Éliette Abécassis: Mit uns wäre es anders gewesen

Éliette Abécassis: Mit uns wäre es anders gewesen

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Zwei junge Menschen, Amélie und Vincent, treffen sich an der Sorbonne, als sie sich für das nächste Semester einschreiben wollen. Später geht man als Grüppchen noch in ein Café.

Vincent und Amélie verplaudern die ganze Nacht, in der sie sich über ihre Herkunft, die Zukunftswünsche und ihre Träume unterhalten. Sie erfahren viel über sich aber nicht genug.

Bald ist klar, dass sie sich verliebt haben. Ein nächstes Treffen wird vereinbart. Und dann passiert eine Schicksalswende: sie verpassen sich!

Das Leben geht weiter. Im großen Abständen begegnen sie sich wieder. Sie hat innerlich an ihm festgehalten, während er inzwischen verheiratet ist und zwei Kinder hat. Auch Amélie findet einen Mann, von dem sie glaubt, er könnte der Richtige sein. Nach der Geburt ihrer Kinder aber tut sich eine Leere auf, die am Ende zur Scheidung führt. Bei den Kindern merken beide erst, wie sehr sie lieben können, während ihre Ehen im Alltag und in der Gleichgültigkeit versinken.

Die Jahre gehen ins Land. Nach dreißig Jahren und vielen Zwischenstationen auf ihren Lebenswegen begegnen sich die beiden wieder. Sie empfinden großes Glück miteinander!

Éliette Abécassis hat einen bezaubernden Roman geschrieben. Die Atmosphäre des Studentenlebens ist wunderbar eingefangen. Es ist das Glück des Neubeginns, der jugendlichen Freiheit und die Neugier auf das Leben, die uns die Autorin vermittelt.

Amélie ist die zarte, empfindsame und von Selbstzweifeln geplagte Frau, die sich nach dem großen Glück sehnt. Es hat lange gedauert, bis sie sich zu einer ersten Ehe entschlossen hatte.

Der Leser*in lässt sich vom Leben in der Pariser Gesellschaft beeindrucken und empfindet mit, wie locker und frei Begegnungen und Feiern ablaufen.

Das Entscheidende an dieser Erzählung aber ist die unterschwellige Spannung und der Charme, mit der die Liebe zwischen zwei Menschen bestehen bleibt und erst nach vielen Wirren, Enttäuschungen und zerplatzten Lebensträumen noch einmal neu aufflammt. Oder ist sie nie erloschen?

Ich war hingerissen, weil es den Leser zuerst in die Welt der Jugend mitnimmt und neben der Leichtigkeit die Tragik nie weit ist. Auch alles Folgende ist besonders reizvoll, weil eine immerwährende Sehnsucht nach der einen großen Liebe spürbar bleibt.

Menschwerdung und Menschsein zeigt sich facettenreich und getragen von Sehnsüchten, die dem Menschen eigen sind. Irrtümer können unerwartete Wendungen herbeiführen, und das Schicksal und der Zufall spielen mit. Verletzungen, die Partner sich zufügen können, werden ebenfalls in den Focus genommen.

Wer am Ende zu wem findet, und ob es das vollkommene Glück überhaupt gibt, das bleibt hier die Frage.

Auf jeden Fall ist die Geschichte lesenswert, weil sie mit der lockeren, flotten Erzählweise, die nicht der Tiefe entbehrt und uns keine schöne Welt vorgaukelt, besonders gut getroffen ist.

Das Büchlein liest sich leicht, ist spannend und anregend bis zur letzten Seite und verspricht anhaltendes Lesevergnügen.

Éliette Abécassis
Mit uns wäre es anders gewesen
144 Seiten, gebunden
Arche Literatur Verlag, Juli 2021
ISBN-10: 3716027979
ISBN-13: 978-3716027974
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Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September

Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September

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Angelika Klüssendorf erzählt uns in ihrem neuen Roman die Geschichte eines Dorfes und ihrer Bewohner in Ostdeutschland.

Hilde und Walter sind zwei nüchterne Menschen, denen man nicht glauben mag, dass sie ein Ehepaar sind. Sie sind muffelig und wenig freundlich miteinander. Walter neigt zu Wutausbrüchen, erniedrigt seine Frau und wütet gegen alle und jeden. Sie war zermürbt, weil sie sich von ihrem unfreundlichen und zornigen Mann nicht längst getrennt hat.

