Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

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Dieser Titel von Gianfranco Calligarich ist schon 1973 zum ersten Mal erschienen und wurde im Januar 2022 mit großem Erfolg neu aufgelegt.

Held dieser Geschichte ist Leo Gazzarra.
Er ist buchstäblich ein Müßiggänger, der sein Leben zu genießen weiß.
Er kam aus Mailand in die große Stadt Rom, wo er Freunde, einen kleinen Job und Unterkunft fand.
Mit seinen Einkünften ist es nicht weit her. Hier und da leiht er sich etwas, vor allem aber findet man ihn auf Partys und in den einschlägigen Kreisen, wo man trefflich zu feiern weiß.
So weitet sich der Bekanntenkreis. Allmählich wächst er in eine Clique hinein, in der viel getrunken und gefeiert wird.

In hinreißenden Bildern schildert der Autor das süße Leben zu Beginn der siebziger Jahre in Rom. Sein Protagonist ist Journalist und hat eine feine Beobachtungsgabe, mit der er Einzelheiten des Lebens, der Stadt mit ihren Kunstwerken und des eigenen Wohlergehens beschreiben kann.

Arianna wird die große Liebe seines Lebens. Doch das Spiel, das in seinem neuen Bekannten-und Freundeskreis gespielt wird, ist auch ein tödliches Spiel. Arianna ist eine exzentrische Person, deren Launen Leo bald verzweifeln lassen.

G. Calligarich kann mit seiner ausgezeichneten Wortgewandtheit die Feinheiten der Atmosphäre im Rom der siebziger Jahre hautnah schildern. Die Sommer sind heiß, und die Treffen der Freunde zeugen von einem Leben im Müßiggang und Langeweile. Die Stadtbeschreibungen und Wiedergabe von Stimmungen sind treffend und zeugen von Einfühlungsvermögen. Sie stehen ganz im Gegensatz zu den ausufernden Trinkereien. Denn der Alkoholkonsum nimmt zu, und man lebt von einem Tag auf den anderen. La Dolce Vita ist angesagt. Architekten, Künstler, Filmschaffende und erfolgreiche Geschäftsleute bilden den Kern der Gemeinschaft. Leo arbeitet mit wenig Erfolg für eine Sportzeitung. Durch die richtigen Verbindungen sucht er gelegentlich nach neuen Betätigungsfeldern. Er ist ein sensibler, nachdenklicher und literarisch gebildeter Mensch. Der Alkoholkonsum bringt mehr als einen der Protagonisten zum Scheitern. Auch Leo verfällt mehr und mehr dem Alkohol. Letztlich zeigt sich ein morbides Gebilde der Gesellschaft, denn richtig froh ist niemand. Von Gefühlen der Wehmut und Melancholie befallen kann Leo seinem Schicksal nicht entgehen.

Der Leser wird mitgerissen von einem Erzählstil, der realistisch und einfühlsam einen Sommer in der Stadt vermittelt. Auf dem Klappentext heißt es „Ein Roman für alle, die Philip Roth und Jonathan Franzen lieben.“ Dem kann ich mich nur anschließen.

Gianfranco Calligarich
Der letzte Sommer in der Stadt
Paul Zsolnay Verlag, 3. Edition, Januar 2022
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552072756
ISBN-13: 978-3552072756
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Bettina Flitner: Meine Schwester

Bettina Flitner: Meine Schwester

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Bettina Flitner begibt sich mit diesem Buch auf Spurensuche in die Vergangenheit. Es geht um ihre Familie, ihre Eltern, die Schwester und Großeltern. Ihre Eltern hatten sich in einer Zeit des Aufbruchs aus verkrusteten Strukturen in ein antibürgerliches und sexuell freies Leben begeben.

Anstoß zum Buch war der Suizid ihrer Schwester, die sich wie die Mutter mit 47 Jahren das Leben genommen hat.

In wechselnden Zeitebenen beschreibt Bettina Flitner ihr Kinderleben und ihr Erwachsenendasein. Ihre Schwester, um die es im Wesentlichen in diesen Aufzeichnungen geht, war schon früh ein gestörtes Mädchen mit Hungerattacken und innerer Unausgeglichenheit.

