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Kategorie: Belletristik

Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte

Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte

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Weltenleid und Liebesglück!

Mit einem Nachwort von Natalja Sharandak versehen und übersetzt von Ursula Keller erscheint der nachgelassene Roman von Sofja Tolstaja über das Leben einer Ehefrau im Russland des 19. Jahrhunderts jetzt zum ersten Mal.

Unschwer erkennt man, dass die Autorin ihre eigene Ehe zum Vorbild genommen hat, sich vieles von der Seele zu schreiben, was ihre Ehe mit Lew Tolstoi ausgemacht und in langen Jahren belastet hat.

Hier geht es um eine junge Ehefrau, Sascha, die mit dem Provinzbeamten  Pjotr Afanassjewitsch verheiratet ist. Er ist ein gutmütiger aber wenig einfühlsamer Mensch. Nach dem Tod der geliebten Mutter ist Sascha niedergeschlagen und verzweifelt und fühlt sich ganz und gar verloren in der Welt. Als sie in ihrem Sommerhaus vom Nachbarn Melodien von Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ hört, verliert sie ihren Kummer, und sie sieht sich getröstet und glücklich.

Unvergleichlich sind die poetischen Betrachtungen der als feinsinnig beschriebenen Frau in der Natur und beim Rauschen eines Baches. Sie begegnet ihrem Musiknachbarn bei einem Spaziergang an diesem Bach und ist freudig bis schamhaft erregt. Die Stille und Ruhe, die von der Schilderung des Lebens und den Umständen der Zuneigung von ihr zu dem Musiker ausgeht, ist von bestrickendem Zauber. Sätze wie diese: „nur der Bach mit seinem eintönigen leichten Murmeln unterbrach die Stille“… bieten Einblicke in eine ruhige Landschafts- und Seelenschau, wie sie nur das 19. Jahrhundert hervorbringen konnte. Das Glücksgefühl, das Musik im Menschen auszulösen kann, ist in der herrlichen Beschreibung enthalten, in der …“die wüste, peinigende Verzweiflung über die Vergänglichkeit und das menschliche Leben, das so voller Leiden, Verführungen und Übel war, sich löste“… und …“ alles wurde klar wie der Himmel nach einem Gewitter“…

Wie schon in „Eine Frage der Schuld“ werden von der Autorin Sofja Tolstaja Frauenbilder geschildert, die zart, sensibel und ätherisch den schönen Künsten zugetan und mit grobschlächtigen und wenig empfindsamen Männern verheiratet sind. Parallelen zu Sofjas eigener Ehe mit dem in ihren Augen egoistischen Tolstoi klingen an.

Sofja hat gegen den Widerstand ihres Mannes ihre eigenen geistigen Fähigkeiten und Interessen gelebt. In ihren Niederschriften findet sich das Bild der schöngeistigen und sensiblen Frau wieder, als die sie sich selber sah, verheiratet mit eigensüchtigen Ehemännern, gegen die sie sich behaupten müssen.

In ihren Romanen bleiben diese Frauen zarte und feinfühlige Gestalten. Sie befinden sich weit entfernt von rabiaten Emanzipationsstrebungen heutiger Zeiten und scheinen sich durch Beharrlichkeit und schwärmerische Begeisterung von ihren Ehemännern weg idealisierten Künstlern in platonischer Liebe zuzuwenden. Dass die Geschichte hier entgleitet und zu einem tragischen Ende führt: wer weiß, wie weit sich Sofja Tolstaja in ihrer Protagonistin wiedergefunden hat?

Die Autorin beweist mit diesem kleinen Roman erneut ihr Talent, das hinter dem großen Schatten ihres Mannes ganz verloren gegangen war. Poetisch, feinsinnig und von Gefühlsüberschwang beflügelt, ist ihr ein kleines romantisches Meisterwerk gelungen, das jeden Literaturliebhaber begeistern müsste.

Sofja Tolstaja
Lied ohne Worte
256 Seiten, gebunden
Verlag: Manesse
ISBN-10: 3717522108
ISBN-13: 978-3717522102

Jane Yolen: Dornrose

Jane Yolen: Dornrose

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Gute Großmutter und verborgenes Grauen.

In einer Art Allegorie auf das Leben ist dieser Roman angelegt. Märchen enthalten Wahrheiten, mit denen das Gute und das Böse versinnbildlicht werden; am Ende siegt das Leben. Im vorliegenden Roman geht es vordergründig um ein Märchen; dahinter aber verbirgt sich eine tief ernste Geschichte.