Als bei ihm ein Hirntumor festgestellt wird, ist er „nett“, was seine Frau irritiert. Er ist ihr einfach nicht mehr vertraut mit dieser sanften Freundlichkeit.
Nach kurzer Zeit bringt sie ihn zu Silvester um, indem sie seinen Schädel mit einer Axt spaltet.

So nüchtern wie das Paar im Umgang miteinander war, schreitet die Erzählung voran.
Es geht nicht etwa um Aufklärung des Mordes; nein, Walter erscheint als Berichterstatter aus dem Jenseits. Er trifft hier noch einige andere verstorbene Dorfbewohner, und gemeinsam beobachten sie aus ihrer Sicht, was sich in der dörflichen Gemeinschaft abspielt.

Jede Episode beginnt mit einem Namen als Überschrift, so dass man weiß, wer hier spricht.
Angelika Klüssendorf zeichnet auf diese Weise ein recht einfaches Leben der Dorfbewohner.
Da geht es um Begegnungen, das Äußere und um undifferenziert denkende und agierende Menschen. Es sind Alltäglichkeiten, die das Leben bestimmen.

Nur wenig Beschauliches gibt es zu berichten. Ein Junge verliert bei einem Unfall sein Bein; seine Mutter mag ihn nicht, und er mag sie nicht. Hilde, die einst Sprechstundenhilfe bei Dr. Kies war, hat ihm nach dem Unfall erste Hilfe geleistet. Als er sich bei ihr zunächst bedankt, folgt schon bald ein Fluch, weil man ihm den Unterschenkel amputiert hat.

Langsam reiht sich eine Episode an die nächste. Natürlich kennt man sich im Dorf. Jeder weiß etwas über den anderen. Es ist offensichtlich, dass es viel Gerede gibt, und dass es nicht fröhlich zugeht zwischen den Menschen. Zuerst bleibt man noch neugierig in der Erwartung eines vielleicht bedeutenderen Erlebnisses. Ab der Mitte des Buches stellt sich Ermüdung ein. Die gelegentlich witzige, zuweilen aber surreale Atmosphäre durch die Gespräche aus dem Jenseits vermag den Leser*in nicht wirklich zu fesseln.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter machen den Wechsel aus. Die kurzen Landschaftsbeschreibungen, ein Duft von Sonne und Gras, Kälte, Schnee, Sturm und Regen sind glanzvolle Höhepunkte der Erzählung.

Wäre man selbst Mitglied der Gemeinschaft, könnte man vielleicht Interesse an der einen oder anderen Person finden. So bleibt der Satz der Schriftstellerin, ebenfalls eine Dorfbewohnerin, zum Ende des Romans haften: „Das Leben ist nur eine Unterbrechung, ein kurzes Innehalten zwischen dem Nichts davor und dem Nichts danach.“ Das klingt ernüchternd und fast ein wenig depressiv, wenn es auch der Wahrheit nahekommt.

Angelika Klüssendorf ist eine renommierte deutsche Schriftstellerin. In einem FAS Artikel vom 12.09.2021 wird sie als eine von drei Schriftstellerinnen beschrieben, die sich dem Dorfleben in ihren Romanen verschrieben haben. Ist das eine neue Kategorie von Lebensbeschreibungen?
Wir werden sehen!

Angelika Klüssendorf
Vierunddreißigster September
Piper, 2. Auflage, September 2021
224 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3492059902
ISBN-13: 978-3492059909
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Annie Ernaux: Das Ereignis

Annie Ernaux: Das Ereignis

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Dramatische Erinnerungen einer klugen und reflektierten Frau.

Unbestechlich und noch nachträglich schwer betroffen beschreibt Annie Ernaux in ihrem neuen Buch ein Erlebnis, das sie als „Das Ereignis“ bezeichnet.

Als junge Studentin wurde sie ungewollt schwanger. Ihr war sogleich klar, dass sie das Kind nicht will. Es passte in keiner Weise in ihre damalige Lebensplanung. Sie möchte ihr Studium zum Abschluss bringen und als Lehrerin tätig werden. Schwer genug war ihr Weg bis hier her. Kamen doch ihre Eltern aus einfachsten Verhältnissen. Sie verließ aufgrund ihrer Begabung gerade dieses Milieu.

Realistisch bis zur Grausamkeit werden die Versuche beschrieben, die zum Gelingen einer Abtreibung führten. Damals hieß das noch so und stand unter Strafe. Heute nennt man es „Abbruch einer Schwangerschaft“, und es steht unter bestimmten Bedingungen, zu lesen im § 218 StGB, auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern nicht mehr unter Strafe.

