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Kategorie: Belletristik

Mathijs Deen: Der Schiffskoch

Mathijs Deen: Der Schiffskoch

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Nicht jeder auf der „Texel“ träumt davon, fremde Länder zu bereisen. Es ist mit diesem fest verankerten Schiff ohnehin nicht möglich. Die „Texel“ ist ein bemanntes Feuerschiff. Der Alltag folgt einer Routine, so wie immer, bis die „Zaandam“ mit der Schichtablösung kommt und die Männer für eine bestimmte Zeit von Bord gehen können.

Doch dann, eines Tages, als es wieder an Bord geht, ist der Schiffskoch nicht allein. Lammert hat ein Ziegenböckchen dabei. Erlaubt ist das nicht. Aber andererseits ist es Proviant. Ein Schmorfleischeintopf soll daraus werden. Da kann sich auch der Kapitän nicht dagegen sträuben. Die Matrosen und Offiziere bringt Lammert ebenfalls schnell zum Schweigen. Man muss den Koch bei Laune halten, denn was wäre der Tag ohne ein anständiges Mittagessen?

Das Böckchen muss noch für ein paar Tage mit der Flasche aufgepäppelt werden, dann will Lammert es schlachten. Der jüngste Matrose Gerrit Snoek übernimmt die Mutterrolle gern. Das störrische Jungtier sorgt für Abwechslung und alle schauen gern zu, wenn es hoppelnd und springend über das Schiff galoppiert. Erstaunlich schnell gewöhnt es sich an das rollende Schiff. Aber es bringt auch den Arbeitsalltag durcheinander. Snoek sieht in den Augen des Böckchens bald sogar etwas, das ihn zutiefst verstört.

Es ist sehr interessant zu sehen, wie das Böckchen die eingeschleifte Arbeitsroutine der Besatzung verändert. Es fordert nicht selbst Aufmerksamkeit, weckt diese aber in den Männern. Und das auf sehr unterschiedliche Weise. Die einen sehen den Schmorfleischeintopf, die anderen einen Kameraden, der Abwechslung bringt. Einen bringt das Böckchen sogar in Bedrängnis. Die Kontrolle geht schleichend verloren, als der Schiffskoch erkrankt und Nebel aufzieht.

Der Autor nähert sich der heranziehenden Katastrophe mit trockenem Humor. Er analysiert die Umstände und die Veränderungen, die sich mit der Ankunft des Böckchens ergeben mit wachem Blick.

Die Besatzungsmitglieder der „Texel“ sind allgemein wortkarg. Nicht nur der Schiffskoch ist vom Charakter her ein seltsamer Mensch. Die Männer gehen distanziert miteinander um, machen ihre Arbeit und regieren auf die wechselhaften Unbilden des Wetters gewohnt routiniert. Sie haben eine lebensrettende Aufgabe zu erfüllen.

Aber mit anderen Veränderungen können sie nicht umgehen und müssen es doch. Bis zur nächsten Ablösung, die sich aufgrund des Wetters verschiebt, sind die Männer isoliert, sich selbst überlassen und haben einen Tunnelblick. Alles spielt sich auf kleinstem Raum ab. Und doch wird übersehen, was da vor ihren Augen innerhalb der Mannschaft geschieht. Mit einer immer beängstigender werdenden Atmosphäre wird das wirkungsvoll deutlich gemacht.

Rezension von Heike Rau

Mathijs Deen
Der Schiffskoch
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
112 Seiten, gebunden
mareverlag, Februar 2021
ISBN-10: 3866486502
ISBN-13: 978-3866486508
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Alexa Hennig von Lange: Die Wahnsinnige

Alexa Hennig von Lange: Die Wahnsinnige

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Alexa Hennig von Lange hat die Geschichte der Johanna, Königin von Kastilien, nachgezeichnet. Spanien ist zu dieser Zeit um 1500 ein durch und durch katholisch geprägtes Land.

Der Autorin ging es dabei u.a. um die historischen Dimensionen einer Zeit, in der Unglaube mit Folter und Scheiterhaufen geahndet wurde. Es ging ihr aber auch um eine Frau, die in alle dem, was da in gläubigen Unsinn verpackt wurde, klarer sieht. Johanna, die als die Wahnsinnige in die Geschichte einging, versucht mit klarem Verstand Durchblicke zu finden. Sie ist gebildet, emotional, gefühlvoll und voller Temperament. Um in der Welt der Herrschenden zu bestehen, musste man diese Eigenschaften verleugnen.
Die mittelalterlichen Strukturen ließen Individualität nicht zu. Daran konnte man schier verzweifeln. Und das ist es, was Johanna umtreibt.