B. Flitner hat eine ungebrochene Gabe, in ihren Erinnerungen die täglichen Gegebenheiten trocken, nüchtern und auch gelegentlich karikierend darzustellen. In ihrer Erzählweise wirkt sie fröhlich, unbeschwert und ohne Ängste. Mit ihrer wenig älteren Schwester hatte sie ein enges Verhältnis. Sie heckten zusammen so manchen Schabernack aus. Auch die Großeltern spielen keine geringe Rolle und werden mit ihren skurrilen Eigenheiten beschrieben.

Sie beschreibt klar und schnörkellos, was sich täglich in ihrem Leben änderte. Viele Umzüge gehörten dazu und wechselnde Partner:innen der Eltern. So lebt eines Tages Frau Tasch mit in der Familie. So wie sie gekommen ist, verschwindet sie auch wieder. Ab und zu flüstern die Kinder „das ist seine Neue“, wenn wieder mal ein fremdes weibliches Wesen am Tisch Platz nimmt.

Etwa um 1970 ging es für eine Weile nach Amerika. Neugierig und munter beschreibt die Autorin ihre Schuleindrücke, die fremde Stadt New York mit ihren Geräuschen und Ausflüge zu einer „Landkommune“ etc. Dort geht es bunt, lustig und sehr freizügig zu.

In der Art wie B. Flitner ihre Kindheit und Jugend schildert, meint man zu spüren, dass sie sich in ihrem Inneren immer ein wenig auf Abstand zur Familie befand. Einzig die Schwester Susanne war lange Zeit ihr Kumpel und bester Freund. Diese fand sich wohl weniger leicht zurecht in dem ungeordneten Familienleben.

Dass die Mutter an Depressionen litt, zeigt die Autorin in wunderbaren Bildern. Es sind die schwarzen Vögel, die einer nach dem anderen kommen, um die zarte und empfindsame Mutter heimzusuchen. Den Vater beschreibt sie treffend mit den Worten“ Ein schwer zu fassendes Irrlicht, das mal hier und mal dort über einen morastigen Grund geistert“. (S.150) Mit diesen Worten wird die innere Distanz deutlich, mit der die Autorin ihre Familienmitglieder zu charakterisieren versucht.

D.h. nicht, dass sie nicht getroffen ist, als die Mutter stirbt.
Man spürt im Gegenteil ihr Mitgefühl mit dieser unglücklichen Frau.
Unmittelbar nachvollziehbar ist der Schock über den Tod der Schwester.

Alles in allem ist die Autobiographie in ihrer protokollarischen Darstellung reich an inneren Bildern, die Einblicke in ein unruhiges und wenig Halt bietendes Elternhaus öffnen.

Bettina Flitner ist Ehefrau von Alice Schwarzer und hat sich als erfolgreiche Fotografin einen Namen gemacht. Sie lebt in Köln.

Bettina Flitner
Meine Schwester
Kiepenheuer&Witsch, Februar 2022
320 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3462002376
ISBN-13: 978-3462002379
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Jan Berry: Natürliche Hausmittel – Von Kosmetik bis Putzmittel einfach alles selbst herstellen

Jan Berry: Natürliche Hausmittel – Von Kosmetik bis Putzmittel einfach alles selbst herstellen

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Hausgemachte Naturprodukte erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Die Autorin bietet einen schönen Einstieg in das Thema, beschreibt die verwendeten Garten- und Wildkräuter und ihre Wirkung und für welche Rezepte sie jeweils genutzt werden können. Sie zeigt auf, wie man diese konservieren kann, um sie immer zur Hand zu haben. Es wird erklärt, welche Öle zum Einsatz kommen und wie Ölauszüge hergestellt werden. Zudem werden alle weiteren Zutaten kurz beschrieben. Natürlich wird auch aufgezeigt, welche Ausrüstung nötig ist. Viele Utensilien sind bereits in der Küche vorhanden.