„Das Ereignis“ versetzt Annie Ernaux zurück in eine Zeit, in der noch ganz andere soziale und kulturelle Bedingungen als heute das gesellschaftliche Leben bestimmten. Was damals als unmoralisch und kriminell angesehen wurde, das ist es heute offiziell nicht mehr.

Die Stärke der Autorin liegt in der Genauigkeit, mit der sie sich an ihre damaligen Empfindungen und teilweise als schmachvoll erlebten Behandlungen erinnert. Ob es der erste Arzt ist, den sie aufsucht, ob die sehr schwierige Suche nach einer so genannten „Engelmacherin“, die Kommentare und Reaktionen der wenigen Kommilitonen*innen, denen sie sich anvertraut: sie kann sich in die Zeit und an die damals herrschenden Gesetze für Anstand und Ordnung zurückversetzen und noch einmal bewusstmachen, wie diffamierend und beschämend alle diese Reaktionen für sie waren.

Auffallend war das Verhalten eines Arztes, der sich, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie Studentin ist, für sein grobes Verhalten während einer Operation schämte. Die besonders diskriminierenden Verhaltensweisen gegen Mädchen aus der Arbeiterschicht konnten so noch einmal verdeutlicht werden.

Insofern fällt die Erzählung in die Kategorie „soziologisches Aufklärungsbuch“. Anhand einzelner Stationen in ihrem Lebenslauf hat Annie Ernaux schon über ihre Kindheit, die Pubertät, erste sexuelle Erfahrungen, ihre Mutter und den Vater berichtet.

Die Schriften sind anklagend. Sie halten fest, wie qualvoll die Seele leidet, wenn Restriktionen und aufgesetzte soziale Regeln das Innere eines Menschen beschädigen.

Annie Ernaux selber bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“.

Es ist ihr mit diesem Roman wie in allen anderen Büchern gelungen, gesellschaftliche Missstände und krankmachende Ereignisse als Ursache für die Beeinträchtigung der „Ichwerdung“ auszumachen. Erschüttert und berührt erleben wir, wie Menschen unter den Zwängen einer strengen Erziehung und Umgebung während der Entwicklungsjahre zu leiden haben. Sie hat die bedrückenden Erfahrungen bewältigt, wenn ihr auch die fast protokollarischen Erinnerungen bleiben!

Inzwischen ist Annie Ernaux eine gefeierte und mit Preisen versehene Schriftstellerin in Frankreich.

Die Übersetzung von Sonja Finck wird ihrem Werk absolut gerecht.

Annie Ernaux
Das Ereignis
Suhrkamp Verlag, 12. September 2021
104 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3518225251
ISBN-13: 978-3518225257
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Hans-Ulrich Grimm: Dumm gegessen! – Wie uns die Nahrungsindustrie um den Verstand bringt

Hans-Ulrich Grimm: Dumm gegessen! – Wie uns die Nahrungsindustrie um den Verstand bringt

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Was wir essen, hat einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Das ist bekannt. Und trotzdem kommen täglich Fertiggerichte auf den Tisch. Isst ja jeder. Mag sein, dass die Verdauung mal nicht rund läuft oder die Figur darunter leidet. Hans-Ulrich Grimm zeigt aber auch, dass Intelligenz und Leistungsfähigkeit leiden und der IQ-Wert sinkt. Tatsächlich scheint es an der Ernährung zu liegen, dass das Gehirn schneller altert. Demenz kann die Folge sein. Doch auch wer vegan oder vegetarisch isst, lebt gefährlich, denn auch hier kommen viele verarbeitete Lebensmittel auf den Tisch, die vollgepackt sind mit fragwürdigen Zusatzstoffen. Was als besonders gesund gilt, muss es also noch lange nicht sein. Hans-Ulrich Grimm hat nachgeforscht. Wie immer sehr akribisch und unter Einbeziehung zahlreicher Studien, die kritisch gedreht und gewendet werden, sowie aufschlussreicher ärztlichen Meinungen.

