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Autor: Claudine Borries

Jan Costin Wagner: Einer von den Guten

Jan Costin Wagner: Einer von den Guten

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Jan Costin Wagner ist einer der Kriminalautoren, bei denen es um sensible Beobachtung von Tätern wie Opfern geht. So erlebt man es in seinem neuen Roman über einen leitenden Kriminalermittler, der ein Doppelleben führt.

Wie in einem Kammerspiel wird uns von Ben Neven als liebender Ehemann und Vater einer ebenso geliebten kleinen Tochter erzählt.
Ben befindet sich auf einer Fahrt nach Dortmund. Gleich zu Beginn erfahren wir, dass er dort Böses im Sinn hat. Seine Gedanken wechseln zwischen dem erwarteten Ziel und seinem geordneten Zuhause. Es passt nicht zusammen.
In wechselnden Kapiteln werden uns Personen vorgeführt, die in Beziehung zu ihm stehen.

Einmal kommt seine Frau zu Wort; dann ein als „Junge“ bezeichneter Knabe, der auf Ben in Dortmund wartet; schließlich Ben selber mit seinem unguten Vorhaben, einem Laster, dem er wie einem inneren Zwang folgt.
Es gibt die Berufskollegen, mit denen er in besten Beziehungen steht. Einer ist ihm zugetan fast wie einem Sohn.

Allmählich wird uns bewusst, dass Ben als Ermittler im Prostituiertenmilieu arbeitet. Er ist gut in seiner Arbeit, beliebt bei seinen Kollegen und fühlt sich hingezogen zu seinem Heim mit Frau und Tochter.
Der Schleier des Bösen, des verheimlichten Lasters und die Arbeit bringen den Helden in eine immer tiefer greifende mentale Krise.

Wie Wagner die Spieler in diesem ungleichen Spiel auftreten lässt, das zeigt uns einen Autor, der in die Tiefen menschlicher Seelen blicken kann. Das Gute und Böse liegen nahe beieinander. Wie viele Abgründe mögen im nach außen gebotenen biederen Auftreten schlummern?
Fesselnd wird man in eine Entwicklung einbezogen, die die Hauptperson in tiefe Verzweiflung stößt.

Es geht also nicht allein um die Aufklärung eines Kriminalfalls, sondern um den Fall eines von seinen Trieben gezeichneten Mannes.
Die Abgründe im menschlichen Sein aufzuspüren und nicht zu verurteilen, sondern sich um das Verstehen zu bemühen, das ist die Kunst dieses außergewöhnlichen Autors.
Es geht in seinem Roman mehr um eine Psychostudie als um den beschriebenen Kriminalfall.

Der Autor führt uns durch eine Geschichte, in der es so scheint, als könne man nach moralisch verwerflichen Handeln wieder auf den rechten Weg zurückfinden. Doch wie kann man sich täuschen!
Es gibt ausweglose Situationen. Wagner lässt Fragen offen und zeigt uns, dass am Ende nichts mehr sicher ist.

Gerade dieses Ende macht den Roman so bewegend: Subtil und ruhig zeigt die Erzählung, wie wenig wir vom Bösen ahnen, und wie man auch durch Verschleiern der Wahrheit ins Leben zurückfinden kann. Der Zufall spielt keine geringe Rolle.

Sehr lesenswert!

Jan Costin Wagner
Einer von den Guten
Galiani-Berlin, August 2023
208 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3869712600
ISBN-13: 978-3869712604
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Volker Weidermann: Mann vom Meer

Volker Weidermann: Mann vom Meer

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Es gibt zahlreiche Bücher über das Leben der Familie Mann und einzelner Familienmitglieder.
Volker Weidermann hat uns mit seinem Buch über Thomas Mann und seine Liebe zum Meer noch einmal einen weiteren Blick auf die Person dieses ungewöhnlichen Schriftstellers eröffnet.

Mit Weidermanns feinfühliger Beobachtungsgabe sehen wir zunächst auf das Schicksal von Thomas Manns Mutter. Die Schilderung ihrer exotischen Herkunft aus dem fernen Brasilien mit allen möglichen Freiheiten und herrlichen Schilderungen ihrer Kinderjahre in bunter Natur sind berückend.