Das Buch beginnt mit pflanzlicher Hautpflege. Hier fand ich insbesondere die seifenfreien „Waschstücke mit Tonerde und Blüten“ interessant. Bei den Salben und Balsamen ist es der „Balsam mit Lavendel, Kokos und Honig“. Bei der Körperbutter sind es die „Sonnenblumen-Lotion-Bars. Spannend sind auch die verschiedenen Badezusätze, die Peelings und die Lippenpflege. Nur selbst gemachte Zahnpasta habe ich vermisst.

Ein großes Kapitel ist der Herstellung von Seifen gewidmet. Hier hat sich die Autorin bemüht, diese Kunst möglichst einfach darzustellen, sodass sogar Anfänger damit zurechtkommen sollten. Alles wird Schritt für Schritt und mit zahlreichen Fotos anschaulich erklärt. Das Anfängerrezept ist eine „Kamillenseife mit Olivenöl“.

Was haben wir noch? Natürlich geht es im Buch auch um Hausmittel für die Gesundheit. Hier fand ich es spannend, zu erfahren, wie zur gewünschten Wirkung die Kräuter ausgesucht werden. Das ist bei den Pflegeprodukten ebenso. Und so ist es doch recht einfach, einen Hustensirup oder ein Massageöl herzustellen.

Haushaltshelfer werden ebenfalls vorgeschlagen. Küchenreiniger, Fensterreiniger, Möbelpolitur und Weichspüler lassen sich leicht mit wenigen natürlichen Zutaten herstellen.

Das Buch ist ein Arbeitsbuch und ein Nachschlagewerk. Die Autorin präsentiert nicht nur die Rezepte, sie liefert auch breit gefächertes naturheilkundliches Wissen. Sehr ansprechend sind die Fotos im Buch, die schön gemacht und großformatig sind. Sich eine Vorstellung von dem Produkt machen zu können, das hergestellt werden soll, ist sehr von Vorteil. Die Autorin inspiriert zudem mit Basisrezepten, mutiger beim Ausprobieren zu werden. Ich bin begeistert von diesem Buch, da die Rezepte gut umsetzbar sind und es ausführliche Erklärungen zu den Zutaten gibt.

Rezension von Heike Rau

Jan Berry
Natürliche Hausmittel – Von Kosmetik bis Putzmittel einfach alles selbst herstellen
400 Seiten, gebunden
Unimedica, Februar 2022
ISBN-10:‎ 3962572554
ISBN-13: 978-3962572556
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Jessica Durlacher: Die Tochter

Jessica Durlacher: Die Tochter

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Jüngste europäische Geschichte in einem an Spannungen reichen Roman.

Im Hause der Erinnerung an Anne Frank in Amsterdam, der im Krieg von den Deutschen zuerst ins KZ verbrachten und dann getöteten holländischen jungen Jüdin, begegnen sich eines Tages Sabine und Max. Er begleitet seine jüdische Familie zur Besichtigung, und Sabine arbeitet gelegentlich hier.

Es wird viel über Gefühle nachgedacht und die widerstreitenden Gedanken, die einen jeden in diesem Haus befallen. Die ganz schreckliche Nazivergangenheit mit ihrem unendlichen Leid, das sie über die Menschen und insbesondere über die jüdischen Menschen gebracht hat, wird in diesem Besuchen lebendig. Sabine nennt es „schaurig“, und dass das für immer in diesem Hause bleibt.

Warum Sabine so penetrant ein Gespräch mit Max sucht, wird erst allmählich klar.

In leicht mokanten Worten bis geheimen Widerwillen ersteht die Vergangenheit in Max.

Aus Amerika sind Onkel und Tante gekommen. Max ist sehr ambivalent in seinen Gefühlen allen gegenüber. Ob jüdischer Vater oder Mutter: er hat ein feines Gespür für die unterschwelligen Strömungen im Wesen und Gebaren seiner Eltern.

Nach längerer Vorgeschichte mit Einzelheiten aus ihrer beider Leben entflammt zwischen Max und Sabine eine heftige Liebe.

Jessica Durchlacher entwickelt daraufhin ein umfangreiches Panorama menschlichen Verhaltens und des Leids, das Menschen einander zufügen können: Geheimnisse, Misstrauen, Verrat, Liebe und Vertrauen wechseln in ihren Verknüpfung mit den Schicksalen.