Der Autor beschreibt sehr eindringlich, welche böse Folgen eine Ernährung mit Fast Food, Tiefkühlpizza und anderen industriell verarbeiteten Lebensmittel langfristig haben kann und warum. In die Mangel genommen werden in diesem Zusammenhang auch verschiedene Zusatzstoffe wie Glutamat oder Zitronensäure. Davon abgesehen können verarbeitetet Lebensmittel einen Nährstoffmangel verursachen, den auch Nahrungsergänzungsmittel nicht ausgleichen können. Schon im Kleinkindalter kann die Mangelernährung beginnen und sich mit ungeahnten Symptomen äußern.

Dummheit, schlechte Laune, Depressionen, Aggressivität; überall spielt die Ernährung hinein und kann ursächlich sein. Das Buch soll aufrütteln und tut es auch. Natürlich ist es viel Lesestoff. Und der Schreibstil passt nicht so ganz zur Ernsthaftigkeit des Themas, da auch auf einen gewissen Unterhaltungswert gesetzt wird. Aber alle wichtigen Tipps werden im letzten Kapitel noch einmal zusammengefasst. Hier geht es um eine Ernährung, die dem Körper und dem Geist zuträglich ist, ihm alle wichtigen Nährstoffe zukommen lässt und ihn vor Mangelernährung bewahrt. Wer seine Ernährung überdenkt und hirnfreundlich umstellt, kann davon profitieren.

Rezension von Heike Rau

Hans-Ulrich Grimm
Dumm gegessen! – Wie uns die Nahrungsindustrie um den Verstand bringt
288 Seiten, gebunden
‎Droemer HC, September 2021
ISBN-10: 3426277999
ISBN-13: ‎978-3426277997
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Louis Begley: Hugo Gardners neues Leben

Louis Begley: Hugo Gardners neues Leben

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Der neue Roman von Louis Begley führt uns wieder einmal an die Ostküste Amerikas, vornehmlich nach New York und zu den Hamptons. Letztere bieten Erholung und reizvolle Landschaften und Ortschaften, in denen man ein komfortables Leben in den Ferien oder im Alter führen kann. Louis Begley selbst gehört zu den Ostküstenbewohnern, die gebildet und wohlhabend sind. Das war nicht immer so, wie man in seinem ersten Roman “Lügen in Zeiten des Krieges“ nachlesen kann, in dem er autobiographisch seine Flucht als Jude vor den Nazis beschreibt.

Worum geht es hier?

Ein alternder ehemaliger Zeitungskorrespondent und Chefredakteur, der Titelheld Hugo Gardner, erfährt auf wirklich ungewöhnliche Weise von den Scheidungsabsichten seiner Frau. Deren Anwalt wünscht auf Geheiß seiner Mandantin Valerie Gardner Kontakt zu Hugos Anwalt. Hugo ist vollkommen ahnungslos über diese plötzliche Wendung in seiner Ehe. Nach seinem Eindruck führten er und seine Frau seit vierzig Jahren eine gute Ehe. Er ist allerdings zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, schon 84 und seine Frau 61 Jahre alt.
Recht lakonisch und genügsam willigt Hugo in die Scheidung ein.

Louis Begley hat die ungewöhnliche Gabe, seinen Figuren Leben einzuhauchen, ohne sie in ihrem Tun und Lassen etwa dramatisierend darzustellen. So lässt sich Hugo auf alles ein und versucht auf seine Weise, sein Leben neu zu formen. Dabei tauchen Freunde und Kollegen auf, er erhält Einladungen, denen er mehr oder weniger gerne Folge leistet. Das Gesellschaftsleben der Ostküstenbewohner mit ihren Allüren wird anschaulich vermittelt. Die Beschreibung der Mentalität seiner Freunde ist leicht ironisch bis mokant. Seine eigenen Kinder sieht er mit großer Distanz und stiller Ironie. Sie kommen immer nur, wenn sie Geld brauchen, das er ihnen großzügig gewährt. Von ihnen erbittet er Auskunft über die Gründe für den Scheidungswunsch seiner Frau, denn er kann ihn sich lange nicht erklären. Seine Tochter ist ruppig und sehr direkt. Sie spiegelt ein abscheuliches Bild seiner selbst: er sei alt, hässlich und langweilig.
Während Hugo erfolgreich und einflussreich war und noch ist, bleibt sein Sohn als Anwalt beruflich im Mittelmaß stecken.