Drei kleine Mädchen in Amerika lauschen immer und immer wieder der Geschichte, die ihnen die Großmutter am Abend erzählt: das Märchen von „ Dornrose“, was dem Inhalt nach an Dornröschen erinnert.

Eines Tages ist die Großmutter tot, und die drei kleinen Mädchen sind groß, zwei haben schon Familien.

Die Jüngste stand der Großmuter am nächsten. Deshalb hat diese ihr eine Truhe mit geheimnisvollen Dokumenten hinterlassen. Rebecca musste ihr versprechen „das Schloss und den Prinzen zu suchen, den Prinzen, der sie wach geküsst hatte“. Denn wie sich zeigen wird, hat dieses Märchen eine besondere Bedeutung im Leben der Großmutter gehabt.

Rebecca macht sich nach ihrem Tod auf die Suche, hinter das Geheimnis der Großmutter zu kommen.

Alles, was man von ihr weiß, ist, dass sie 1944 als Flüchtling aus Europa nach Amerika gekommen war zu einer Zeit, als das schier unmöglich schien. Die Familie ist jüdischen Glaubens und unschwer lässt sich erraten, dass das Geheimnis der Großmutter mit Flucht, Vertreibung und Judenverfolgung, womöglich mit dem KZ zu tun haben könnte.

Einfühlsam und liebevoll beginnt die Geschichte. Doch dann erfährt man, wie und auf welche Weise die Großmutter dem Holocaust entkommen ist, und dann ist das keine schöne und liebliche Geschichte mehr. Im Gegenteil: sie ist so grausam, dass man den als Jugendbuch deklarierten Titel nicht unbedingt heranwachsenden Jugendlichen zum Lesen geben möchte. Die ganze Schmach der Judenverfolgung zeigt sich in der Fratze des Bösen, und man weiß, dass alles, was hier erzählt wird, wirklich so passiert sein könnte.

Der Kontrast zwischen amerikanischem Familienleben, liebevollem Umgang zwischen Eltern und Töchtern und der Hässlichkeit des Kriegs mit seinen schrecklichen Begleiterscheinungen und vor allem dem tausendfach begangenen Völkermord könnte nicht gravierender sein.

Die Geschichte ist ergreifend, wunderbar konzipiert und  glaubwürdig dem Inhalt nach. Jane Yolen hat ein ausgezeichnetes Erzähltalent, mit dem sie Spannung erzeugt, in dem sie angenehme Kindheitserinnerungen mit deren Kehrseite in Form von Verfolgung, Angst und Todesfurcht zum Tragen bringt.

Man sollte den Roman mit der notwendigen Reife lesen, um mit historischem Hintergrundwissen die Erzählung begreifen und einordnen zu können.

Jane Yolen  Dornrose
282 Seiten, gebunden
ab 15 Jahren
Berlin Verlag
ISBN-10: 3827053056
ISBN-13: 978-3827053053

Jennifer Lauck: Der Sommer liegt noch vor dir

Jennifer Lauck: Der Sommer liegt noch vor dir

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Die Mutter des fünfjährigen Mädchens Jenny ist schwer krank, jedoch verstehen sich beide gut. Nur mit ihrem älteren Bruder, der ihr schroff und abweisend gegenüber ist, hat sie so ihre Probleme. Der Vater wiederum ist sehr liebevoll zu ihr. Für eine schwere Operation der Mutter zieht der Vater mit den Kindern in die Stadt mit der Klinik. Die Therapie ist langwierig und mehrfach wechselt die Mutter zwischen Klinikaufenthalt und Aufenthalt daheim. Dabei kümmert sich die kleine Tochter, sie ist inzwischen etwas älter geworden ist, um die Mutter, sie wäscht sie manchmal, sie reinigt ihr Bett, macht das alles ohne Meckern und Murren. Ihr großer Bruder aber stänkert immer noch und erzählt ihr, dass sie nicht seine richtige Schwester wäre, sondern adoptiert ist.