Die Autorin hat ein ausgezeichnetes Repertoire an Fantasie und Worten, menschliche Tragödien aufzuzeigen, die in ihren Verstrickungen der Realität nahekommen. Der Bogen der Spannung wird weit gezogen. Juden/ Jüdinnen und holländische Kollaboration werden zum Thema. Lügen in den Familien sind bestimmt von dem Wunsch, die Vergangenheit zu vertuschen oder zu vergessen.

Begegnungen führen von Amsterdam nach Los Angeles und Jerusalem. Die Liebe der zwei Hauptprotagonisten wird immer wieder zerstört, weil sich Sabine in letzter Konsequenz allen Bindungen entzieht.

So vergehen Jahre, bis die Geschichte einem Höhepunkt entgegengeht.

Jessica Durchlacher nimmt Geschehnisse der jüngsten europäischen Geschichte zum Thema. Atmosphärisch dicht und realitätsnah erlebt man gewisse Intellektuelle in Europa und Amerika in ihrem Umfeld, um dem Kern in der Erzählung näherzukommen. Es rührt an das Mitgefühl des Lesers/ Leserin, wenn wieder einmal deutlich wird, wie verführbar der Mensch zum Bösen sein kann, und wie katastrophal das ganze Leben als Folge von Unmenschlichkeit bestimmt bleiben mag.

Bis zur letzten Minute bleibt die Geschichte spannend und anrührend. Eine volle Empfehlung von mir für ein Buch, dass bereits 2003 zum ersten Mal erschienen ist.

Jessica Durlacher
Die Tochter
Diogenes Verlag, 10. Auflage, Februar 2003
336 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3257233515
ISBN-13: 978-3257233513
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Saskia Louis: Die Lügendiebin

Saskia Louis: Die Lügendiebin

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Fawn ist eine begabte Lügendiebin. Sie kann mit ihrer roten Magie erkennen, wer die Wahrheit spricht und wer lügt. Doch hat sie es nicht auf Notlügen, Flunkereien und Ausreden abgesehen, sondern vielmehr auf bedeutsame Lügen, denn diese sind den Dunkeldieben mehr wert. So schleicht sie sich ein in die Häuser der adligen Familien im weißen Ring, um heimlich an ihren Gesprächen teilzunehmen. Unbemerkt aus ihrem Versteck heraus hängt sie an ihren Lippen und erfährt, was eigentlich geheim bleiben soll.

Fawn fühlt sich sicher, sie versteht ihr Handwerk. Doch im Hause der Familie Falcron wird sie erwischt. Lord Kaltherz persönlich steht ihr plötzlich gegenüber, als sie gerade einer unglaublich brisanten Lüge, die sie von Lady Falcron Lippen gestohlen hat, auf den Grund gehen will. Nun muss sie selbst lügen und es wie Wahrheit aussehen lassen. Doch kommt sie damit nicht durch. Caeden will sie für seine Zwecke einspannen. Er glaubt, nur so den Mörder seines Vaters finden zu können. Aber dazu muss sie sich als seine Verlobte ausgeben. Fawn holt sich Rückendeckung von den Dunkeldieben und spielt mit. Sie hat ohnehin kaum eine Wahl. Es ist eine äußerst gefährliche Sache, die sie das Leben kosten könnte.

Vor dem geistigen Auge tut sich eine geheimnisvolle Welt auf, die in fünf Ringe eingeteilt ist. Dabei bildet der Königshof von Mentano die innere Mitte. Fawn lebt im äußeren grauen Ring. Hier ist die Armut, der sie entfliehen möchte, am größten. Es kostet keine Mühe, sich diese Welt vorzustellen, denn sie ist sehr bildhaft beschrieben.