Die Geschichte ist wie so oft bei Louis Begley voller Ironie und Melancholie. Ein alternder Beau begibt sich auf Spuren in die Vergangenheit. Er begegnet Alters- und Studiengenossen, Weggefährten und vor allem längst vergangenen Liebesaffären. Als ehemaliger Chefredakteur und Korrespondent einer angesehenen New Yorker Zeitung pflegt er vorzügliche Verbindungen in alle Welt. Paris, Wien oder die Schweiz waren seine bevorzugten Wirkungsstätten.

Hugo kennt sich aus im guten Leben: er liebt Essen, ausgewählte Weine und harte Drinks, vornehme Wohnsitze und ja, auch in seinem Aller noch, ausgedehnten Sex.

Begleys Held beschäftigt sich auf der Reise in die Vergangenheit u.a. mit den letzten Dingen; sie klingen nüchtern, realistisch und bei allem genussvollen Dasein ein wenig traurig. Einsamkeit ist der Schlüssel für dieses Alterswerk des großen Erzählers.

Man liest den Roman schnell, interessiert und neugierig. Einmal mehr erfahren wir, wie Leben verläuft: Aufbruch, Erfüllung in Beruf und Familie, Zweifel am großen Glück, Frustrationen und zuletzt Hinnahme dessen, was nicht zu ändern ist.

Der eindrückliche Roman unterhält bestens, und ich kann ihn sehr empfehlen.

Louis Begley
Hugo Gardners neues Leben
235 Seiten, gebunden
Suhrkamp Verlag, 18. Juli 2021
ISBN-10: 3518429841
ISBN-13: 978-3518429846
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Elias Hirschl: Salonfähig

Elias Hirschl: Salonfähig

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Julius Varga ist sein Idol. Das Aussehen und Auftreten des Parteichefs scheinen ihm perfekt, die Ausstrahlung charismatisch. Zum Bundeskanzlerkandidaten hat er es gebracht. Er ahnt nicht, dass es eine Kopie von ihm gibt. Eine schlechte. Aber dieser Mann übt stundenlang, so zu wirken wie Julius Varga. Er imitiert seine Haltung, seinen Gesichtsausdruck, seine Art zu gehen. Und selbstverständlich hat er seine Gesten und auch seinen Sprachstil drauf. Nur seine politische Haltung nicht. Da ist er wie eine Fahne im Wind und seine Antworten, falls er denn mal gefragt wird, entnimmt er seinem Fundus an nichtssagenden Phrasen. Alles was zählt, ist der äußere Schein, den es zu verinnerlichen gilt. So viel hat dieser Doppelgänger verstanden.

Nur seine Freundin Moni will sich nicht überzeugen lassen. Als Testperson, sein authentisches Auftreten betreffend, ist sie nicht die beste Wahl. Doch wie soll jemand besser werden, der schon perfekt ist oder sich vielmehr dafür hält? Und doch ist auch dieser Nachahmer auf dem politischen Parkett zu Hause, auch wenn seine Funktion in der Jugendorganisation nicht klar ist und eher überflüssig erscheint. Er hat keinen Einfluss auf nichts. Was er sagt, wird nicht beachtet und verschwindet einfach. Seine schön formulierten und mit perfekten Gesten untermalten Reden klingen schlau, sind aber inhaltslos. Es ist die fehlende Anerkennung, die den Doppelgänger weiter in den Wahn treibt.

Elias Hirschl zeigt ein satirisches Bild einer Person auf, die sich in der Politik und im Persönlichen völlig verrannt hat. Er gesteht dieser Person keinen einzigen Sympathiepunkt zu. Vielmehr wird die Situation immer schlimmer, subtiler und weniger tragbar. Dadurch spitzen sich die Geschehnisse gefährlich zu. Der Protagonist ist ein Spiegel, dessen blinde Flecken und Schlieren immer mehr verschwinden. Der Wahn kennt keine Grenzen, zumal sich die Wahrheit mit abgrundtiefer Fantasie und mit Albträumen vermischt.

Das Buch ist einfach nur gruselig, auch wenn es Szenen gibt, die grotesk und aberwitzig sind. Es ist die Art, wie der Autor die Handlung vorantreibt, die wirklich erschreckt. Aber das Buch hat ja auch einen aufdeckenden und entlarvenden Charakter, Politik und Politiker betreffend. Und da hört der Spaß ja nun wirklich irgendwo auf. Aber in dieser Satire gibt es keine Grenzen, und so kann der Autor kaum deutlicher darstellen, was er sagen möchte. Es ist eine interessante Art, Kritik zu verpacken. Die Wirkung ist jedoch nicht ganz so durchschlagend.