Als junges Mädchen mit 16 Jahren wird sie mit Philipp dem Schönen von Flandern verheiratet. Dynastische Planungen haben sie zur Frau dieses Mannes gemacht. Durch den frühen Tod anderer Erben wurde sie zur Thronfolgerin ihrer Mutter, Isabella „der Katholischen“, bestimmt. Ein Los, das sie sich nicht ausgesucht hat.
Fast selber ein Kind noch, hat sie bald drei kleine Kinder, an denen ihr Herz hängt.

Ihre Mutter ist Königin von Spanien und regiert mit harten Hand. Aberglaube und Unglaube führen zu härtesten Strafen, Folter, Verbannung und Verbrennung auf dem Scheiterhaufen.

Wir lernen Johanna auf einer Festung in Spanien kennen, wo sie, eingesperrt von ihrer Mutter, gefügig gemacht werden soll. Ihre Mutter will sie zum rechten Glauben zwingen. Da sie ständig mit Zorn und Trotz auf alle Versuche der Bändigung reagiert, erklärt man sie schon früh für wahnsinnig. Ein Schicksal, das sie lebenslang verfolgen wird.

Durch den ganzen Roman führt uns der aufrechte und gradlinige Charakter dieser Frau. Sie wacht immer mehr auf und sieht die Missstände von Intrige, Kuppelei und Verrat.

Hennig von Lange weiß die historische Seite der Geschichte einzubetten in die Wahrnehmung heutiger Kämpfe um Frauenrechte. Diese Johanna versucht um ihre Freiheit zu kämpfen. Nebenbei bekommt man einen Eindruck von den äußeren Bedingungen damaligen Lebens: Reisen unter für uns kaum vorstellbaren Unbequemlichkeiten. Es geht Tage lang bei jedem Wetter über lange Strecken in schwerer Kleidung auf dem Rücken von Pferden, Übernachtungen in Zelten und wochenlange Reisen in offenen Schiffen bei rauer See usw.

Insgesamt macht einen die Geschichte mit den mittelalterlichen Strukturen bekannt, die lange vor dem Zeitalter der Aufklärung das Leben der Regierenden und des Volkes beherrschten.

Der Roman ist in seiner Erzählkunst hervorragend und regt zu weiteren Nachforschungen an.

Alexa Hennig von Lange
Die Wahnsinnige
208 Seiten, gebunden
DuMont Buchverlag, 2. Edition, August 2020
ISBN-10: 383218127X
ISBN-13: 978-3832181277
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Mary Beth Keane: Wenn Du mich heute wieder fragen würdest

Mary Beth Keane: Wenn Du mich heute wieder fragen würdest

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In diesem Roman von Mary Beth Keane erwartet uns seine spannende, verwirrende und sehr aufregende Familien- und Liebesgeschichte.

Zwei Polizeibeamte schieben zusammen Dienst, und zufällig wohnen sie auch nebeneinander.
Francis Geese hat drei Töchter, Brian Stanhope einen Sohn. Kate, die jüngste Tochter von Francis, ist mit Peter, Brians Sohn, von klein auf befreundet.
Man erfährt viel über das Kleinstadtleben in Gillam und das Leben seiner Bewohner.

Die Kinder wachsen heran und Lena, Francis Frau, ist aufgeschlossen der neuen Nachbarin gegenüber, die offensichtlich nicht so leicht Kinder bekommen kann. Brians Frau Anne zeigt aber schon früh Auffälligkeiten. Sie ist sehr eifersüchtig, wenn sich Peter mit Kate trifft.

Dann geschieht ein schreckliches Unglück. Peter sucht Hilfe bei Francis, weil seine Eltern sich streiten. Daraufhin vollendet sich ein Schicksal, das weitreichende und nachhaltige Folgen für alle Protagonisten hat.
Es ist der Beginn einer langen Odyssee, in der Peter und Kate sich verlieren, neu finden, immer wieder einen Anfang wagen.

Annes und Brians Ehe ist zerbricht.

