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Schlagwort: Aufregung

Annie Ernaux: Das Ereignis

Annie Ernaux: Das Ereignis

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Dramatische Erinnerungen einer klugen und reflektierten Frau.

Unbestechlich und noch nachträglich schwer betroffen beschreibt Annie Ernaux in ihrem neuen Buch ein Erlebnis, das sie als „Das Ereignis“ bezeichnet.

Als junge Studentin wurde sie ungewollt schwanger. Ihr war sogleich klar, dass sie das Kind nicht will. Es passte in keiner Weise in ihre damalige Lebensplanung. Sie möchte ihr Studium zum Abschluss bringen und als Lehrerin tätig werden. Schwer genug war ihr Weg bis hier her. Kamen doch ihre Eltern aus einfachsten Verhältnissen. Sie verließ aufgrund ihrer Begabung gerade dieses Milieu.

Realistisch bis zur Grausamkeit werden die Versuche beschrieben, die zum Gelingen einer Abtreibung führten. Damals hieß das noch so und stand unter Strafe. Heute nennt man es „Abbruch einer Schwangerschaft“, und es steht unter bestimmten Bedingungen, zu lesen im § 218 StGB, auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern nicht mehr unter Strafe.

„Das Ereignis“ versetzt Annie Ernaux zurück in eine Zeit, in der noch ganz andere soziale und kulturelle Bedingungen als heute das gesellschaftliche Leben bestimmten. Was damals als unmoralisch und kriminell angesehen wurde, das ist es heute offiziell nicht mehr.

Die Stärke der Autorin liegt in der Genauigkeit, mit der sie sich an ihre damaligen Empfindungen und teilweise als schmachvoll erlebten Behandlungen erinnert. Ob es der erste Arzt ist, den sie aufsucht, ob die sehr schwierige Suche nach einer so genannten „Engelmacherin“, die Kommentare und Reaktionen der wenigen Kommilitonen*innen, denen sie sich anvertraut: sie kann sich in die Zeit und an die damals herrschenden Gesetze für Anstand und Ordnung zurückversetzen und noch einmal bewusstmachen, wie diffamierend und beschämend alle diese Reaktionen für sie waren.

Auffallend war das Verhalten eines Arztes, der sich, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie Studentin ist, für sein grobes Verhalten während einer Operation schämte. Die besonders diskriminierenden Verhaltensweisen gegen Mädchen aus der Arbeiterschicht konnten so noch einmal verdeutlicht werden.

Insofern fällt die Erzählung in die Kategorie „soziologisches Aufklärungsbuch“. Anhand einzelner Stationen in ihrem Lebenslauf hat Annie Ernaux schon über ihre Kindheit, die Pubertät, erste sexuelle Erfahrungen, ihre Mutter und den Vater berichtet.

Die Schriften sind anklagend. Sie halten fest, wie qualvoll die Seele leidet, wenn Restriktionen und aufgesetzte soziale Regeln das Innere eines Menschen beschädigen.

Annie Ernaux selber bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“.

Es ist ihr mit diesem Roman wie in allen anderen Büchern gelungen, gesellschaftliche Missstände und krankmachende Ereignisse als Ursache für die Beeinträchtigung der „Ichwerdung“ auszumachen. Erschüttert und berührt erleben wir, wie Menschen unter den Zwängen einer strengen Erziehung und Umgebung während der Entwicklungsjahre zu leiden haben. Sie hat die bedrückenden Erfahrungen bewältigt, wenn ihr auch die fast protokollarischen Erinnerungen bleiben!

Inzwischen ist Annie Ernaux eine gefeierte und mit Preisen versehene Schriftstellerin in Frankreich.

Die Übersetzung von Sonja Finck wird ihrem Werk absolut gerecht.

Annie Ernaux
Das Ereignis
Suhrkamp Verlag, 12. September 2021
104 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3518225251
ISBN-13: 978-3518225257
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Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht

Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht

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Ein unheimlicher Mann hat einen kleinen Jungen an einem schönen Sommertag mit einem Teddy aus einer Versammlung freundlicher Flohmarktverkäufer weggelockt und in sein Auto verschleppt. So beginnt der Roman von Jan Costin Wagner. Er mündet in eine psychologisch profunde Studie.

Wie geht es weiter?

In Wiesbaden findet im Hof einer Schule ein Flohmarkt statt. Lange Tische und zahlreiche Menschen bevölkern den Platz im hellen Sommersonnenschein.
Die Mutter des kleinen Jungen war nur einen Moment weg. Zuerst langsam, dann immer aufgeregter suchen Mutter, Schwester und Bekannte nach Jannis.
Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Ein großer Teddy ist zurückgeblieben. Er gehörte nicht ihm. Er wurde jedoch mit einem gleichgearteten Teddy weggelockt.

Schließlich wird die Polizei eingeschaltet.
Die zwei Hauptermittler Ben und Christian machen sich auf die Suche. Man recherchiert, wälzt Akten und sucht nach gleich gearteten Fällen und wird tatsächlich fündig.

Vor Jahren schon wurde auf gleiche Weise ein Söhnchen griechischer Einwanderer entführt und nie mehr aufgefunden.
Bemerkenswert sind von nun an die Assoziationen und Gedanken der beiden eingeschalteten Kommissare, wie sie uns Jan Costin Wagner nahebringt.
Sie bewegen sich zuweilen wie im Traum und sehen die Szenen der Entführungen vor ihrem inneren Auge ablaufen. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Gespräche zwischen ihnen, den Vorgesetzten, zwischen der Familie des kleinen Jannis und vielen mehr wird in einzelnen Passagen aufgeblättert. Überschrieben mit den Namen der Hauptbeteiligten steht jeweils eine Figur im Fokus. Unweigerlich bekommt man Einblicke in die Charaktere aller Beteiligten, und es tun sich Abgründe auf, wenn man den inneren Zuständen der Personen näherkommt.

