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Schlagwort: Symbiose

Dorothy Baker: Zwei Schwestern

Dorothy Baker: Zwei Schwestern

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Blick in die Abgründe der menschlichen Seele…

Der wörtlich übersetzte englische Titel „ Cassandra auf der Hochzeit“ wäre wohl der bessere Titel gewesen, denn es geht hier um Zwillinge, von denen der eine sich zur Heirat entschlossen hat, der andere aber in symbiotischer Beziehung zum Gegenüber hängen geblieben ist.

Von Beginn an geht es um diese geplante Hochzeit, von der die Schwester Cassandra einfach nichts wissen will. Sie ist Dozentin in Berkley und macht sich unwillig auf die Reise zu ihrer elterlichen Ranch, wo die Hochzeit ihrer Schwester Judith mit einem jungen Arzt stattfinden soll. Gleich zu Beginn spürt man Cassandras Sarkasmus und ihre Ungläubigkeit, dass ihre Schwester Judith sie verlassen wird. Judith ist gelassen und ruhig. Sie hat ihr Leben selber in die Hand genommen, weil sie ein eigenständiges Leben liebt. Cassandra ist innerlich wütend und hektisch. Die Erzählung ist so gehalten, dass man deutlich spürt, wie sie rebelliert und gegen den Vorsatz der Schwester anzugehen versucht. Die Schwestern waren sich so innig verbunden, dass sie sogar die gleichen Kleider zur Hochzeit unabhängig voneinander ausgesucht haben! Judith wird Zeugin eines Dramas, in dem sie die Hauptrolle als ungetreue Schwester spielt. Schaut Cassandra in den Spiegel, sieht sie zugleich mit dem eigenen Spiegelbild das Gesicht der Schwester. Ohne es zu bemerken, hat sich Judith von Cassandra entfernt. Diese ist darüber zutiefst schockiert und aufgebracht.

Der Kampf zweier äußerlich gleicher aber charakterlich und mental ungleicher Schwestern bestimmt das gesamte Geschehen in dem Roman. Die Begegnungen finden auf der elterlichen Ranch statt. Dort lebt neben dem Vater, einem pensionierten Philosophen, nur noch die etwas exzentrische Großmutter.

Die Autorin spielt auf der Klaviatur der Gefühle, in der sich die vier Menschen verhakt haben. Die Zwillingsschwestern erzählen abwechselnd in der Ichform, so dass man meint, es habe sich alles genauso zugetragen.

Mit feinem Gespür für die Seele des Menschen analysiert Dorothy Baker eine Beziehung, die durch Geburt als Zwillinge in einer ausweglosen Symbiose zu ersticken droht. Bei der äußerlichen und durch die Heirat von Judith auch innerlichen Trennung geht Cassandra existenziell fast zugrunde.

Die Geschichte wird packend erzählt und schlägt den Leser durch feine Nuancierungen in der Wahrnehmung der Gefühle Cassandras in Bann. Man kann sich gut in ihr inneres Erleben einfühlen. Dorothy Baker ist eine ausgezeichnete Beobachterin und Erzählerin. Ihr Roman fesselt u.a. durch die Tragik im Erleben ihrer Hauptfigur.

Gelegentliche Längen tun der Lektüre keinen Abbruch.

Dorothy Baker (1907 -1968) ist ähnlich wie John Williams mit seinem Roman „Stoner“ eine Wiederentdeckung aus dem letzten Jahrhundert. 1965 erschien ihr Roman in der Übersetzung von Günther Huster zum ersten Mal auf Deutsch. Jetzt ist er in der guten Übersetzung von Kathrin Razum bei dtv neu aufgelegt worden.

Man kann ihn sehr empfehlen!

Dorothy Baker
Zwei Schwestern
280 Seiten, gebunden
dtv Verlagsgesellschaft, September 2015
ISBN-10: 342328059X
ISBN-13: 978-3423280594
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Thomas Klugkist: Hanna und Sebastian

Thomas Klugkist: Hanna und Sebastian

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Eine Liebesgeschichte, differenziert, knallbunt, ausschweifend und sehr intelligent!

Thomas Klugkist hat in der Form eines Briefromans einen  Liebesroman geschrieben, in dem er Gedanken zu Nähe und Distanz in Paarbeziehungen und zu innerer und äußerer Freiheit zwischen Liebenden abhandelt. Nichts Denkbares bleibt ausgespart in der Offenheit, mit der sich die Liebenden, und als solche zeigen sie sich in ihren Briefen, einander mitteilen.

Hanna und Sebastian, die sich noch aus der Schule kennen, haben 2000 ein wunderschönes Wochenende zu zweit in Rom verbracht. Sie sind Ende zwanzig und mögen sich sehr! Er ist Rundfunkredakteur in Berlin und sie Ärztin in der pathologischen Abteilung einer Klinik in München.

Basierend auf dem Treffen in Rom beginnen sie einen lebhaften Briefwechsel. Auf hohem Niveau tauschen sie tiefsinnig, hoch reflektiert und im Wechsel zwischen ernsten und leichten Themen ihre Gedanken aus. Da geht es um die Arbeit, ihre Familien, ihre jeweiligen inneren Befindlichkeiten, ihre Liebhaber und Liebhaberinnen und die richtige Lebensform. Doch ein Wiedersehen ist erst in zehn Jahren geplant!