Wie B. Keane die ganze Geschichte aufzieht zeigt sie als eine Meisterin der Erzählkunst und spricht für eine diffizile Wahrnehmung bestimmter Eigenschaften ihrer Charaktere. Sie schaut tief in das Seelenleben ihrer Romanfiguren hinein und sucht nach Erklärungen für ungewohntes Verhalten.

Im Laufe der Geschichte wird der Erzählbogen immer spannender und man staunt, welche Entwicklungen sich anbahnen und ihren Lauf nehmen.

Das Glück einzelner muss schwer erkauft werden. Menschliche Schwächen, Kränkungen aber auch Hilfsbereitschaft in allen Schattierungen treten hervor. Kate und Peter sind die zwei Hauptfiguren, um die sich alles dreht. Sie begegnen sich lange nur sporadisch, um am Ende zueinander zu finden.
Auch ihre Beziehung aber ist astarken Anfechtungen ausgesetzt.

Es werden Schicksale enthüllt und psychische Deformationen angesprochen; es geht um Liebe, Enttäuschung, Neubeginn und Verzeihen. Und es geht um menschliche Verstrickungen, die sehr realitätsnah erscheinen.

Insgesamt ist das ein außerordentlich lesenswerter Roman, von dem man nur schwer lassen kann.

Mary Beth Keane lebt in New York. Dies ist ihr dritter Roman der wochenlang auf der Bestsellerliste der New York Times stand.

Mary Beth Keane
Wenn du mich heute wieder fragen würdest
Eisele Verlag, Oktober 2020
464 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3961610967
ISBN-13: 978-3961610969
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James Baldwin: Giovannis Zimmer

James Baldwin: Giovannis Zimmer

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Es geht in diesem Roman u.a. um Homosexualität, um Liebe und den Rausch, den diese auszulösen vermag.

Ein ratloser junger Mann nimmt eines Tages in New York eine Passage nach Frankreich. Er hat seine Orientierung verloren, da auch sein Vater nach dem Tod seiner Frau seinen inneren Halt verloren zu haben scheint.
In Paris lebt David schlecht und recht von Ersparnissen, die sich bald dem Ende zuneigen.
In einer Bar lernt er Giovanni kennen. Dieser wird zu seinem Schicksal!

Die Atmosphäre im Paris der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bestimmt das Geschehen.
Es ist eine morbide, eine zügellose und doch so anziehende Welt, in die der Amerikaner David fällt. Die nächtlichen Eskapaden mit viel Alkohol und mit der Begegnung ungewöhnlicher Männer und Frauen nimmt ihn gefangen. Sex in einer runtergekommenen und anzüglichen Form legt einen Schleier der Verruchtheit über die Geschichte.
Aller bürgerlichen Tabus beraubt fällt man der ungezügelten Gier nach Lust, Genuss und Ausschweifung zum Opfer.

David ist verlobt und sehnt sich nach bürgerlicher Ordnung. In seiner ungewöhnlichen Liebe zu Giovanni fällt er jedoch aus seinem bisherigen Leben heraus.

James Baldwin wäre nicht der herausragenden Schriftsteller, als der er uns bekannt ist, wenn die Geschichte nicht einen tieferen Sinn hätte. Abgesehen von seiner hinreißenden Sprache mit Bildern, die gelegentlich fast biblisch anmuten, geht es um die Gefühle einer sich verlierenden Generation: Alkohol, Sex, Frauen und Homosexualität spielen ihre Rolle bei der Suche nach der wahren Identität. Es geht um Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Im Nachtleben von Paris kommen die Genies und die Versager zusammen.

Als Extrakt der Geschichte möchte man festhalten: wenn man die Unschuld verliert, hat man den Garten Eden verlassen. Man fällt der Fratze der Hässlichkeit, der ungezügelten Gier und Lust anheim, und man schaut in die Grimasse des Betrugs und der Besitzgier.

Zuweilen fühlt man sich beim Lesen abgestoßen von der Darstellung, kann sich aber dem tieferen Sinn der Geschichte nicht entziehen. Alle Schranken sind gefallen, und man lebt nur noch auf der Suche nach Geld, Zeitvertreib und Lustgewinn. Das Verbotene treibt Menschen in immer höhere Sphären der Exzesse bei gleichzeitig zunehmender Düsternis der Gemüter.