Nachdem die Mutter verstorben ist, zieht der Vater mit den Kindern nach Los Angeles, aber die Großstadt gefällt Jenny nicht. Der Vater lernt eine neue Frau kennen, die ihrerseits drei Kinder hat. In dieser Gemeinschaft fühlt sich Jenny nicht wohl und wünscht sich nichts sehnlicher, als bei ihrer Mutter zu sein. In einem Ferienlager wird Jenny vom Schwimmlehrer schikaniert, muss Strafarbeit erledigen und wird schließlich von diesem sexuell missbraucht. Obwohl der Vater viel arbeitet, bekommt er mit, dass sich seine Tochter nicht besonders wohl fühlt und so macht er ihr zu ihrem neunten Geburtstag eine Überraschung über die sie sich freuen kann. Es scheint einige Zeit in der Familie besser zu laufen. Doch dann erleidet der Vater einen Herzinfarkt und die Patchworkfamilie steht nach dreitägigem Klinikaufenthalt ohne Ernährer da. Jenny wird von der Stiefmutter in einem kirchlichen Obdachlosenheim allein gelassen und muss für ihren Lebensunterhalt hart und viel arbeiten. Auch ihr Bruder wurde verstoßen. Beide hatten instinktiv gespürt, dass es irgendetwas mit dem Geld des Vaters zu tun haben musste.

Der auf autobiographische Erlebnisse basierende Roman ist aus der Sicht eines Ich-Erzählers verfasst. Während es sich anfangs scheinbar um eine Milieustudie handelt, in der die amerikanische Gesellschaft beschrieben wird, stellt sich immer wieder die Frage, worauf die Geschichte hinauslaufen soll. Uninteressant wird sie deshalb allerdings nicht, weil das Interesse des Lesers alleine deshalb schon geweckt ist, weil ein kleines fünfjähriges Mädchen etwas zu erzählen hat. Doch nach einer gewissen Zeit stellt sich die Frage ein, die man am Ende auch beantwortet haben möchte. Nach so vielen Schicksalsschlägen, die das Mädchen im Laufe der Handlung immer wieder hinnehmen muss, bleibt am Ende nur noch die Frage, wird ist ein Happy End geben oder nicht? Obwohl das Buch an manchen Stellen etwas langatmig wirkt, fasziniert doch der Umstand, wie geschickt die Autorin ihre eigene Kindheit in einer solch dramatischen Romanhandlung festhalten konnte. Zwar erlebt jeder Mensch in seinem Leben Schicksalsschläge, aber diese jeweils in eine Beschreibung so auf einen Höhepunkt zu treiben, bedarf meistens besonderen Geschicks. Das Bild einer amerikanischen Familie im Zeitraum 1969 bis 1975 gibt das Buch sehr gut wieder, was auch an der bildhaften Beschreibung liegen mag.

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Jennifer Lauck
Der Sommer liegt noch vor dir
Softcover, Taschenbuch
Goldmann Verlag
ISBN-13: 978-3442457465
ISBN-10: 3442457467
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© Detlef Knut, Düsseldorf 2010

Justine Lévy: Schlechte Tochter

Justine Lévy: Schlechte Tochter

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Wie soll Louise ihrer Mutter nur sagen, dass sie von Pablo ein Kind erwartet. Ihrer Mutter, die Krebs hat, die im Sterben liegt. Der ganze Stress und die doppelte Sorge um Kind und Mutter sind einfach zu viel. Darf Louise sich auf ihr Kind freuen, angesichts des Todes? Darf sie glücklich sein?
Während das Baby in ihrem Bauch wächst, entwickelt sich ihre Mutter zurück zum Kind und muss umsorgt werden, wie bald das Baby umsorgt werden muss.
Louise sagt es ihrer Mutter schließlich, doch es ist nicht klar, ob die Mutter die frohe Botschaft überhaupt noch auf nehmen kann.
Als die Mutter dann gestorben ist, kommen die Erinnerungen. Louise will keinesfalls als Mutter so unzuverlässig sein, wie ihre war. Erst durch die Krankheit sind beide sich näher gekommen. Auch deswegen fühlt Louise sich nun allein gelassen ohne den Rat der Mutter.