Der Briefwechsel umfasst folglich mit Unterbrechungen 10 Jahre.

In diesen Jahren passiert viel!

Das Paar nähert sich mit ihren freimütigen Bekenntnissen über ein erträgliches Maß hinaus und überschreitet damit Grenzen. Die Akzeptanz dieser Offenheit scheint nur in der räumlichen Distanz möglich. Hanna erzählt über ihre Affären, die nach einigen Jahren und heftigen Turbulenzen sehr ausschweifend werden. Sebastian berichtet im Gegenzug von seinen erotischen Erlebnissen.

Die subtile Erzählform, in der sich beide immer näher kennen lernen, zeugt von hoher Bildung, tiefer Empfindungsfähigkeit und eloquenter Sprachgewandtheit. In ihren Briefen, Mails und SMS’ spürt man eine dauerhaft unterschwellige erotische Anziehung. Ihre Freiheit, die ihnen die Entfernung bietet, ist einerseits prickelnd und andererseits störend. Sie wollen mehr und bleiben doch in ihrem Schwebezustand zwischen Nähe und räumlicher Distanz. Dass es sich um eine symbiotische Beziehung handelt, wird schon bald überaus deutlich.

Doch gibt es eine stärkere Nähe, als die aus der selbst gewählten Distanz?

Mit atemloser Spannung folgt man den Geschehnissen im Leben der beiden. Sie leben jeder auf eigene Weise ihre Wünsche und Möglichkeiten aus.

Thomas Klugkist nimmt seine Leser mit in den Umkreis der Generation der achtziger und neunziger Jahre und bis in das Jahr 2010 hinein. Wie das alles enden wird?

Klugkists Protagonisten sind empfindsam, nachdenklich und selbstkritisch. Es gibt Tragödien, wie in vielen Familien, und es gibt die bodenständigen und klaren Charaktere, denen das Leben nichts anzuhaben scheint. Die Dialogform macht den Roman zu einem fast realistischen Zeitdokument. Klugkist ist ein scharfer Denker, der in seiner Geschichte literarisches und philosophisches Gedankengut verpackt und psychologische Folgerungen anklingen lässt.

Das Lesevergnügen mit Anstößen zum Nachdenken ist unvergleichlich und lässt den Leser bis zuletzt nicht los.

Thomas Klugkist
Hanna und Sebastian
432 Seiten, gebunden
C.H.Beck, Januar 2014
ISBN-10: 3406659608
ISBN-13: 978-3406659607
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Barbara Honigmann: Bilder von A.

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Eine Liebe in Zeiten gesellschaftlichen Wandels.

Die Malerin und Schriftstellerin Barbara Honigmann hat eine intensive und exklusive Liebesgeschichte geschrieben. Sie erzählt die Geschichte ihrer großen Liebe zu dem Regisseur A., der unschwer als Adolf Dresen zu erkennen ist. Er war 1975 Regisseur am Deutschen Theater Berlin und sie Dramaturgieassistentin.

Beflügelt vom Gleichklang ihrer Empfindungen über Poesie, über Kleist und beim Betrachten der Bilder Caspar David Friedrichs bis hin zu den Eindrücken des Theaterlebens in der ehemaligen DDR ist der Roman eine Geschichte von Glück, Gemeinsamkeit, Euphorie, seltener Harmonie und einer fast traumhaften Entrückung. Lernt B. doch zusammen mit A., sich der Theaterluft- und Lust zu nähern, in der es so viel zu entdecken gibt. Glücklich ist der Beginn dieser großen Liebe, die jedoch zuletzt in Unverständnis und fast Gleichgültigkeit übergeht. Der Wechsel von innigem Einvernehmen und späterer Trennung bei gleichzeitigem Missverstehen zeigt einmal mehr die Vergänglichkeit von Liebe. Ungewöhnlich waren die Vorzeichen der Affäre, die eng mit der Geschichte der ehemaligen DDR verbunden ist. Marxismus, Kommunismus, Atheismus und die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen bei gleichzeitiger Enttäuschung über das wahre Gesicht des so gepriesenen Sozialismus beflügelten das Leben der Liebenden.

Der egomanische Mann hat Frau und Kind und wechselt häufig die Theaterorte, als er mit der jungen Barbara eine Beziehung eingeht. Sie geht eng mit der geistig-seelischen Entwicklung beider Protagonisten einher. Die symbiotische Beziehung bei zwei äußerst eigenwilligen Individuen mit 15 Jahren Altersunterschied konnte nicht von Dauer sein.

Barbara Honigmann ist eine Suchende in Sachen Liebe, wie man schon in ihrem Roman „Eine Liebe aus nichts“ nachlesen kann. Sie ist deutsch-jüdischer Abstammung und hat als lebenslängliches Trauma die Suche nach der eigenen Identität in ihre Werke einfließen lassen. So endet auch diese Geschichte bei der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln.