Fawn kommt in diesem Buch selbst zu Wort. Die Geschichte ist aus ihrer Sicht erzählt. Sie ist eine offene, mutige und etwas zu abenteuerlustige junge Frau. Ihre Erlebnisse und ihre Gedanken werden sehr ausführlich wiedergegeben, sodass man sich perfekt in sie hineinversetzten kann. Besonders spannend ist ihr Umgang mit Caeden. Hat er seinen Spitznamen Lord Kaltherz wirklich verdient? Überhaupt gibt sich seine Familie unerwartet freundlich. Als Leser kommt man nicht umhin, sich um ihren Vertrauensvorschuss Sorgen zu machen. Nach außen hin spielen die beiden ihre Rolle als verlobtes Paar wirklich gut und Fawn ist sich ihrer Gefühle nicht mehr sicher.

Die Autorin eröffnet einen völlig neuen Blick auf das Wesen der Lüge und ihrer Vielfältigkeit bis hin zum Verrat. Über bewusste Täuschung und Intrigen hinweg entwickelt sich die absolut fesselnde und wunderbar flüssig zu lesende Geschichte fort bis hin zu einem dramatischen Ende, das Lust auf den zweiten Teil des Buches macht.

Rezension von Heike Rau

Saskia Louis
Die Lügendiebin
ab 14 Jahren
416 Seiten, gebunden
Ueberreuter, Februar 2022
ISBN-10: 3764171286
ISBN-13: 978-3764171285
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Annika Büsing: Nordstadt

Annika Büsing: Nordstadt

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Der vorliegende Roman von Annika Büsing glänzt durch eine kurze, lakonische Sprache, die zuweilen sehr witzig wirkt.Erzählt wird die Geschichte von Nene. Sie lebt im Norden einer Stadt im Ruhrgbeiet. Herkömmlich sind die Nordstädte die ärmeren Teile einer Stadt. Dort geht es nicht so gesittet zu wie etwa im Süden.

Nene arbeitet als Bademeisterin. Im Schwimmbad lebt sie ihr Leben, kennt die Menschen, knüpft Beziehungen an und ist dort ganz zu Hause.
Sie erzählt ihre Geschichte in der Ichform. Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er humpelt und hat so schöne „Pumaaugen“ und vom Wasser verklebte Wimpern. Nene mag ihn.

Es ereignet sich nicht viel. Umso eindrucksvoller sind die Erlebnisse und die kleinen Erinnerungsfetzen an und Hinweise auf ihren Vater, der bei jeder Gelegenheit prügelte.

Die Protagonistin hat eine umwerfend komische, nüchterne und sehr ehrliche Sprechweise. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und denkt schnell und logisch. Mit Boris lässt es sich für sie schwer an. Ihre stakkatoartigen Sätze enthalten Gedanken und Überlegungen, die sich mit ihren Mitmenschen beschäftigen. Boris ist stolz, und zuweilen lügt er sie an. Bis sie herausfindet, wie er lebt und denkt, dauert es einige Zeit.

Die Art und Weise, in der Annika Büsing ihr Thema angeht, ist reizvoll. Immer wieder bleiben Fragen offen. Der Leser muss sich gedulden, um mehr über Hintergründe der Beziehung zwischen Nene und Boris herauszufinden. Nene wird von ihr so geschildert, dass man tiefe Einblicke in das Seelenleben ihrer Protagonistin bekommt. Sie ist rau, insgeheim zärtlich und liebevoll, dabei brüsk in ihren Äußerungen, und häufig fühlt sie sich einsam. Außerdem ist sie anhänglich und empfindsam. Auf eine verhaltene Art und Weise hat sie einen aufrechten und klaren Charakter. Es ist die vorsichtige Annäherung, mit der Annika Büsing den Leser*in bestrickt. Unter der äußeren Oberfläche schlummern bei Boris und Nene Traurigkeit, Einsamkeit und Verletzungen aus frühen Kinderjahren. Der feine Sarkasmus und die Schüchternheit ziehen beide zueinander hin. Durch das eigene erfahrene Leid ist das Verständnis für den anderen groß. Da sie gelernt haben, ihre Verletzungen zu verbergen, ist der Weg gegenseitiger Annäherung äußerst zurückhaltend. Boris geht allem aus dem Wege. Nene sucht sich Menschen, denen sie vertrauen kann, und zu denen sie eine Beziehung aufbauen möchte. So ist Nene die treibende Kraft, die sich Boris immer wieder zuwendet.