Durch und durch traurig ist die Lebensgeschichte Louises. Die Geschichte ist aus ihrer Sicht geschrieben, wobei der Schwerpunkt auf ihren Gedanken liegt. Ohne Pausen fließt der Text, ungebremst und frei formuliert. So wie Gedanken nun einmal sind. Gedanken, die sich nicht verdrängen lassen, die man nie aussprechen würde. Es ist ein sehr privates Buch. Fast fühlt man sich als Leser wie ein Eindringling in eine geheime Welt, auch weil die Geschichte autobiografische Züge trägt.
Das Buch berührt zutiefst. Wie Louise möchte man fliehen und kann es nicht. Louise weiß nicht mehr, wohin sie gehört. Doch ihre Zukunft ist vorbestimmt. Sie wird ein Kind bekommen, auch wenn ihr das Schuldgefühle macht, wo doch ihre Mutter stirbt. Die ganzen unaufgearbeiteten Probleme zwischen den beiden kommt zum Tragen. Aufarbeiten muss Louise die Vergangenheit allein, auch wenn Pablo ihr zur Seite steht.
„Schlechte Tochter“ oder „Schlechte Mutter“. Das Buch könnte beide Titel tragen. Und es würde doch nicht ganz stimmen.

Rezension von Heike Rau

Justine Lévy
Schlechte Tochter
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
176 Seiten, gebunden
Verlag Antje Kunstmann
ISBN-10: 388897643X
ISBN-13: 978-3888976438

Arno Geiger: Alles über Sally

Arno Geiger: Alles über Sally

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Ehe und Liebe, eine Zeitreise…

Sally und Alfred erreicht in England die unerwartete Nachricht, dass in ihr Haus in Wien eingebrochen wurde. Eiligst betreiben sie ihre Rückreise aus dem Urlaub und finden zu Hause ein trauriges und unheimliches Chaos vor.

Zwischen den Zeilen ist sofort spürbar, dass die beiden in einer Krise stecken. Sie sind Anfang bis Mitte fünfzig. Dreißig Jahre sind sie verheiratet, und die halb erwachsenen Kinder beginnen, ihre eigenen Wege zu gehen. Da fragt man sich schon einmal, ob das nun alles gewesen sein soll!

In ausdrucksvollen und charakteristischen Rückblicken rollt Arno Geiger die Szenen einer Ehe auf, wie sie im Leben vieler Ehepaare nach Jahren zu finden sein mögen.

In Kairo lernten sie sich einst kennen und waren voller Zukunftserwartung und Lebensfreude. Heute sind sie im Alltagstrott erstarrt. Sally bemüht sich, den Familienclan zusammenzuhalten, sucht dann aber doch Abwechslung mit dem besten Freund ihre Mannes. Ob die Affäre ihre Probleme lösen wird? In ihrer gradlinigen Art sucht Sally die Auseinandersetzung mit Alfred, dem sie aufrichtig und hart die Meinung sagt. Sein Phlegma, seine Hypochondrie und seine Antriebsarmut sind zu viel für sie! Von Scheidung ist schließlich gar die Rede…

Sally ist die Starke und Überlegene in dieser Ehe. Sie ist immer mit Schwung bei der Sache – auch bei ihrem Ehebruch.

Wie Sally ihren Mann beobachtet und Arno Geiger die Schwächen von Alfred herausarbeitet, dieses schon etwas ältlichen Mannes, das stammt direkt aus dem Leben und überzeugt mit kolossaler Realitätsnähe. Es zeigt sich am Ende einmal mehr, dass ein langes Leben zusammenschweißt, weil alte Vertrautheiten verbinden und die Vergangenheit in die Zukunft wirkt. Sich kennen heißt auch, sich mit eigenen und fremden Unzulänglichkeiten abzufinden. Die Zweisamkeit über alle Widrigkeiten hinweg zu retten, wird hier zu einem lohnenden Lebensabenteuer. Arno Geiger belebt seine Figuren mit viel Leidenschaft und Verve. Die Lektüre ist kurzweilig und regt zu eigenen Reflexionen an.

Inzwischen ist der Roman weit oben auf den Bestsellerlisten angekommen, und Arno Geiger beweist einmal mehr sein Können.

Arno Geiger
Alles über Sally
363 Seiten, gebunden
Verlag: Hanser
ISBN-10: 3446234845
ISBN-13: 978-3446234840

Jan Faktor: Georgs Sorgen um die Vergangenheit

Jan Faktor: Georgs Sorgen um die Vergangenheit

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Opulentes Familiengemälde im Prag der Nachkriegszeit.