Das muss ein tragisches Ende nehmen!

Der erste Verlag von Baldwin lehnte die Veröffentlichung ab und trennte sich von ihm.

Immerhin befinden wir uns in der Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als gänzlich andere Regeln den Umgang unter den Menschen bestimmten. Es gab noch längst keine auch gesetzlich verankerten Freiheiten, wie wir sie heute im Zusammenleben von Männern und Frauen kennen.

Baldwin lebte von 1924 bis1987. Er war zu seiner Zeit ein vielfach geehrter Schriftsteller und hat sich für Gleichberechtigung im Geschlechterkampf, zwischen arm und reich, Mann und Frau und zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe eingesetzt.

James Baldwin
Giovannis Zimmer
208 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2020
ISBN-13: 978-3423282178
ISBN-10: 3423282177
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Hervé le Tellier: All die glücklichen Familien

Hervé le Tellier: All die glücklichen Familien

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Es ist ein wenig Mode geworden in Frankreich, die eigene Familiengeschichte zum Thema von Romanen zu machen. Ob Annie Ernaux oder Edouard Louis: man begibt sich in die Familiengeschichten und findet heraus, wie und auf welche Weise sie Anteil des eigenen Lebens waren, und welchen Einfluss sie auf die eigene Lebensgestaltung genommen haben.
So macht es auch Hervé le Tellier mit seinem neuen Roman „ All die glücklichen Familien“.
Er zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass er mit großer Distanz auf die einzelnen Familienmitglieder herabblickt. Dass er mit Spott sich selbst zum „Monster“ mangels Sohnesliebe erklärt, ist nur eine Seite der Geschichte.

Ob Mutter, Vater, Stiefvater oder Großvater: er betrachtet mit Ironie und Witz, wie sie sich zueinander verhalten. Der Großvater, ein Patriarch, in dessen Obhut der kleine Tellier die ersten Jahre seines Lebens verbringt, kommt da noch glimpflich davon. Schlimmer ist der leibliche Vater, der sich schon kurz nach Geburt seines Sohnes aus dem Staub gemacht hat. Die Mutter lässt den Sohn bei ihren Eltern, um ihrerseits ihr ungebundenes und unabhängiges Leben dem eigenen Familienleben vorzuziehen. Dass sie zuletzt bei einem penetranten, adeligen Langweiler endet, ist nur eine Pointe dieses skurrilen Familienromans. Durch Adoption trägt Hervé zuletzt auch noch dessen Nachnahmen.

Recht traurig wird es bei Telliers Verhältnis zur Mutter. Was für ein Kampf gegen diese lieblose, zornige Frau! Seine Versuche, ihr näher zu kommen, prallen alle an ihr ab.

Er erzählt nicht larmoyant sondern nimmt wahr, wie alle diese Onkel, Tanten und Erwachsenen an ihrer Unfähigkeit zur Lebensgemeinschaft kaputtgehen. Echte Liebe findet sich kaum. An Hinweisen und Bezügen zu literarischen und biblischen Vergleichen oder einschlägigen Texten fehlt es in dieser Geschichte nicht.

Hervé le Tellier hat alles im Blick. Ihm entgehen keine Sonderbarkeiten und Charakteristiken dieser verrückten Familie. Vielleicht steckt in seinen Beobachtungen auch eine gehörige Portion Sarkasmus im Sinne von „so sind Familien“. Auf jeden Fall findet sich ein Konvolut verschiedener Eigenschaften, die man in Familien finden kann.

Diesen Autor haben Lieblosigkeit und schwere Schicksalsschläge geprägt. Seine Bewältigung ist die Leichtigkeit, mit der er sich der Geschichten annimmt. Gelegentlich spürt man durchaus auch Tragik, wenn er beschreibt, wie sehr ihm Liebe und Anerkennung von Seiten der Väter und der Mutter gefehlt haben.

Der Tenor von Telliers Ausführungen liegt in der Frage: muss man seine Familie lieben?
Und er kommt zu dem Schluss: man muss es nicht!

Eine anspruchsvolle und geistreiche Lektüre erwartet den LeserIn!

Hervé le Tellier
All die glücklichen Familien
154 Seiten
dtv Verlagsgesellschaft. Oktober 2018
ISBN-10: 3423289716
ISBN-13: 978-3423289719
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Brit Bennett: Die verschwindende Hälfte

Brit Bennett: Die verschwindende Hälfte

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Brit Bennett hat einen Roman von kraftvoller Intensität geschrieben.