Rezension von Heike Rau

Elias Hirschl
Salonfähig
256 Seiten, gebunden
‎Paul Zsolnay Verlag, August 2021
ISBN-10: 3552072489
ISBN-13: 978-3552072480
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Dr. med. Marianne Koch: Alt werde ich später

Dr. med. Marianne Koch: Alt werde ich später

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Wer möchte nicht geistig und körperlich fit bleiben bis ins hohe Alter? Dr. Marianne Koch hat deshalb in diesem Buch zusammengetragen, wie das gelingen kann. Sie bringt dabei neueste wissenschaftliche Fakten und ihre eigene Lebenserfahrung mit ein.

Das Buch wirkt sehr aufgeräumt, sodass man nie den Überblick verliert. In acht Kapiteln schreibt die Autorin über den Wandel des Älterwerdens, warum wir überhaupt altern und warum Anti-Aging-Mittel dagegen nicht helfen.

Vielmehr ist es unsere Lebenseinstellung, die uns helfen kann. Deshalb ist ein ganzes Kapitel dem Selbstbewusstsein gewidmet. Denn wenn Unzufriedenheit das Leben bestimmt, ist es sinnvoll, mutig zu sein und neue Wege zu gehen. Manchmal reichen hier schon kleine Veränderungen aus. Außerdem geht es um Achtsamkeit und darum, wie wichtig es ist, sich selbst zu mögen.

Wer auch im Alter fit sein will, muss beginnen, sich aktiv um seine Gesundheit kümmern. Gesunde Ernährung und Sport sind wichtige Bausteine. Die Autorin zeigt auf, wie sich viele Krankheiten mit einer ausgewogenen Ernährung und ausreichend Bewegung verhindern oder aufhalten lassen. Mit wenigen Worten ist hier alles gesagt. Es kann so einfach sein.

Auch geistige Fitness ist wichtig. Die grauen Zellen brauchen Anregung. Und hier ist beim Kreuzworträtseln noch lange nicht Schluss. Neue Interessengebiete zu entdecken, kann sehr viel Spaß machen. Und wer dabei mit anderen Menschen in Kontakt kommt, tut gleich etwas gegen die Einsamkeit, die Dr. Marianne Koch als eine Alterskrankheit sieht.

Viele Ratschläge sind nicht unbedingt neu. Aber die Art, wie die Autorin, die bereits ihren 90. Geburtstag gefeiert hat, Ihre Tipps und Erklärungen verpackt hat, gefallen gut. Es fließt sehr viel Persönliches mit ein. Wer bisher alles richtig gemacht hat, wird sich in seinen Bemühungen bestätigt fühlen. Wer darüber nachdenkt, sein Leben zu ändern, und nicht so recht weiß wie, wird motiviert. Dr. Marianne Koch tritt in einen direkten Kontakt mit ihren Lesern, in dem sie möglich Fragen aufgreift und beantwortet.

Rezension von Heike Rau

Dr. med. Marianne Koch
Alt werde ich später
Neue Wege, um geistig und körperlich fit zu bleiben
160 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, August 2021
ISBN-10: ‏3423282983
ISBN-13: 978-3423282987
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Alex Schulman: Die Überlebenden

Alex Schulman: Die Überlebenden

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Drei erwachsen gewordene Brüder begegnen sich nach zwanzig Jahren im Sommerhaus der Eltern, um die Asche der Mutter zu verstreuen. Es ist ein altes Haus, morsch z.T., in einer idyllisch gelegenen Gegend an einem See nicht weit von Stockholm entfernt. In wechselnden Szenen erlebt man die Geschwister einmal in ihrer Kindheit und dann wieder im Heute mit der Urne der Mutter.

Der Autor Alex Schulmann malt ein düsteres Bild sowohl von heute als auch von damals.
Die Atmosphäre ist beklemmend. Die Eltern sitzen und trinken, sie trinken sehr viel, sie essen und schlafen.
Dazwischen wechseln die Brüder vom Spielen oder Schwimmen in die Nähe der Eltern oder in den nahegelegenen Wald.