Schon bei den ersten Zeilen sieht man sich in diesem Roman sogleich in eine aberwitzige, amüsante und mitreißende Familiengeschichte versetzt. Lebendige und spritzige Sätze wecken Neugier auf einen turbulenten Alltag in einer komischen und von vielerlei bunt gefärbten Charakteren bewohnten Hausgemeinschaft in Prag. Wir befinden uns in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Das weibliche Geschlecht überwuchert die Räume mit allem möglichen und unmöglichen Mobiliar und verwandelt die Wohnung in ein verschachteltes Labyrinth. Georg erlebt gerade die Pubertät mit allen Bedrängnissen, die diese Lebensphase so mit sich bringt. Umgeben von vielen Tanten, einer schönen und intelligenten Mutter und der sehr geliebten Großmutter Lizzy ist das Erwachsenwerden nicht ganz leicht.

Das Haus und die Lebensgewohnheiten der Bewohner sind teilweise von umwerfender Komik, mit Sicherheit aber äußerst ungewöhnlich. Im Umfeld mehr oder weniger schöner jüdischer Frauen aufzuwachsen ist eine Besonderheit an sich. In dem ganzen Durcheinander der Hausbewohnerinnen gibt es dann aber doch einen Mann, als einzigen Nichtjuden den Onkel „ONKEL“. Sex und Liebe, Gerüche und Gespräche: die  Gemeinschaft ist unübertroffen mit allen Details gezeichnet, und Georg nimmt alles mit wachen Augen und Ohren auf und zieht seine Schlüsse aus seinen Eindrücken.

Die unsägliche Vergangenheit in diversen KZs bleibt allerdings ein Geheimnis, denn darüber spricht man nicht.

Einer Komödie gleich gestaltet sich der Einstieg ins Leben für den jungen Georg mit unterhaltsamen und lustigen Erlebnissen. Seine Jugend entspricht nicht der Norm. Skoda, sein Freund, findet ebenso Erwähnung wie seine langjährige und viel ältere Geliebte Dana, die sich den Künsten verschrieben hat. Die Liebeserlebnisse- und Freuden sind in deftiger Sprache gehalten und verlassen nie die Pfade der Komik.

Haben wir es mit einem Schelmenroman, einem Entwicklungsroman oder einer skurrilen Familienlegende zu tun? Auf jeden Fall bietet die in lakonischem Ton gehaltene Erzählung auch einen Überblick über die politische Geschichte der Tschechoslowakei und Prags in den letzten sechzig Jahren. Sozialismus, Kommunismus und Prager Frühling können nicht unerwähnt bleiben mit ihren Folgen für den Clan. In schwejkscher Manier  nimmt niemand wirklich Schaden, aber natürlich gibt es Todesfälle und besondere Vorkommnisse in großer Zahl.

Man sollte Zeit mitbringen, um sich in die Feinheiten des Romans zu vertiefen, der nicht von einer fortlaufenden Handlung lebt, sondern das fantasievolle Gebilde einer grotesken und launigen Familiengeschichte bietet. Im Zentrum des Geschehens steht Georg mit seiner ausgeprägten Beobachtungsgabe, mit der er die skurrilen und schrulligen Einzelwesen und ihre Eigenheiten zum Leben erweckt.

Jan Faktor ist ein Erzähler mit der Kunst des Fabulierens, dessen Erzählstil ausufernd ein filigranes Gebilde aufzeigt, das schließlich zu einem schlüssigen Ende führt.

Der hoch zu lobende Roman ist gewand und farbenfroh konzipiert. Wenn man auch nach der Mitte des Romans ermüdet sein mag von all’ den vielen Einzelheiten, so bleibt man doch dabei, weil die Neugier auf die  kurzweiligen Geschichten bestehen bleibt.

Jan Faktor
Georgs Sorgen um die Vergangenheit
Gebundene Ausgabe: 636 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462041886
ISBN-13: 978-3462041880

Raymond Federman: Eine Liebesgeschichte oder sowas

Raymond Federman: Eine Liebesgeschichte oder sowas

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Emigrantenschicksal einmal anders erzählt.

Eines Tages im Februar oder März zu Beginn der fünfziger Jahre an einem regnerischen Tag in New York sehen sich zwei Menschen zum ersten Mal: ein zaghaftes Lächeln bringt sie zusammen, den aus Frankreich geflüchteten Juden Moinous, der sich nur mühsam mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, und die aus einer konservativen alteingesessenen Familie aus Boston stammende Sucette. Sie ist aus ihrer Gesellschaftsklasse ausgebrochen und beteiligt sich an politischen Demonstrationen gegen die Missstände in ihrem Land.

Nach der ersten Begegnung ist ausgemacht, dass sie sich wieder sehen werden. Gäbe es nicht die Taube Charlie, mit der sich Moinous angefreundet hat, -er wäre ganz alleine auf der Welt!