Es geht um ein Familienepos, Schwierigkeiten verschiedener Ethnien im Zusammenleben und um eine Gemeinde, die sich von der übrigen Welt isoliert hat. Rassismus spielt die tragende Rolle in dieser Familiengeschichte.

Zwillingsschwestern, die als Schwarze geboren wurden, bilden den Plot der Handlung. Sie haben wie alle in ihrem Dorf eine helle Haut, die sie zu Weißen machen könnte.
Mallard in Louisiana heißt der Ort, in den sie hineingeboren wurden. Gegründet wurde das Dorf von einem ehemaligen Sklaven.
Der Vater von Desiree und Stella wird von Weißen ermordet. Ihre Mutter schlägt sich als Putzhilfe mit ihren Töchtern tapfer durch. Die Mädchen müssen helfen, indem sie ebenfalls als Haushaltshilfen arbeiten.

Eines Tages sind die sie weg. Niemand weiß, wohin sie gegangen sind.
Sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, verlieren sich aber später ganz aus den Augen.
Desiree heiratet einen ganz schwarzen Mann und bekommt ein ganz schwarzes Kind.
Stella ist weg und wird erst spät im Roman wiederauftauchen.

Desiree kehrt eines Tages nach Misshandlungen durch ihren schwarzen Mann nach Mallard zurück.
Ihre schwarze Tochter June fühlt sich in Mallard als Außenseiterin. Sie wird gehänselt und gemobbt, bis sie über den Sport den Sprung an eine Universität schafft.
Nun ist es plötzlich ihre Geschichte, die den Plot stellt.

Jede der Schwestern lebt nun in einer eigenen Welt, die nichts mit der Welt der jeweils anderen zu tun hat. Dass Stella ihr Leben auf den Kopf stellt, indem sie sich als Weiße verlobt, verheiratet und ihr „Schwarzsein“ fortan als ihr ganz tief verborgenes Geheimnis wahrt, lässt sie sehr einsam werden. Sie lebt ein Leben voller Lug und Trug und befindet sich ständig im Zustand innerer Zerrissenheit.
Auch Stella hat eine Tochter, die wie June eine tragende Rolle in diesem Familiendrama übernimmt.

Brit Bennett schreibt in einen einnehmenden Stil, mit dem sie treffsicher Situationsbeschreibungen wiedergibt und ganz tief in die Geschicke ihrer Figuren eintaucht.
Sie hat sich eines großen Themas angenommen: es geht um Rassentrennung, leben in Armut und Reichtum, Identitätssuche und Verlust des eigenen Ichs.

Der Roman führt uns zu den Abgründen des Menschseins. Die Doppelbelastung, schwarz und weiß zu sein, wirft eine Fülle von Fragen auf, die einmal mehr die Konflikthaftigkeit von getrennten Ethnien im Zusammenleben beleuchten.
Brit Bennett vermittelt uns die Wahrheit: dass niemand frei von Vorurteilen gegenüber dem „Andersartigen“ ist.

Ein mitreißender und wunderbar poetisch gestalteter Rahmen gibt dem Roman Tiefe und lässt wirklich an Toni Morrison denken, die eine der ganz Großen in der amerikanischen Literaturszene war.

Brit Bennett
Die verschwinden Hälfte
416 Seiten, gegunden
ISBN-10: 3498001590
ISBN-13: 978-3498001599
Rowohlt Buchverlag, September 2020
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Irene Diwiak: Malvita

Irene Diwiak: Malvita

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Christina leidet. Betrogen von ihrem Freund und der besten Freundin, ist sie ein wenig aus der Bahn geraten. Obwohl sie keine ausgebildete Fotografin ist, reist sie nach Italien zu ihrer Cousine Marietta, um deren Hochzeit fotografisch festzuhalten. Ihre Mutter und die Mutter Mariettas sind Schwestern, dennoch kennt sie ihre Verwandten nicht. Die Familie Esposito lebt im verlassenen Ort Malvita in einer riesigen Villa. Damit taucht Christina in eine ihr fremde Welt von Reichtum und fragwürdigem Benehmen ein.