Es ist eine kurze aber sehr anrührende Geschichte, mit denen sich Annika Büsung in ihrem Debütroman ihrem Lesepublikum vorstellt. Man darf gespannt sein auf weitere Romane von dieser Autorin.

Sie leb mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Bochum.

Annika Büsing
Nordstadt
Steidl, Februar 2022
128 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3969990645
ISBN-13: 978-3969990643
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Mathijs Deen: Der Holländer

Mathijs Deen: Der Holländer

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Geeske Dobbenga vom niederländischen Grenzschutz rechnet mit einer ruhigen Patrouille. Es ist ihre letzte, denn sie geht in Pension. Doch entdeckt sie eine Leiche auf einer Sandbank an der Emsmündung. Da es nicht mehr lange dauern wird, bis die Flut dort ist, wird der Mann geborgen und nach Delfzijl gebracht.

Der Fundort befindet sich jedoch im Grenzgebiet. Ob die Niederlande zuständig ist oder Deutschland ist ein Streitthema. Als wird Liewe Cupido inoffiziell von der Bundespolizei ausgesandt, den Fall zu untersuchen. Er ist Deutscher, da er aber auf Texel aufgewachsen ist, wird er der Holländer genannt.

Der Tote, Klaus Smyrna, war ein bekannter Wattwanderer, der eigentlich mit zwei Freunden unterwegs gewesen sein sollte. Da er eine Verletzung hat, will man genauer hinschauen. Und auch Cupido deckt sofort einige Ungereimtheiten auf. Wie sich herausstellt, stand die Wattwanderung unter keinem guten Stern. Nur zu zweit waren die Wattwanderer unterwegs gewesen, da Aron Reinhard im Urlaub war. Peter Lattewitz hat es wieder an Land geschafft. Zur Aufklärung des Todesfalls kann er kaum beitragen, da es ihm gar nicht gut geht. Was er berichtet, klingt zusammenhanglos.

Liewe Cupido ist ein schweigsamer Typ. Ihm zu folgen, macht dennoch sehr viel Spaß. Er macht Fortschritte in der Ermittlung vor allem durch Zuhören. Mit seinem gedehnten Schweigen provoziert er den ein oder anderen, den er befragt. Besser kann man niemanden zum Reden bringen.

Dennoch ist der Fall extrem undurchsichtig. Es geht nicht richtig voran. Nur nach und nach fließen Details zusammen, die ein Bild von den tatsächlichen Ereignissen ergeben könnten. Natürlich ermittelt Cupido nicht allein. Auch die niederländische Staatsanwaltschaft streckt ihre Fühler aus. Die einen lehnen eine Zusammenarbeit mit Deutschland ab, während andere durchaus bereit sind, Cupido mit Neuigkeiten und Erkenntnissen zu versorgen. Und auch die Presse, hier insbesondere Pauline Islander von der Borkumer Zeitung weiß er zu lenken. Und so ergeben sich immer wieder neue Wendungen in diesem abwechslungsreich geschriebenen Krimi.

Rezension von Heike Rau

Mathijs Deen
Der Holländer
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
272 Seiten, gebunden
mareverlag, Februar 2022
ISBN-10: 386648674X
ISBN-13: 978-3866486744
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Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

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Gedanken an Gott und die Auslegung religiöser Sprachen.

Im Zwiegespräch mit seiner zwölfjährigen Tochter versucht Navid Kermani, die Welt und die Religionen, vorwiegend den Islam, zu erklären.
Die Frage nach dem „Woher“ und „Wohin“ ist eine Menschheitsfrage von allgemeiner Bedeutung.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was war vor uns und was wird nach uns sein: das sind die Kernfragen unseres menschlichen Daseins. Zahlreiche weitere Fragen schließen sich an. Wie entstand das Universum? Wo fängt es an und wo endet es? Gab es einen Anfang und wird es ein Ende geben?