Moinous soll schon bald die Familie in Boston kennen lernen. Für das ungleiche Paar bleibt der Besuch unvergesslich.

Das Haus der Familie, das saturierte Benehmen der Familienmitglieder und das vornehme Ambiente mit Butler und Dienstboten versetzt Moinous in eine Art Trance, in der er alle anwesenden Familienmitglieder von den Nichten bis zur Urgroßmutter visionär entkleidet sieht und sie bei obszönen Handlungen beobachtet. Anders kann er sich diesem prätentiösen Gehabe nicht entziehen, bei dem er sich klein und erbärmlich vorkommt. Zwischen Moinous und Sucette, der er von seinen Visionen erzählt, entbrennt ein heftiger Streit. Auf die Vorhaltungen von Sucette über seine mangelnde geistige Integrität antwortet Moinous mit den treffenden Worten: “wir leben alle wie Küchenschaben in den Winkeln unserer verschrobenen Vorstellungen… schwanken hin und her zwischen Drüsenfunktionen und purer Lüsternheit, zwischen Einsamkeit und geistigem Unwohlsein“. Er fährt fort, ihr seine Ansichten vorzustellen, die von Ironie und Sarkasmus getragen direkt und ehrlich sind. Unabhängig davon treibt ihn die unstillbare Sehnsucht nach Liebe und Heimat zu ihr hin.

Die Liebesgeschichte nimmt einen unerwarteten Verlauf : Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen zu einem undefinierbaren Ganzen, denn Sucette schreibt einen Roman, der den Leser überraschen wird.

Nicht die Liebesgeschichte alleine steht im Fokus der Erzählung sondern auch das in den fünfziger Jahren von der McCarthy-Ära und vom Koreakrieg gebeutelte Amerika. Man sieht sich im Verlauf der Handlung mit einer heftigen und kritischen Analyse der amerikanischen Lebensweise konfrontiert. Witzig, immer wieder sarkastisch und mit beißendem Humor zeigt der biographisch gefärbte Roman von Raymond Federmann, wie man sich als Immigrant im Land der unbegrenzten Möglichkeiten fühlte.  In der Liebesgeschichte wird von den Hoffnungen und Träumen erzählt, die, wie könnte es anders sein, in Enttäuschungen münden werden.

Geistreich, witzig und brillant geschrieben, zeigt das Werk ein  ungewöhnliches in New York angesiedeltes Emigrantenschicksal. Raymond Federman ist ein großer Erzähler, der zu den amerikanischen Klassiken zählt. Der Roman wurde 1985 erstmals veröffentlich und 1986 mit dem American Book Award ausgezeichnet.

Raymond Federman
Eine Liebesgeschichte oder sowas
Übersetzt von Peter Torberg
221 Seiten, gebunden
Matthes & Seitz Berlin
ISBN-10: 3882216824
ISBN-13: 978-3882216820

Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste

Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste

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Ein Zweifler und Hoffender im Kreuzfeuer seiner Gedanken

„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn!“

Mit diesem Eingangssatz ist schon die ganze Theorie umrissen, mit der sich der Autor bei seinen Überlegungen über den Tod und zu Reflexionen und Rückbesinnungen auf Todesfälle in der Familie und anderswo auseinandersetzt.

Wer kennt sie nicht, die Frage nach dem, was nach uns kommt? Ungewöhnlich allerdings sind diese Gedanken für einen 12 -15 jährigen Jungen. In diesem Alter hat sich Julian Barnes bereits mit dem Thema Tod und Sterben beschäftigt, und er fürchtete den Tod.

Mit einem ironisch- belustigten Ton setzt Julian Barnes seine Betrachtungen zu dem brisanten Thema fort, in dem es um Todesfälle in der Familie, bei Bekannten, Freunden und anderswo geht. Wie denkt z.B. sein Bruder darüber? Dieser, ein Philosoph, antwortet auf die eingangs zitierte Feststellung:

„Sentimentaler Quatsch!“

Und weiter geht es mit der Beschreibung dessen, was Barnes an Denkansätzen in seiner Familie erfahren hat. Die Großmutter war eine „ Reihenhaus“- Sozialistin, der Vater ein milde gesonnener Liberaler, die Mutter nüchtern und realitätsnah. Nun sind sie alle tot und beim Aufräumen des Nachlasses kommen die  Erinnerungen. Da er und sein Bruder unterschiedliche Wahrnehmungen haben, hält Julian Barnes fest, dass es keine reine „Wahrheit“ über das vergangene Leben und über das Erinnern gibt.