Was ist hier eigentlich los? Die Familie gibt sich unnahbar, die Atmosphäre hat etwas äußerst Seltsames. Christine, obwohl Familienangehörige, wird in einer kleinen Kammer weitab von den Räumlichkeiten der Familie einquartiert. Unzählige Bedienstete hetzen die Gänge entlang. Früher haben sie in der Lederwarenfabrik im Ort gearbeitet, die nun aber geschlossen ist.

Christina fühlt sich nicht wohl hier, doch sie bleibt aus unerfindlichen Gründen. Vielleicht ist es Neugier, vielleicht auch eine seltsame Faszination. Ich konnte mich dem Gefühl nicht entziehen, dass sie hier nicht sicher ist und etwas Schreckliches passieren wird. Und es kommen tatsächlich Dinge ans Tageslicht, die unglaublich sind.

Christina versucht, hinter die Kulissen zu schauen. Sie versucht zu verstehen, was ihre Cousinen Marietta und Elena, ihren Cousin Jordie und ihre Tante Ada antreibt, welche Rolle die gruselige Hochzeitsplanerin Angelina dabei spielt und welche Gedanken sich ihr Onkel Tonio und Mariettas Bräutigam Marcello machen, die kaum die Bühne betreten.

Als die Leiche von Blanca gefunden wird, sie sollte eigentlich die Hochzeit fotografieren, wird Christina überrascht von der Distanziertheit der Frauen. Es ist zu erahnen, dass sie sehr eigenwillige Pläne verfolgen.

Die Hintergründe ihrer verzweifelten Inszenierung sind irgendwann klar, die daraus resultierenden Ziele aber kaum nachvollziehbar. Und so bleibt auch das Ende offen. Die Geschichte bricht regelrecht ab, als die Handlung gerade besonders dynamisch ist. Und so bleiben Fragen über Fragen offen, die mit der eigenen Fantasie zu klären sind.

Rezension von Heike Rau

Irene Diwiak
Malvita
304 Seiten, gebunden
Paul Zsolnay Verlag
ISBN-10: 3552059776
ISBN-13: 978-3552059771
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Nick Hornby: Just Like You

Nick Hornby: Just Like You

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Nick Hornby schreibt über eine Liebesbeziehung, die sicher nicht alltäglich ist.

Wir schreiben das Jahr 2016 in London. In England findet die Abstimmung für oder gegen den Brexit statt, was zu gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat. Freunde und Familien gerieten in Streit über diese Frage. In den Gesprächen im Roman wird der Brexit zum Synonym für eine offene, liberale Gesinnung gegen eine, die engherzig und rückwärts gewandt daherkommt.

Die Erzählung befasst sich mit der Beziehung einer 42 jährigen weißen Lehrerin mit zwei halbwüchsigen Söhnen, die von ihrem Mann getrennt lebt. Sie verliebt ich in einen 22 jährigen Mann schwarzer Hautfarbe, der sie seinerseits wunderbar findet. Sie beschäftigt ihn gelegentlich als Babysitter. Doch dabei soll es nicht bleiben.

Nick Hornby lässt die Geschichte langsam angehen. Er umkreist förmlich sanft die gegenseitige Zuneigung. In langen Dialogen, das Umfeld der beiden mit ausleuchtend, nähert er sich dem Plot, der die Erzählung beherrschen wird. Durch zaghafte Annäherungen gewinnt die Geschichte eine fast erotische Spannung, die den LeserIn ganz in seinen/ ihren Bann zieht.

Die Geschichte beinhaltet ja einen Doppelkonflikt: schwarz gegen weiß und Alter gegen Jugend.

Lucy ist eine gescheite Person, die zwar zunächst Skrupel beschleichen, als sie sich mit Joseph einlässt. Doch ihre Söhne mögen diesen jungen Mann, der so schöne Spiele mit ihnen spielt. Was als Job mit gelegentlichem Babysitten beginnt, endet in einer langen Liaison. Für die Söhne ist er Joseph und sonst nichts. Dass sich seine Mutter mit ihm einlässt, bereitet ihnen eher Freude als Anstoß.

Dialoge beherrschen die Szenen und hinter den Dialogen die Gedanken.

