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Schlagwort: Marie Hermanson

Muschelstrand

Muschelstrand

Das Leben ist eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst, eine Spurensuche und ein Prozess der Selbstfindung.

In diesem Sinn kann Maja als Teil der Persönlichkeit der Ich-Erzählerin Ulrika betrachtet werden. Sie ist deren alter ego. Ebenso wie sie als Projektionsfläch von verdrängtem Schmerz der Eltern fungiert. Maja, das „schwarze“ Mädchen aus Indien, gibt somit die dunklen, die verborgenen und unterbewußten Seiten in uns bzw. Ulrika wieder.

Sie nimmt als Adoptivkind die Position in der Familie Gattman ein, die Ulrika gerne besetzen würde. Anne-Marie, Ulrikas beste „Sommerfreundin“, die honiggleiche, unbeschwerte und umschwärmte Anne-Marie, ist die einzige Person, mit der Maja von sich aus Kontakt sucht. Während Maja den Umarmungen und Zärtlichkeiten der Adoptivmutter gleichgültig gegenübersteht, verfolgt sie Anne-Marie auf Schritt und Tritt. So wie auch Ulrika gerne so wäre wie Anne-Marie und jeweils sehnsüchtig den nächsten Sommer herbeisehnt, engeren Briefkontakt während des Winters und etwas mehr Aufmerksamkeit im Sommer wünscht. Sie bedrängt Anne-Marie durch ihre vergleichenden Blicke, durch Bemerkungen wie „Wie ich wohl mit (deinen) blonden Haaren aussähe?“ auf eine psychische Art ebenso wie Maja Anne-Marie physisch verfolgt.

Ausgerechnet am skandinavischen Mittsommerabend – heidnischen Ursprungs und mythisch behaftet aufgrund der sehr speziellen Lichtverhältnisse des skandinavischen Sommers – verschwindet Maja spurlos – nachdem Ulrika nicht nur von Anne-Marie, sondern auch von den übrigen Leuten, die auf der Insel Mittsommer feiern, Ablehnung erfahren hat. Anne-Marie nimmt sie kaum noch wahr, umschwärmt von anderen. Also zieht Ulrika sich schließlich zurück. Auf der psychoanalytischen Seite wird dies wiedergegeben durch das Verschwinden von Maja, das eine Katastrophe auslöst und eine ganze – nur scheinbar intakte Familie – zerstört. Anne-Marie wird von ihrem schlechten Gewissen geplagt, läßt aber in dieser psychischen Notsituation endlich die von Ulrika ersehnte Nähe zu.

Bei den Eltern bricht ein Konflikt auf, der nie verarbeitet, nur verdrängt worden war: die Freigabe ihres ersten Kindes – Lena- zur Adoption, weil es missgebildet o.ä. war. Insofern war schon die Adoption Majas der Versuch einer Wiedergutmachung an Lena. Kinder aber können nie die Fehler der Eltern wiedergutmachen und so ist das Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Die Gattmans – Journalisten! – sind unfähig über ihre Gefühle zu sprechen. D.h. sie sind unfähig, diesen Konflikt nun endlich zu verbalisieren und somit zu verarbeiten.

Die Ehe scheitert, der Vater wird Alkoholiker und endet als Obdachloser auf der Straße, bevor er schließlich stirbt. Bei ihm findet man Textfragmente, Versuche, das „Abschieben“ Lenas doch noch in Worte zu fassen und den Schmerz, die Trauer zu verarbeiten.

Karen Gattman dagegen geht bis an ihre physische und psychische Belastbarkeit, um Maja aus ihrem isolierten Zustand – es wird schließlich Autismus diagnostiziert – zu holen und ruiniert sich schließlich auch finanziell nahezu. Auch dies ein vergeblicher Versuch der Wiedergutmachung, das Geschehene ungeschehen zu machen und stellt zudem eine Art Buße dar. Ruhe findet sie jedoch erst in der Abgeschiedenheit eines Klosters auf Öland. Erst hier ist für Karen Gattman der Prozess der Katharsis abgeschlossen, wenngleich sie sich mit dem Gedanken tröstet, dass Maja bei Lena war und ihr einen Gruß von dort – eine weiße Daunenfeder, Zeichen der Vergebung – mitgebracht hat.
Anne-Marie schließlich tritt die Flucht an, reist nach Amerika und bleibt auch dort.

Ulrika begibt sich im Erwachsenenalter wieder zum Muschelstrand, um die Geschichte erneut aufzunehmen, um Spurensuche in der Vergangenheit zu betreiben – instinktiv, impulsiv, unbewußt, denn dass sie mit ihren Kindern zum Angeln will, ist nur ein Vorwand. Dieses Kapitel in ihrem Leben ist offensichtlich noch nicht abgeschlossen. Um aber ihren Kindern und sich selbst eine Zukunft geben zu können, muss sie der Sache auf den Grund gehen. Erst das Foto von Anne-Marie, das ihr Anne-Maries Bruder Jens zeigt, befreit Ulrika vielleicht vollständig von ihrem „Idol“ Anne-Marie, denn die goldene, honiggleiche Anne-Marie existiert nicht mehr, ist vielmehr zum fettleibigen Monster mutiert.

Auch die erneute Begegnung – Konfrontation – Ulrikas mit Maja, die nun in einer betreuten Wohngruppe lebt, ist in diesem Zusammenhang als Befreiung von alten Wünschen und Projektionen zu sehen, um diese endgültig zu überwinden.