Er lässt seine Fantasie schweifen und bemüht Aussagen großer Dichter und Philosophen, um sich mit Tod und Sterben zu befassen. Aus seinen Aufzeichnungen ist ein leichtes und luftiges Werk entstanden, in dem er das Für und Wieder des Glaubens an einen Gott und an das Leben nach dem Tod überdenkt. Im Austausch mit dem atheistischen Bruder erfährt der Agnostiker Barnes nützliche Hinweise, die zur Verständigung seiner Ausführungen hilfreich sind.

In seinem Buch ist häufig von Gott die Rede, an den Julian Barnes jedoch nicht glaubt!

Er wendet die alten Fragen der Menschheit nach dem Sinn und Unsinn unseres Lebens, nach der Erfüllung im Denken und täglichen Handeln, nach Glauben und Unglauben, nach den Vererbungen, den Genen und vielen anderen belustigenden Beobachtungen hin und her und zieht das Fazit, dass der Tod nichts ist, “…was man fürchten müsste“.

Besinnlich, nachdenklich und melancholisch sind seine Betrachtungen, die es einem leicht machen, ihm zu folgen. Es lohnt sich, das Buch zu lesen, das in einer guten Übersetzung von Gertraude Krueger vorliegt.

Julian Barnes
Nichts, was man fürchten müsste
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch;
ISBN-10: 346204186X
ISBN-13: 978-3462041866

Carol Bruneau: Glasstimmen

Carol Bruneau: Glasstimmen

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Lucy bangt um ihren Mann, seit er diesen Schlaganfall hatte. Lange Zeit liegt Harry im Koma. Der Anblick ist unerträglich schmerzlich. Das Leben ist nicht mehr wie es war. Aber da sind zum Glück noch ihr Sohn Jewel mit seiner Frau Rebecca und ihr Enkel Robert. Lucy ist es unmöglich, jetzt noch an die Zukunft zu denken und so wenden sich ihre Gedanken der Vergangenheit zu. 55 Ehejahre liegen hinter ihr. Es war keine einfache Zeit. Hundert Mal hätte Lucy Grund gehabt, Harry davonzulaufen, doch sie ist geblieben.

Ihr Blick geht zurück ins Jahr 1917. Als das Munitionsschiff explodierte, hätte Lucy ihren Mann beinahe schon einmal verloren. Sie denkt an ihre Tochter Helena, die seither vermisst wird und an den Sohn, Jewel, den sie damals aufgenommen hat. Sie denkt an den schwierigen Neuanfang nach der Halifax-Katastrophe und an das, was seither geschah.

Lucys Mann überlebt. Er erwacht schließlich aus dem Koma. Ob es ihm jemals wieder gut gehen wird, weiß kein Arzt zu sagen. Nach vielen Wochen darf Harry wieder nach Hause. Lucy bekommt ihn zurück als Pflegefall. Immerhin hat sie ihn nun für sich allein und widersprechen kann er ihr auch nicht mehr.

Es ist ein Buch, das sehr stark berührt, das nachdenken lässt, über das Leben. Lucy hätte allen Grund ihren Mann zu hassen. Und doch liebt sie ihn. Sie kann nicht ohne ihn leben. Wieso dies so ist, beschreibt die Autorin in ihrem Buch sehr genau. Als Harry so schwer erkrankt, sinkt ihr Lebensmut ins Bodenlose. Sie klammert sich fortan an die Vergangenheit, obwohl das bedeutet, dass sie Kummer und Leid noch einmal erleben muss. Doch das bringt sie auch ihrer Familie wieder näher.

Die verschiedensten Gefühle kommen in dieser Geschichte zum Tragen. Man gewinnt einen tiefen Eindruck von Lucys Persönlichkeit. Manchmal verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, auch für den Leser. Die beiden Erzählstränge sind dicht miteinander verwoben. Immer wieder hat man direkt Mühe, umzuschalten. Aber das ist auch das Einzige, was es am Buch zu kritisieren gibt. Es ist ein beeindruckendes, wenn auch nicht leicht zu ertragendes Buch, das von einer tiefen Traurigkeit erzählt, die aber am Ende wieder in Hoffnung mündet.