Ganz unmerklich schälen sich die Charaktere heraus.
Nils ist der Älteste. Er ist klug und steht innerlich und äußerlich oft abseits.
Benjamin ist 9 und Pierre 7 Jahre alt.
Benjamin scheint sensibel und still beobachtend. Man ahnt, wie intensiv er Stimmungen und laute Unstimmigkeiten registriert. Aus seinen Beobachtungen wird die Erzählung gespeist.
Pierre wirkt in der Darstellung ängstlich, klein und eher verzagt.
Glücklich wirkt die Kindheit dieser drei Brüder nicht.
Man spürt, dass in diesem Elternhaus vieles ungesagt bleibt und ein eisernes Schweigen herrscht.
Benjamin, der Sensible, neigt zu Vorstellungen, in denen er die Wirklichkeit nicht mit der Einbildung vereinbaren kann.

Man erfährt nichts über den Alltag der einzelnen Familienmitglieder und von ihrem Leben in Stockholm. An einer Stelle wird vermerkt, dass die Kinder in einem „Oberklassenhaushalt“ aufgewachsen sind. Dass sie am Rande des Existenzminimums lebten, an einer anderen. Für die akademische Ausbildung scheint kein großer Aufwand getrieben worden zu sein. Der Leser*in merkt, dass über der Familie ein unbekanntes Unheil schwelt.

Alex Schulman konstruiert seine Geschichte so ausgefeilt, dass eine schwer zu ertragende Spannung entsteht. Warum machen die Eltern einen recht verwahrlosten Eindruck? Welche Dynamik besteht zwischen der äußeren Lebensform und der inneren seelischen Unausgeglichenheit?

Langsam und unmerklich nähert man sich einem Ereignis, dass ungeahnte Folgen für alle hatte. Alex Schulman hält uns ganz lange im Ungewissen, bis wir uns dem eigentlichen tragischen Geschehen nähern.

Es handelt sich in diesem Roman um die Sozialstudie einer Familie, deren Regeln ungeordnet und fahrlässig von den Eltern bestimmt werden, und die die Kinder in Einsamkeit und Verlustgefühle treiben. Angst und Unbehagen ist aus allen Handlungen zu spüren immer im Wechsel mit dem Bemühen, Liebe und Zuwendung von den Eltern zu erfahren.

Der Stil der Erzählung schwankt zwischen fast protokollartigen Berichten bis zu unregelmäßigen Gefühlsausbrüchen der Mutter und unverhofft auftretenden Wutausbrüchen des Vaters. Ein jeder lässt hier jeden allein.
Zusammenhalt zwischen den Brüdern gibt es, wenn dieser auch zerbrechlich ist.
Am Ende sind sie im Unglück vereint.

Die raue Natur, die Schönheit der Bäume, Pflanzen und der See bilden einen wunderbaren Hintergrund zu dem Familiendrama. Es ist ein lesenswerter Roman, voller Tiefe und intensiver Innenbetrachtung eines zerrütteten Familienlebens mit einem überraschenden Ende.

Alex Schulman
Die Überlenden
dtv Verlagsgesellschaft, August 2021
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423282932
ISBN-13: 978-3423282932
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Anne von Canal und Heikko Deutschmann: I get a bird

Anne von Canal und Heikko Deutschmann: I get a bird

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Da schreiben sich zwei, die sich nicht kennen, nur weil der eine etwas vom anderen gefunden hat. Johan hat Jana einen Kalender zurückgeschickt, den sie vor langer Zeit in einer Telefonzelle vergessen hat. Hier in der Wendeschleife hat der Busfahrer wochenlang vergeblich versucht, einen Anruf zu tätigen.
Jana hat den Planer sehr vermisst. Eine äußerst wichtige Telefonnummer war ihr mit dem Verlust abhandengekommen. Doch auch sie erreicht nun niemanden mehr.

Jana schreibt zurück, und es entwickelt sich eine Korrespondenz, die bald an Tiefe gewinnt, obwohl die beiden sich fremd sind. Beide hat das Schicksal aus der Bahn geworfen. Und so ist der Austausch willkommen, denn vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit, Klarheit in die Gedanken zu bringen. Das Schreiben hat sozusagen eine therapeutische Wirkung, wobei keiner wissen kann, in welche Richtung es geht. Es scheint einfacher zu sein, einem Fremden gegenüber offen zu sein, sich frustriert zu geben oder Entscheidungen zu hinterfragen und mögliche Fehler einzuräumen.