Ihre Sprache bezaubert mit Tiefenschärfe, mit der sie ihre Blicke auf den Mann und die Welt richtet. Einfühlsam und feinfühlig bleibt sie in einer Sphäre der Diskretion, die den literarischen Wert ihrer Ausführungen erhöht.

Nachfühlbar und warmherzig entwickelt sie ihre Geschichte mit einer Spontaneität, die anrührt und ein Gefühl für die Theaterwelt der siebziger Jahre spürbar werden lässt.

Sehr lesenswert!

Barbara Honigmann
Bilder von A.
144 Seiten, gebunden
Carl Hanser Verlag, Juli 2011
ISBN-10: 3446237429
ISBN-13: 978-3446237421
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Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens

Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens

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Trauer, Krieg und eine außergewöhnliche Lebensgeschichte!

In Rom, der von ihm sehr geliebten Stadt, gelingt es dem Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, noch einmal die Geschichte seiner Kindheit zu erinnern. Er beschreibt diese von einer ungeheuren Familienkatastrophe überschattete Kindheit beredt, sensibel und von magischen Eindrücken durchzogen.

Es ist die Geschichte eines stummen Jungen, der in enger Symbiose mit Mutter und Vater aufwächst.

Wie war es dazu gekommen?

Der Krieg hatte den Eltern tiefe Narben geschlagen. Vor Kummer um den frühen Verlust ihrer ersten Kinder im zweiten Weltkrieg hatte die Mutter ihre Sprache verloren. Als einige Jahre nach dem Krieg ein letzter Sohn geboren wurde, der nunmehr das einzige Kind seiner Eltern blieb, konnte weder die Mutter noch der Junge sprechen.

H.-J. Ortheil beschreibt das Aufwachsen wie einen stummen Traum: Glück ist es, mit der Mutter zu sein, den Vater nach Hause kommen zu hören, die Natur zu beobachten und sich versonnen am Rande der Gesellschaft zu bewegen. Es scheint, als seien mangels der Sprachfähigkeit seine übrigen Sinne besonders wach. Ortheil erzählt von dem hoch sensiblen und tief mit der Mutter verbundenen Jungen, der sie in unsichtbaren Gefahren wähnt. Er erlebt die Eltern in enger Zugehörigkeit und Liebe, und er erfährt erste unbekannte Schikanen in der Schule, die sein Leben bedrängen.

Als eines Tages ein Klavier ins Haus kommt, empfindet er ungeahntes Glück: Musik zu hören wird zum außergewöhnlichen Ereignis.

Mit einem entschlossenen Kraftakt beschließt der Vater eines Tages, ohne die Mutter mit dem Jungen aufs Land zu fahren. Dort auf dem  heimischen Bauernhof, der zur Familie des Vaters gehört, mit vielen Onkeln und Tanten, mit geregeltem Arbeitsablauf, festen Mahlzeiten und langen Spaziergängen mit dem Vater vollzieht sich die erhoffte und unerwartete Wende: der Junge blüht auf, kräftigt sich an Leib und Seele, lernt schreiben und lesen und zuletzt auch das Sprechen. Wie sich sein weiteres Leben entwickelt, ist von ebenso besonderer Eigenart wie seine frühe Kindheit

In feiner Manier, ganz aus den Augen eines verstörten Kindes, berichtet Ortheil seine Erlebnisse als Kind und die Folgen, die das jahrelange Schweigen für sein Aufwachsen hatte. Man wir zum Zeugen einer „ Sprachwerdung“, die von ungewöhnlichem Ausdruck ist. Kaum vorstellbar sind die Entwicklungen, die im Zeitraffertempo in wenigen Wochen auf dem Land stattfinden.

Der Junge entwickelt allmählich einen zaghaften eigenen Willen, mit dem er seinen weiteren Lebensweg beschreitet. Musik und Literatur bestimmen sein weiteres Leben.

Freude, Glück und Enttäuschung aber liegen immer weiter nahe beieinander.

Der Autor hat seine eigene Kindheitsgeschichte zu einem fiktiven Roman verfremdet. Sein harmonischer Charakter scheint das Ergebnis des besonders einfühlsamen und pädagogisch befähigten Vaters zu sein. Beiden Eltern zollt der Autor in seinem Buch Respekt und Anerkennung, ohne die kritischen Phasen seiner Entwicklung zu verschweigen. Seine Geschichte hat er in einen Strom poetischer Worten gekleidet, mit dem man ganz nah an sein inneres Erwachen herangeführt wird. Der ruhige Erzählstrom entspricht den sich langsam entfaltenden Möglichkeiten des heranwachsenden Jungen. Er ergeht sich nicht in tiefenpsychologischen Deutungen und verrät dennoch Gründe und Ursprünge einer außergewöhnlichen seelischen Entwicklungsgeschichte. Diese seltene Form der Biographie ist höchst beeindruckend!

Hanns-Josef Ortheil
Die Erfindung des Lebens
Gebundene Ausgabe: 592 Seiten
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
ISBN-10: 3630872964
ISBN-13: 978-3630872964