten im Verlagswesen in Berlin.
Er, der zwanzig Jahre Ältere, freute sich darauf, seiner jungen Freundin Helen die herrliche Landschaft der Provence zu erschließen.

Was als wunderbares Liebesabenteuer beginnt, entwickelt sich zu einer überaus zarten, rauen und empathischen Geschichte.
Er, der im Text nur als „Du“ erscheint, ist weltgewandt und dynamisch. Sie hingegen ist eher unscheinbar und unerfahren.

Angekommen in Nizza bezieht er mit Helen ein feines Hotel. Schon bald tauchen nahe und ferne Bekannte von ihm auf, die zu einem ausschweifenden und lauten Partyleben verleiten.
Helen ist entsetzt, fühlt sich kreuzunglücklich und beginnt, sich aus dieser Gesellschaft und von „ihm“ abzunabeln.
Sie verschwindet aus dem Dunstkreis der „Partymenschen“, sucht und findet in Saint- Tropez ein im Schilf verborgenes Häuschen. Es ist spartanisch aber paradiesisch in seiner Abgeschiedenheit.

Nun beginnt eine wirklich hinreißende Geschichte. Atmosphärisch nah und unmittelbar berührend beschreibt Helen den Zauber der Landschaft. Sie malt buchstäblich mit dahin getupften Worten die Farben und Düfte einer Gegend, die wohl jeden dafür empfänglichen Menschen begeistern kann. Das Meer in seiner Unendlichkeit, die Natur rundum, die zarten Farben der Häuser und der Duft nach fruchtbarem Landleben werden in den schönsten Farben gezeichnet. Helen findet Freunde und lernt das Leben zu genießen. Die lustvolle Begeisterung an Sonne, Meer, Essen, Wein und allgemeiner Lebensfreude ergreift Besitz von ihr.

Der Leser:in fiebert mit, wie sich die Liebesgeschichte zwischen ihr und ihrem „Du“ entwickeln mag! Provence ohne Charme und Liebe ist schwer vorstellbar.

Helen Wolffs Großnichte Marion Detjen hat sich in Archive vertieft und konnte dieses Manuskript entdecken.
Sie ist Historikerin und hat in einem zweiten Teil des Buches einen Essay hinzufügt, in dem sie die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Umstände jener dramatischen Jahre beschreibt.

Die einschlägige Künstlerszene traf sich damals an der Côte d’Azur, geriet in den Strudel vor Hitlers Machtergreifung und musste bald schon die Flucht nach Amerika antreten. Viele sehr bekannte Namen werden von ihr genannt, Liebschaften aufgedeckt und Verbindungen zwischen Autoren, Verlegern und Künstlern in einen Zusammenhang gestellt.

Sowohl die poetische Liebesgeschichte des fiktiven Paares, als auch die historischen Betrachtungen sind aufschlussreich und außerordentlich lesenswert.

Helen Wolff
Hintergrund für Liebe
Weidle, März 2020
216 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3938803967
ISBN-13: 978-3938803967
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Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

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Dieser Titel von Gianfranco Calligarich ist schon 1973 zum ersten Mal erschienen und wurde im Januar 2022 mit großem Erfolg neu aufgelegt.

Held dieser Geschichte ist Leo Gazzarra.
Er ist buchstäblich ein Müßiggänger, der sein Leben zu genießen weiß.
Er kam aus Mailand in die große Stadt Rom, wo er Freunde, einen kleinen Job und Unterkunft fand.
Mit seinen Einkünften ist es nicht weit her. Hier und da leiht er sich etwas, vor allem aber findet man ihn auf Partys und in den einschlägigen Kreisen, wo man trefflich zu feiern weiß.
So weitet sich der Bekanntenkreis. Allmählich wächst er in eine Clique hinein, in der viel getrunken und gefeiert wird.

In hinreißenden Bildern schildert der Autor das süße Leben zu Beginn der siebziger Jahre in Rom. Sein Protagonist ist Journalist und hat eine feine Beobachtungsgabe, mit der er Einzelheiten des Lebens, der Stadt mit ihren Kunstwerken und des eigenen Wohlergehens beschreiben kann.

Arianna wird die große Liebe seines Lebens. Doch das Spiel, das in seinem neuen Bekannten-und Freundeskreis gespielt wird, ist auch ein tödliches Spiel. Arianna ist eine exzentrische Person, deren Launen Leo bald verzweifeln lassen.