Es handelt sich bei Lucys Freunden um einfache Mittelschichtfamilien. In London ist zwar die Diskriminierung von Paaren mit unterschiedlicher Hautfarbe nicht mit der in den USA zu vergleichen. Dennoch wundert sich jeder, was es mit dieser besonderen Verbindung auf sich haben könnte. Beide Partner fürchten die Konfrontation mit ihren jeweiligen Lebenskreisen.

Nick Hornby bietet das Bild einer engen Verbindung, die sich langsam ergeben hat. Alle Schritte werden analysiert: kleine Reisen, Feste und Feiern. Der LeserIn fragt sich, wie es wohl weitergehen wird mit diesem so ungleichen Paar.

Während Lucy als souveräne und besonnene Person beschrieben wird, entwickelt sich Joseph zu einem nachdenklichen, treuen Mann, der fest zu seiner Freundin steht. Dass eine einmalige Untreue von Joseph zur Zerreißprobe werden könnte, wird von Nick Hornby genial aufgelöst. Er erweist sich mit dieser Geschichte als hervorragender Kenner menschlicher Zweifel und Möglichkeiten.

Es handelt sich hier nicht um einen gelungenen Lebensentwurf, sondern die Geschehnisse zeigen eine von zahlreichen Zumutungen geprägte Einmaligkeit.

Wie mit dem Thema um Moral, gesellschaftliche Zwänge und Zweifel umgegangen wird, zeugt von tiefer Menschenkenntnis. Es bleibt der Eindruck einer warmherzigen und starken Liebesgeschichte.

Mich hat das Buch sehr beeindruckt.

Nick Hornby ist ein gefeierter Autor, der in London lebt.

Nick Hornby
Just Like You
384 Seiten, gebunden
ISBN-10: 346200039X
ISBN-13: 978-3462000399
Kiepenheuer & Witsch, 2. Auflage, September 2020
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Arezu Weitholz: Beinahe Alaska

Arezu Weitholz: Beinahe Alaska

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Durch die Nordwestpassage von Grönland nach Alaska soll die Expeditionskreuzfahrt der „MS Svalbard“ gehen, zu der sich einhundert Passagiere einfinden. Unter Ihnen ist eine Fotografin mit einer in die Jahre gekommenen Kamera. Sie ist unabhängig. Niemand wartet zu Hause auf sie. Doch nach vorn zu schauen und die Stimmung einzufangen, ist nicht immer einfach, besonders dann, wenn nichts als Weite zu sehen ist. Nicht selten macht der Anblick schwermütig.

Zwischen den Mahlzeiten, den Vorträgen und den wenigen Ausflügen bleibt viel Zeit. Als Alleinreisende wird sie mit den anderen Mitreisenden, die sind, wie sie sind, weil sie ihre eigene Geschichte haben, konfrontiert, vor allem aber mit ihren eigenen Gedanken. Die Autorin stellt das mit sarkastisch klingendem Formulierungen dar. Das mag witzig sein, gleichzeitig lässt es aber auch tief blicken. So etwas wie Verzweiflung wird deutlich und doch blitzt gleichzeitig Hoffnung auf. Denn wer so mit sich umgeht, will nicht resignieren.

Die Fotografin steht bei Wind und Wetter an der Reling, betrachtet die Natur, fasst sie in Worte, malt sie mit Worten. So wie sich dafür öffnet, öffnet sie sich auch mit gnadenloser Ehrlichkeit ihren Gedanken und ist dabei sehr auf sich bezogen. So ist es, wenn das Gedankenkarussell sich dreht.

Auf die Unternehmung hat die 45-Jährige sich sehr gut vorbereitet. Stets hat sie spannende Hintergrundwissen parat. Das ist für den Leser sehr spannend.

Die Fahrt ist durchgeplant, das Ziel naht. Sie muss nur abwarten. Das erweist sich als Irrtum. Als das Schiff wegen der vereisten Passage neuen Kurs nehmen muss, verändert sich die Atmosphäre. Ihr Blick weitet sich und sie beginnt, die Menschen um sich herum wieder anders wahrzunehmen und Probleme zu sehen, die nicht nur sie selbst betreffen.

Das Buch ist eine Entdeckung, weil es so lebensklug ist. Man hat, das wird im Buch deutlich, immer eine Wahl zwischen Feststecken oder Weiterschauen. Es ist eine Entscheidung. So wie das Schiff seinen Kurs ändern kann, kann auch sie ihrem Leben eine neue Richtung geben. Alles ist möglich.