Jeder Mensch hat seine Geheimnisse. Und jeder Mensch verbirgt geheime Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche, Ängste, Trauer und Gefühle der Einsamkeit. An diese heranzukommen versucht Jan Costin Wagner mit seiner subtilen Methode, den Wegen, Träumen und Gedanken der Protagonisten auf die Spur zu kommen. Er beobachtet sie wie im richtigen Leben, indem er Regungen, Bewegungen, Stimmungen bei Sonne und Dunkelheit verfolgt. Wagner überlässt es dem Leser, aus seinen Beobachtungen Schlüsse zu ziehen, was, wer, wann und wo mit den Entführungsfällen zu tun hat. Dieses ungefähre Wabern zwischen den einzelnen Figuren und ihren Gedanken und Gefühlen gibt dem Ganzen einen tiefenpsychologischen Touch, der den Roman so anziehend und faszinierend macht.

Man fühlt sich ganz in den Sog der Geschichte hineingezogen.
Jan Costin Wagner hat seine Psychostudien so lebensnah konstruiert, dass sie dem wahren Leben gleichen.
Das Werk ist literarisch und inhaltlich von ausgezeichneter Qualität. Man kann es nur wärmstens empfehlen.

Jan Costin Wagner
Sommer bei Nacht
320 Seiten, gebunden
Galiani-Berlin, Februar 2020
ISBN-10: 3869712082
ISBN-13: 978-3869712086
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Simone Lappert: Der Sprung

Simone Lappert: Der Sprung

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Eine Frau Steht auf dem Dach eines Hauses in einer mittelgroßen Kleinstadt. Sie wird entdeckt von Menschen, die sie kennen und von anderen, die sich fürchten vor dem, was da kommen mag. 

In einer Reihe von literarischen Porträts der Zuschauer des aufregenden und beängstigenden Vorgangs erfährt man, wie ein jeder sein Leben lebt. Durch die Dramatik des Spektakels verlieren einige das innere Gleichgewicht. Andere sind eher sensationslüstern, erleben das Ganze als Nervenkitzel, das sie aus dem öden Alltag reißt.

Ja, diese Frau will offensichtlich Suizid begehen.

Klug aufgebaut macht uns die Autorin bekannt mit dem, was ein Kleinstadtleben ausmacht. Jeder hat sein eigenes Schicksal. Glück und Unglück, Eintönigkeit und Langeweile liegen nahe beieinander. Aber ein Einsatz wie den, den die Frau auf dem Dach bei Polizei und Feuerwehr auslöst, findet man nicht alle Tage. Schlagartig beleuchtet das Schicksal von Manu, so heißt die Frau auf dem Dach, auch die Schicksale der anderen. In einzelnen Kapiteln wird jeder/ jede in seinem Umfeld beobachtet.

Der Polizist wird früh morgens zum Einsatz gerufen, gerade als er sich überlegt, wie er sich seiner Frau verständlich machen könnte, die sich über sein ständiges Schweigen beschwert hat.

Finn bewundert seine Freundin, die Frau auf dem Dach, für ihre gärtnerischen Fähigkeiten und ihre Naturliebe.
Seine Äußerung „Ich kenne wirklich niemanden, der so ist wie du“ und ihre Antwort „Trifft das nicht auf jeden zu, dem man begegnet“ (S. 43) stehen in ihrer Einfachheit fast als Beispiel für alle Begegnungen in dem Roman.
Es sind zahlreiche Figuren, auf die man trifft. Fast möchte man meinen, eine jede Romanfigur gleicht in ihrer Darstellung einer eigenen kleinen abgeschlossenen Erzählung.
Doch eines treibt alle, auch den Leser, an: wie wird die Geschichte weitergehen, wie wird sie ausgehen?

Mit ihrer lebensklugen und feinen Beobachtungsgabe wird der Leser von Simone Lappert mitgenommen auf eine Reise ins Ungewisse. Der Alltag ringsum, und die Entwicklungen, die sich beim Lesen auftun, nehmen einen ganz gefangen. Bei einigen gibt es nur die Öde und Langeweile, die sie zu Zuschauern der Schauergeschichte machen. Denn Manu schmeißt auch noch mit Ziegeln um sich. Neugierde und Sensationslust füllt rundum die Straßen und Gaststätten mit Gaffern und Zuschauern. Simone Lappert gewährt einen Blick hinter die Kulissen des schönen Scheins. Aufgewühlt durch die Nähe des möglichen Suizids brechen Familienkonflikte auf und schwelende Wut, Eifersucht und gelegentlich auch Einsicht bringen die Menschen aus dem Gleichgewicht. Die Autorin wählt mir ihrer Darstellung das Soziogramm eines kleinen Bezirks der Stadt, in der die festgefügte Ordnung zwischen Freunden, Verwandten und losen Beziehungen innerhalb weniger Tage aufbricht.

Der Roman bietet Spannung pur ohne mit einer gewissen Ruhe im Detailreichtum der Geschichten einzelner für den Ausgleich zu sorgen, mit dem man sich geduldig dem Ende nähert. 

Sehr lesenswert!

Simone Lappert
Der Sprung
336 Seiten, gebunden
Diogenes, August 2019
ISBN-10: 3257070748
ISBN-13: 978-3257070743
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