Kermani versteht es hervorragend, Religionen in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen zu beschreiben.
Ob Hinduismus, Buddhismus, die christliche Religion, der Islam oder das Judentum: eine jegliche Religion hat eigene Gesetze und Normen. Und doch ist nach Kermanis Auslegung allen gemeinsam, dass es sich um „Beziehungen“ handelt. Ob zu Gott, der Unendlichkeit oder dem Menschen in seiner Kleinheit der Unendlichkeit gegenüber: Menschen suchen einen Anhaltspunkt, der ihnen die Welt und das Sein zu begreifen hilft. Dass dabei viele Fragen nicht zu beantworten sind, räumt Kermani in seinen Gesprächen ein.

Navid Kermanis Antworten auf die Fragen seiner Tochter sind so ausgeprägt und beispielhaft, dass auch der erwachsene Leser anhand seiner Erklärungen einen Wissensgewinn erfahren wird. Allerdings ist die Fülle der Beispiele an historischem Wissen und den Ergebnissen religionswissenschaftlicher Forschungen überwältigend.

In wortreichen Beispielen überzeugt Kermani mit seinen detailreichen Kenntnissen, mit denen er den Gott im Islam und den in anderen monotheistischen Religionen zu erklären trachtet. Dabei steht Gott für ihn für vieles, ja für alles, was menschliche Beziehungen ausmachen. Die zitierten Suren des Islam könnten nach Inhalt und in ihrer Bedeutung christliche Bibelverse sein.
Man merkt an den Fragen der Tochter, dass Physik, Quantenmechanik und die Erforschung der Natur als Ganzes in viele Antworten mit einfließen muss.
Zahlreich sind die Beispiele, mit denen der Autor alleine die „Sprache“ in ihrer vielschichtigen Verwendung und Bedeutung beispielhaft erklärt.

Alles in allem ist dieses Buch eine umfassende Geschichte der Religionen und ihrer Bedeutung für den Menschen.
Dass Navid Kermani die Erzählung gelegentlich auflockert, indem er auf die Tochter mit ihren alltäglichen Wünschen eingeht, gibt der ganzen Geschichte immer wieder einen bodenständigen Grundton.
Alles in allem kann man das Buch jedem empfehlen, der sich mit Religionen im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen auseinandersetzen will. Eine Anleitung zum Glauben kann es nicht sein!

Navid Kermani
Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
Carl Hanser Verlag, Januar 2022
240 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3446271449
ISBN-13: 978-3446271449
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Deborah Levy: Was das Leben kostet

Deborah Levy: Was das Leben kostet

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Deborah Levy ist eine gefeierte Schriftstellerin.
In ihrem schon 2019 erschienenen hier vorliegenden Selbstbild beschreibt sie ihren Neuanfang nach dem Ende ihrer Ehe.
Es ist ein nachdenklich stimmendes kleines Werk.
Sie hat zwei erwachsene Töchter, von denen eine schon studiert.

Der Neuanfang beginnt mit dem Umzug in ein kleines Holzhaus, das eher schon einem Schuppen gleicht.
Hier richtet sie sich spartanisch ein. Das Haus ist alt, Spinnweben überall und die Kälte der veralteten Heizung kriecht in alle Knochen.
Sie nimmt am Schreibtisch Platz. Hier ist sie ganz bei sich. Sie beschreibt das „Schreiben“ als einen mühevollen Prozess, in dem sich Erfahrung mit Fantasie und Wirklichkeiten mischen.
Nach ihrer Auffassung ist der Reiz des Schreibens “die Aufforderung, hinter die augenscheinliche Wirklichkeit aller Wesen und Dinge vorzudringen“. (S49)

Sie mischt in ihrer Erzählung Eindrücke ihres momentanen Lebens mit den äußeren Bedingungen und mit Erinnerungen an die frühe Zeit ihrer Ehe. Zu gleicher Zeit stirbt ihre Mutter, und sie entdeckt erst spät deren Qualitäten als Mensch und Mutter.

Die Erzählung bietet einen Reichtum an Assoziationen, der ihre Freundesbeziehungen, die Wahrnehmung von Stimmungen bezüglich des Klimas und der Natur und des Sterbens ihrer Mutter betrifft. Einen roten Faden gibt es nicht.