Rezension von Heike Rau

Arezu Weitholz
Beinahe Alaska
192 Seiten, gebunden
mare Verlag, September 2020
ISBN-10: 3866486405
ISBN-13: 978-3866486409
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David Grossmann: Was Nina wußte

David Grossmann: Was Nina wußte

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Geheimnisvoll, widersprüchlich und zugleich realistisch erzählt uns David Grossmann eine Geschichte. Eine Geschichte von drei Frauen und ihrem jeweiligen Schicksal, das sie einerseits zusammenschweißen sollte,das aber alle drei Frauen voneinander getrennt hat.

In seiner unvergleichlich assoziativen und in Andeutungen sich ergehenden Diktion schält sich erst allmählich die ganze Wahrheit über das Leben der drei Frauen heraus.
Wir befinden uns in Israel. Vera feiert ihren 90. Geburtstag. Aus diesem Anlass erscheinen ihre Tochter Nina, ihr Stiefsohn Rafael und deren gemeinsame Tochter Gili, ihre Enkelin. Letztere dreht einen Film über ihre Großmutter. Dazu führt sie Gespräche und schreibt alles auf. Sie ist zugleich eine der Protagonistinnen.
Wie soll man über etwas schreiben, das Gefühle ausdrücken und zugleich verbergen soll?

Vera und auch Nina schweigen beharrlich über ihre Vergangenheit. Nur in kurzen Ansätzen kann man Hinweise auf außergewöhnlich harte Jahre bekommen. Vera und Nina sind aus Jugoslawien nach Israel eingewandert. Milos, Ninas Vater und Veras Mann, ist tot. In Israel treffen sie auf Tuvia, der seine Frau nach langem Leiden verloren hat. Er hat drei Kinder u.a. den Sohn Rafael. Vera und Tuvia verbinden sich aus Liebe und Einsamkeit.

In sporadischen Episoden berichtet Vera, wie es zu dieser Ehe kam.
Gili sucht in den Gesprächen mit der Großmutter und ihrem Vater hinter Ninas geheimnisvolles Leben zu kommen. Es ist bemerkbar, dass da vieles nicht stimmt.
Ihre Nachforschungen haben ergeben, dass sich Nina und Rafael begegneten, als sie siebzehn und er fünfzehn Jahre alt waren.
Er ist hingerissen von ihr und wird es ein Leben lang bleiben. Nina aber findet nie zur Ruhe.

Die Spuren der Vergangenheit verdichten sich, als alle genannten Personen beschließen, in die ehemalige Heimat von Vera und Nina nach Jugoslawien, jetzt Kroatien, zu reisen. Was hat sich damals vor so vielen Jahren zugetragen?
Das ist eine lange Geschichte! Sie hat mit dem Jugoslawienkrieg unter Tito zu tun, mit Verrat, Folter, Shoah, Tod und grausamen Verlusten.

Menschen verlieren sich, bleiben sich treu oder geraten durch schwere Schicksalsschläge ganz aus den Fugen. Vera ist zutiefst durchdrungen von ihrer Liebe zu Milos. Aus Liebe zu ihm durchstand sie grausamste Folter, nur um ihn nicht zu verraten. Nina, ihre gemeinsame Tochter, ist das Opfer.

Wie David Grossmann diese Geschichte erzählt, das erinnert sehr an seinen großen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“.
Auch hier wird geschwiegen, erduldet und mit unbekannten Mächten gerungen um der Wahrheit willen, oder um ihr zu entgehen.
Gebannt folgt man den Lebenswegen der drei Frauen. Die starke Vera bestimmt das Geschehen.

Die Erzählung hat einen wahren Hintergrund: das Schicksal der Jüdischen Kommunistin Eva Panic-Nahir.
Grossmann macht daraus eine Geschichte von gewaltiger Tragweite.
Wieder gelingt es ihm, die Geschehnisse um Verfolgung, Krieg und Shoah ins Bewusstsein der Gegenwart zu holen.
Spannend, beklemmend und eindrucksvoll bleibt der Eindruck eines herausragenden Werkes in der Übersetzung von Anne Birkenhauer.

Davod Grossmann
Was Nina wußte
352 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, 2. Auflage, August 2020
ISBN-10: 3446267522
ISBN-13: 978-3446267527
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