Der Busfahrer und die Zukunftsforscherin, die ihren Lebensunterhalt als Kurierfahrerin bestreitet, müssen ihr Leben neu ordnen und einen Weg finden, mit den Gegebenheiten zurechtzukommen. Es könnte so einfach sein und ist doch so schwierig. Schließlich finden die beiden eine Parallele in ihrem Leben, die in der jetzigen Situation weiterhelfen könnte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer entwickelt sich. Es ist eine Anregung, die darüber entscheiden könnte, ob die persönlichen Dinge sich klären lassen oder ob man sie nehmen kann, wie sie sind, sodass ein Leben ohne ständige Ängste und Zweifel möglich wäre.

Der Gedankenaustausch ist fiktiv. Anne von Canal und Heikko Deutschmann sind in die Rollen von Jana und Johan geschlüpft. Sie haben sich geschrieben, ohne etwas abzusprechen. Die beiden Autoren zeigen mit dem Schriftwechsel, wie erdrückend Lebensumstände sein können und wie schwer, die Vergangenheit aufzuarbeiten, die Last abzuwerfen und sich selbst verzeihen zu können.

Schon seltsam, welche Ideen sich bei diesem Schriftwechsel der beiden Autoren ergeben haben. Wie der Ball zugeworfen und aufgefangen wird oder eben nicht. Um das Buch spannend zu halten, müssen ja immer wieder neue Aspekte eingearbeitet werden. Und die Figuren müssen sich weiterentwickeln, womit sich diese allerdings schwertun. Und das Ende des Buches ist eher ein neuer Anfang, wenn es der Leser möchte …

Rezension von Heike Rau

Anne von Canal und Heikko Deutschmann
I get a bird
272 Seiten, gebunden
mareverlag, August 2021
ISBN-10:‎ 3866486820
ISBN-13: 978-3866486829
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Mina Teichert: Mein unverhoffter Pferdesommer

Mina Teichert: Mein unverhoffter Pferdesommer

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Wie bekommt man einen großen Hannoveraner Wallach in einem Neubaugebiet unter? Das muss sich die 14-jährige Milli fragen. Sie hat das Pferd von ihrer Tante geerbt. Kurzerhand wird es in der Garage geparkt. Milli hat keine Ahnung von Pferden. Aber was hilft es, jetzt muss sich um das Tier kümmern, bis ein Stall gefunden ist.

In der Kiste mit dem Pferdezubehör entdeckt Milli ein Tagebuch und erfährt, dass sie es mit einem ehemaligen Polizeipferd zu tun hat. Kein Wunder also, dass Jupiter so erstaunlich souverän mit der Situation umgeht. Dennoch ist sie froh, auf die Unterstützung ihrer Eltern und ihrer Freundin Anouk zählen zu können, die sich sofort für das Pferd begeistert. Denn schließlich muss Milli sich auch noch um ihren Mops Hugo kümmern. Und ihr Balletttraining darf sie ebenfalls nicht vernachlässigen.

Was für eine schöne Geschichte! Es ist sehr spannend zu verfolgen, wie Milli und Jupiter Freunde werden. Ganz selbstverständlich lässt sich das Pferd integrieren. Zum Glück haben Milli und Anouk viel Zeit, denn es sind gerade Ferien. Klar, dass die beiden sich den einen oder anderen Fehler im Umgang mit dem Pferd leisten. Aber sie versuchen dennoch, seine Reaktionen einzuschätzen und seine lebhafte Mimik zu verstehen. Diese Szenen werden auf eine ausgesprochen fantasievolle und witzige Art beschrieben. Das Pferd ist einfach bezaubernd.

Natürlich gibt es auch noch eine tiefergehende Geschichte, in der es um Jupiters Vergangenheit als Polizeipferd geht. Und hier entwickelt sich fast ein Krimi, bei dem eine weitere Person die Bühne betritt. Silas ist merkwürdigerweise immer zur Stelle, wenn Milla nicht mehr weiterweiß oder wenn sie sich und das Pferd in eine schwierige Lage manövriert hat. Stets handelt er überlegt und durchdacht, ganz im Gegensatz zu Milli. Aber genau das gefällt ihr an ihm.

Der Pferderoman ist sehr unterhaltsam und super flüssig zu lesen. Er ist perfekt für das Lesealter konzipiert. Es fließt viel aus Millas Leben mit ein, sodass man sie gut kennenlernen kann. Das erhöht die Spannung, die bis zum überraschenden Ende anhält.

Rezension von Heike Rau

Mina Teichert
Mein unverhoffter Pferdesommer
256 Seiten, gebunden
ab 10 Jahre
Ueberreuter Verlag, August 2021
ISBN-10: 3764152141
ISBN-13: 978-3764152147
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