Sie zitiert Beauvoir, Baldwin und Duras bei ihren Einfällen zu Emanzipation, Freiheit und Männerherrschaft. Was ist Freiheit? Und wie lebt sie sich nach zwanzig Jahren Ehe?
Eine Antwort gibt es nicht. Vielleicht gelegentliche Melancholie und Bedauern, dass so vieles nicht gelungen ist.
Mit ihrer Freiheit muss sie sich noch einrichten, das schimmert bei allen Reflexionen durch.

Die Stille, die Vögel im Garten und das Alleinsein zu ertragen will eingeübt werden. Das alles fällt ja zusammen mit dem Älterwerden, auch dieses ein Prozess, der innerlich und äußerlich bewältigt werden muss.

Die richtigen Worte zu finden, um einzelne sie bewegende Begegnungen und Zustände zu beschreiben, das ist die Kunst von Deborah Levy. Dafür mag man sie loben.
Insgesamt aber fehlt ein Schwung, der die Gescshichte erst anziehend machen könnte.

Deborah Levy
Was das Leben kostet
HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH, Mai 2020
160 Seiten, broschiert
ISBN-10: 3455008925
ISBN-13: 978-3455008920
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Jennifer Lynn Barnes: The Inheritance Games, Band 1

Jennifer Lynn Barnes: The Inheritance Games, Band 1

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Die 17-jährige Avery Kylie Grambs kann es gar nicht glauben. Der Multimilliardär Tobias Hawthorne soll ihr fast sein gesamtes Vermögen hinterlassen haben. Sie kennt den Mann nicht. Aber ausschlagen will sie das Erbe deswegen natürlich auch nicht. Jedoch sind daran einige Bedingungen geknüpft. Sie muss ein Jahr lang im Hawthorne House wohnen, zusammen mit einer Familie, die nicht begeistert darüber ist, enterbt worden zu sein. Auch die Enkelsöhne Grayson, Jameson und Alexander geben sich mehr als überrascht. Nur der Älteste, Nash, scheint sich nicht vor den Kopf gestoßen zu fühlen.

Avery will herausfinden, warum ausgerechnet sie die Erbin ist. Genau zu diesem Zweck scheint Tobias Hawthorne ein mysteriöses Spiel ersonnen zu haben. Es bringt sie mit den Enkelsöhnen zusammen, die sich an dem Spiel beteiligen müssen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie versuchen, ein schwieriges Rätsel zu lösen. Tobias Hawthorne hat stets versuch, sie dafür begeistern. Auch Avery kennt sich aus und ist ebenfalls in der Lage, nicht offensichtliche Zusammenhänge zu erkennen. Jedoch taucht nach jeder gemeisterten Herausforderung eine neue auf. Viele Spielzüge sind erforderlich.

Von Anfang an ausgesprochen spannend! Das Buch ist aus der Sicht Averys geschrieben. Sie ist sympathisch, schlagfertig und klug, muss aber in ihre neue Rolle erst hineinwachsen. Die vier Enkelsöhne sind ebenso geheimnisvoll wie das Rätsel. Zwei von ihnen empfindet Avery als besonders charismatisch und ihre Gefühle fahren Achterbahn. Aber natürlich gibt es auch Gegner, sie weiß also nicht, wem in der Familie sie trauen kann und wer sie um jeden Preis aus dem Weg haben möchte.

Spannend wird das gut geschriebene und detailreich ausgeschmückte Buch durch die vielen Überraschungsmomente. Dass das letzte Rätsel von Tobias Hawthorne nicht einfach zu lösen sein wird, ist klar. Es sind so viele kleine Puzzleteile. Auch Familiengeheimnisse gibt es, die den Verlauf der Geschichte beeinflussen. Manches ist vorauszusehen, wieder anderes ist verblüffend. So auch die Auflösung des Rätsels. Oder ist es noch gar nicht das Ende? Einige Fragen sind noch offen. Man darf also gespannt sein auf die Fortsetzung.

Rezension von Heike Rau

Jennifer Lynn Barnes
The Inheritance Games, Band 1
Aus dem Amerikanischen von Ivana Marinovic
400 Seiten, broschiert
ab 14 Jahren
cbj München, Januar 2022
ISBN-10: 3570314324
ISBN-13: 978-3570314326
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