Vielleicht kann sie sich erst jetzt als Kind ihrer Eltern fühlen, denn der sehnliche Wunsch zu den Gattmans zu gehören, resultierte auch aus dem Gefühl, am falschen Platz zu sein, d.h. die „falschen“ Eltern zu haben. Am Ende kehrt Ulrika befreit, gelöst und zufriedener nach Hause zurück – im konkreten wie im metaphorischen Sinn.

Bleibt der „Schatten“ Kristina. Kristina, selbst psychisch labil und krank, wird für Maja zum Kristallisationspunkt. Beide verstehen sich auf anhieb. Sie sprechen dieselbe Sprache, eine Sprache ohne Worte, aber eine von Symbolen durchsetzte Sprache mit leicht morbidem Charakter. Für Maja hat diese Welt offensichtlich nichts beängstigendes, ist Zufluchtsort, an dem sie so sein kann, wie sie ist. Hier wird sie ohne wenn und aber so angenommen, wie sie ist. Vielleicht ist auch Kristina ein Teil der Persönlichkeit Ulrikas? Muss Maja dorthin verschwinden, damit Ulrika endlich die von ihr ersehnte Anerkennung und Aufmerksamkeit von Anne-Marie erhalten kann?

Gleichzeitig zerbricht die Familie Gattman schlagartig. Der Familienzusammenhalt – offenbar nur sehr oberflächlich – hält ausgerechnet einer Krisensituation nicht stand. Alle Familienmitglieder ziehen sich mehr oder weniger in sich selbst zurück, v.a. die Eltern – jeder für sich. Bei den Kindern bilden sich Gruppen: Anne-Marie, Ulrika und Jens. Eva, zurückgekehrt aus dem Kibbuz, versucht vergeblich, die Lethargie zu durchbrechen.
Maja taucht erst wieder auf, als das Ende der Sommerferien naht und Ulrika ohnehin die Gattmans verlassen muss. Ein früherer Versuch, Ulrika nach Hause zu holen scheitert. Sie will nicht, v.a. aber Anne-Marie bittet sie, zu bleiben.

Nun aber, da Ulrika definitiv abreisen muss, kann auch Maja wieder auf den Plan treten. Zurück bleibt eine zerstörte Familie, aber Ulrika gelingt es nun, den ersten Schritt in Richtung Abnabelung von Anne-Marie und ihren Projektionen auf Anne-Marie zu nehmen. Sie kommt aufs Gymnasium und kann erstmals Freundschaften knüpfen. Sie denkt nicht mehr ständig an Anne-Marie (auch wenn sie sie nie ganz vergessen hat; daher die Reise zurück in die Vergangenheit, zurück zum Muschelstrand) und kann ihren eigenen Weg gehen.

Maja konfrontiert alle in der Familie mit ihren dunklen Seiten, mit dem, was verdrängt, aber nie verarbeitet worden ist. Lenas Abschiebung steht all die Jahre unausgesprochen zwischen den Eltern. Wer aber hat sich „schuldiger“ gemacht? Der Mann, weil er seine Frau zur Adoptionsfreigabe überredet, fast gezwungen hat, oder die Frau, weil sie nicht stark genug war, dem zu widerstehen?

Karen erleidet einen Nervenzusammenbruch, der sich zunächst nicht destruktiv gegen sie selber richtet, sondern Ausdruck findet in der Zerstörung fremden Eigentums: sie zerreißt das Kopfkissen und heraus fallen die Federn, die weißen Daunen. – Das ist natürlich auch dramaturgisch notwendig, da nur so Maja mit der weißen Daunenfeder im Haar nach Hause kehren kann und weil Karen nur so Majas Verschwinden und Wiederauftauchen als ein „Besuch“ bei Lena interpretieren kann.
Parallel dazu spielt sich Ulrikas Erwachsenenleben als Ethnologin ab. Diese Berufswahl ist sicherlich nicht zufällig gewählt, wenngleich auch dies möglicherweise einen unbewußten Reflex darstellt.

Bezeichnenderweise aber beschäftigt sich Ulrika als Ethnologin mit den Bergmythen, die davon erzählen, wie Menschen – zumeist Kinder – von Trollen -auf die andere Seite, ins Trollreich, geholt werden. In einer Geschichte, die Ulrika erzählt, ist es so, dass der Mutter das Menschenkind genommen wird, ihr aber dafür das Trollkind in die Wiege gelegt wird. Alles, was die Mutter dem Trollkind -antut – Gutes wie Schlechtes – widerfährt spiegelbildlich dem Menschenkind im Trollreich genauso. Vor diesem Hintergrund ist Karens Interpretation des Verschwindens von Maja zu sehen.

Hinzu kommt, dass Ulrika selbst eine psychoanalytische Deutung dieser Bergmythen gibt. Diese Geschichten sind -uralt und stammen aus einer Zeit, in der die Menschen v.a. noch als Bauern tätig waren (Agrargesellschaft), hart arbeiteten und häufig viele Kinder hatten (keine Verhütung). War die Mutter also damit beschäftigt, vor Sonnenuntergang noch so viel Beeren und Pilze zu sammeln, um alle Mäuler satt zu bekommen, kann sich ein Kleinkind schnell unbemerkt davon machen. Die Erklärung, dass Trolle das Kind entführt hätten, ist für die Familie – v.a. für die Mutter – leichter zu ertragen als die Einsicht, die Aufsichtspflicht verletzt zu haben und das Kind im Wald, frierend und hungernd, herum irren und sterben zu -sehen (vorm geistigen Auge).

Marie Hermanson
Muschelstrand
Ich möchte euch heute ein Buch einer schwedischen Autorin vorstellen, das für mich persönlich zu den besten gehört, die ich je gelesen habe.
ISBN:3518411829
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