G. Calligarich kann mit seiner ausgezeichneten Wortgewandtheit die Feinheiten der Atmosphäre im Rom der siebziger Jahre hautnah schildern. Die Sommer sind heiß, und die Treffen der Freunde zeugen von einem Leben im Müßiggang und Langeweile. Die Stadtbeschreibungen und Wiedergabe von Stimmungen sind treffend und zeugen von Einfühlungsvermögen. Sie stehen ganz im Gegensatz zu den ausufernden Trinkereien. Denn der Alkoholkonsum nimmt zu, und man lebt von einem Tag auf den anderen. La Dolce Vita ist angesagt. Architekten, Künstler, Filmschaffende und erfolgreiche Geschäftsleute bilden den Kern der Gemeinschaft. Leo arbeitet mit wenig Erfolg für eine Sportzeitung. Durch die richtigen Verbindungen sucht er gelegentlich nach neuen Betätigungsfeldern. Er ist ein sensibler, nachdenklicher und literarisch gebildeter Mensch. Der Alkoholkonsum bringt mehr als einen der Protagonisten zum Scheitern. Auch Leo verfällt mehr und mehr dem Alkohol. Letztlich zeigt sich ein morbides Gebilde der Gesellschaft, denn richtig froh ist niemand. Von Gefühlen der Wehmut und Melancholie befallen kann Leo seinem Schicksal nicht entgehen.

Der Leser wird mitgerissen von einem Erzählstil, der realistisch und einfühlsam einen Sommer in der Stadt vermittelt. Auf dem Klappentext heißt es „Ein Roman für alle, die Philip Roth und Jonathan Franzen lieben.“ Dem kann ich mich nur anschließen.

Gianfranco Calligarich
Der letzte Sommer in der Stadt
Paul Zsolnay Verlag, 3. Edition, Januar 2022
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552072756
ISBN-13: 978-3552072756
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Bettina Flitner: Meine Schwester

Bettina Flitner: Meine Schwester

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Bettina Flitner begibt sich mit diesem Buch auf Spurensuche in die Vergangenheit. Es geht um ihre Familie, ihre Eltern, die Schwester und Großeltern. Ihre Eltern hatten sich in einer Zeit des Aufbruchs aus verkrusteten Strukturen in ein antibürgerliches und sexuell freies Leben begeben.

Anstoß zum Buch war der Suizid ihrer Schwester, die sich wie die Mutter mit 47 Jahren das Leben genommen hat.

In wechselnden Zeitebenen beschreibt Bettina Flitner ihr Kinderleben und ihr Erwachsenendasein. Ihre Schwester, um die es im Wesentlichen in diesen Aufzeichnungen geht, war schon früh ein gestörtes Mädchen mit Hungerattacken und innerer Unausgeglichenheit.

B. Flitner hat eine ungebrochene Gabe, in ihren Erinnerungen die täglichen Gegebenheiten trocken, nüchtern und auch gelegentlich karikierend darzustellen. In ihrer Erzählweise wirkt sie fröhlich, unbeschwert und ohne Ängste. Mit ihrer wenig älteren Schwester hatte sie ein enges Verhältnis. Sie heckten zusammen so manchen Schabernack aus. Auch die Großeltern spielen keine geringe Rolle und werden mit ihren skurrilen Eigenheiten beschrieben.

Sie beschreibt klar und schnörkellos, was sich täglich in ihrem Leben änderte. Viele Umzüge gehörten dazu und wechselnde Partner:innen der Eltern. So lebt eines Tages Frau Tasch mit in der Familie. So wie sie gekommen ist, verschwindet sie auch wieder. Ab und zu flüstern die Kinder „das ist seine Neue“, wenn wieder mal ein fremdes weibliches Wesen am Tisch Platz nimmt.

Etwa um 1970 ging es für eine Weile nach Amerika. Neugierig und munter beschreibt die Autorin ihre Schuleindrücke, die fremde Stadt New York mit ihren Geräuschen und Ausflüge zu einer „Landkommune“ etc. Dort geht es bunt, lustig und sehr freizügig zu.

In der Art wie B. Flitner ihre Kindheit und Jugend schildert, meint man zu spüren, dass sie sich in ihrem Inneren immer ein wenig auf Abstand zur Familie befand. Einzig die Schwester Susanne war lange Zeit ihr Kumpel und bester Freund. Diese fand sich wohl weniger leicht zurecht in dem ungeordneten Familienleben.

Dass die Mutter an Depressionen litt, zeigt die Autorin in wunderbaren Bildern. Es sind die schwarzen Vögel, die einer nach dem anderen kommen, um die zarte und empfindsame Mutter heimzusuchen. Den Vater beschreibt sie treffend mit den Worten“ Ein schwer zu fassendes Irrlicht, das mal hier und mal dort über einen morastigen Grund geistert“. (S.150) Mit diesen Worten wird die innere Distanz deutlich, mit der die Autorin ihre Familienmitglieder zu charakterisieren versucht.

D.h. nicht, dass sie nicht getroffen ist, als die Mutter stirbt.
Man spürt im Gegenteil ihr Mitgefühl mit dieser unglücklichen Frau.
Unmittelbar nachvollziehbar ist der Schock über den Tod der Schwester.

Alles in allem ist die Autobiographie in ihrer protokollarischen Darstellung reich an inneren Bildern, die Einblicke in ein unruhiges und wenig Halt bietendes Elternhaus öffnen.

Bettina Flitner ist Ehefrau von Alice Schwarzer und hat sich als erfolgreiche Fotografin einen Namen gemacht. Sie lebt in Köln.

Bettina Flitner
Meine Schwester
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2022
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3462002376
ISBN-13: 978-3462002379
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