Rezension von Heike Rau

Carol Bruneau
Glasstimmen
Aus dem kanadischen Englisch von Gregor Hens
464 Seiten, gebunden
Mare Verlag
ISBN-10: 3866481217
ISBN-13: 978-3866481213

Nicol Ljubic: Meeresstille

Nicol Ljubic: Meeresstille

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Liebe zwischen Krieg und Frieden!

Der Titel des Romans „Meeresstille“ verheißt Wind, Sand, Sterne und Ruhe bei leisem Meeresrauschen.

Im Zentrum einer Betrachtung zwischen Krieg und Frieden stehen Ana und Robert. Etwa im Jahre 2006 studiert Ana in Berlin, als sie Robert kennen lernt, der an der Universität an seiner Dissertation schreibt. Er wurde in Berlin als Deutscher geboren und kennt nicht einmal die Heimat seiner Vorfahren, die in Kroatien lag. Ana hingegen stammt aus Visegrad, einem Örtchen im Osten von Bosnien-Herzegowina. Dort hat der Krieg nach dem Zerfall des Bundesstaates Jugoslawien mit verheerenden Auswirkungen auf die Bevölkerung der Muslime getobt. Ehemalige Nachbarn wurden zu Feinden, und zu Tausenden wurden Muslime von serbischen Milizen verfolgt und auf grausame Weise umgebracht.

Im extremen Kontrast zu liebevollen Szenen am Meer zwischen den zwei Liebenden findet ein Kriegsverbrecherprozess in Den Haag statt. Simic steht vor Gericht: ein hoch gebildeter und angesehener Professor für Anglistik muss sich vor Gericht verantworten. Er ist Serbe und ihm wird die Beteiligung an einem Massaker gegen Muslime vorgeworfen.

Als Prozessbeobachter ist Robert in Den Haag und seine Gedanken wandern immer wieder zu Ana.

Was hat sie im jenem barbarischen Krieg erlebt, von dem sie nichts erzählen will?

Nachdenklich und stimmig sind die Reflexionen von Robert, der die Zusammenhänge zwischen Ana, dem Angeklagten Simic und dem Bosnienkrieg nicht recht erkennen kann. Er ist auf Vermutungen angewiesen, die der Leser mit ihm teilt.

In dem Roman arbeitet Nicol Ljubic die Verknüpfungen zwischen Krieg, Schuld und Sühne heraus und beleuchtet die Verletzungen der Seele, die den Opfern und den Angehörigen auf der einen wie auf der anderen Seite  zugefügt wurden. Hervorragend lässt der Autor die Seiten verschwimmen, so dass zunächst unklar bleibt, bei wem Schuld zu suchen ist, wer sühnen muss, und wer auf welche Weise und wie betroffen ist. In seinem Roman wird die Thematik „Krieg“ auf eine Weise dargelegt, dass sich jeder fragt: gibt es überhaupt einen gerechten Krieg? Jede Seite sieht nur die eigenen Rechte, und verblendet schaut ein jeder nur aus der  eigenen Richtung auf das Kriegsgeschehen. Ganz unbestimmt wird über eine Moral verhandelt, die den Spannungsbogen der Erzählung bestimmt. Der Leser muss selber Stellung beziehen, wie der Krieg und die Schuld eines einzelnen zu beurteilen ist.

Nicol Ljubic ist ein großartiger Erzähler, der diffizile moralische Fragen stellt und zu Antworten herausfordert. Robert, aus dessen Sicht die meiste Zeit berichtet wird, ist feinfühlig und bemüht, Klarheit zu finden in einem diffusen Rollenspiel, mit der die Seiten – und  Sichtwechsel angezeigt werden. Ljubics Stil wechselt von der subjektiven und leidenschaftlichen zur distanzierten Darstellung einzelner Protagonisten. Der Perspektivwechsel ist gewollt und künstlerisch gelungen. Poetische und friedliche Beschreibungen einer schönen und heilen Landschaft und grausame menschliche Kriegshandlungen könnten schärfer nicht herausgekehrt werden.

Ein hoch zu lobender subtiler Roman ist hier entstanden, der zudem noch mit seiner fein gesponnenen, poetischen Sprache bestrickt.

Nicol Ljubic lebt in Berlin und hat mehrfache Auszeichnungen für seine Reportagen erhalten.

Nicol Ljubic
Meeresstille
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Hoffmann und Campe
ISBN-10: 3455401163
ISBN-13: 978-3455401165