Durch den Tod ihrer Mutter wurde das Leben von Julia da Silva-Bruhns schon in frühen Kinderjahren aus der Bahn geworfen. Nach Deutschland versetzt beginnt ein nicht sehr glückliches Leben für sie. Sie wird genötigt, einen ungeliebten Mann zu heiraten, eben jenen Konsul Mann, der als Vorbild für Th. Manns berühmtesten Roman „Buddenbrooks“ gilt.

Die harte, als konservativ geltende und im 19. Jahrhundert verhaftete bürgerliche Haltung in allen Lebensfragen wird durch die Erzählungen von Thomas Mann sehr drastisch spürbar. Erziehung, Auftreten, Umgang mit den Menschen und folgsame Erfüllung der gestellten Aufgaben: es herrscht ein strenges Regiment! Eltern wie Kinder hatten sich danach zu richten.

Volker Weidermann kann sich in die inneren Gefühlswelten der Protagonisten gut hineinversetzen. Die Mutter hat sich eine harte Schale zugelegt, wenn sie auch die Kinder mit ihren Erzählungen in ferne Traumwelten zu entführen trachtete. Die Kinder widersetzen sich den strengen Regeln. Hier ist zumeist von den beiden Erstgeborenen Heinrich und Thomas Mann die Rede.

Die Liebe zum Meer ist ein Aspekt, der Manns ganzes Werk durchzieht, aber in dieser Weise noch nie in den Fokus gerückt worden ist.
Sie bot an vielen Stellen Glücksmomente für ihn! Bei zahlreichen Gelegenheiten rund um die Meere empfand Thomas Mann Liebesgefühle für schöne Jünglinge, die in seinen Erzählungen ihren Niederschlag fanden. Volker Weidermann ist ein vorzüglicher Kenner von Thomas Manns Werken und Wirken. Er stellt gekonnt Bezüge zwischen Leben und Werk her.

Insgesamt sollte man beim Lesen tunlichst ein guter Kenner der Romane und Erzählungen von Thomas Manns Werken sein. Der Autor weiß in seiner Charakteristik des Schriftstellers die passenden Passagen zur rechten Zeit zu zitieren. Manns sexuelle Vorliebe für Männer ist bekannt. Doch werden hier die inneren Konflikte, die diese Neigung für ihn bedeutete, noch einmal herausgehoben.
Sein weitblickendes Genie und die Tiefe seiner Beobachtungen ließen ihn seine eigene Zerrissenheit nie vergessen.

Vieles wird dem Leser bekannt sein, anderes bietet ganz neue Blickwinkel.
Mit strenger Kontrolle und Disziplin hat der Schriftsteller sein Leben gemeistert, um am Ende glücklich zu sein.

Mann vom Meer versetzt einen auf vielerlei Weise zurück in die Jahre seit 1900, in die Krisen, politischen Verwerfungen und die Folgen, mit denen Menschen aus der Lebensbahn geworfen und zu immer neuen Anfängen gezwungen wurden.

Volker Weidermann hat Thomas Mann als den beschrieben, der sein Leben durch alle Zeiten im Griff behielt und das Lebensende gerühmt und zufrieden erleben konnte.

Es gibt ein Glossar und geordnete Kapitel, mit denen der Autor seiner Linie folgt: TM als Mann vom Meer.

Volker Weidermann
Mann vom Meer
Kiepenheuer&Witsch, Juni 2023
240 Seiten, gebunden
ISBN-10: ‏ 3462002317
ISBN-13: 978-3462002317‏
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Martin Suter: Melody

Martin Suter: Melody

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Dieses Buch über einen wohlhabenden Schweizer Bürger mit ausgewiesener Reputation liest sich auf weite Strecken wie ein Gourmetkochbuch!

Dr. Peter Stotz ist Politiker, hoher Militär und Geschäftsmann mit weitreichenden Verbindungen.
Er ist 80 Jahre alt und sucht einen Mitarbeiter für sein umfangreiches Archiv.
Ihm gefällt ein Jurastudent, der sich auf einen Jahresvertrag bei freier Kost und Logis und hohem Honorar an ihn bindet. Tom Elmer ist der Auserwählte.

Es geht vornehm zu bei dem alten Herrn. Vor allem aber wird nach alter Sitte und Gebrauch zu jeder passenden Gelegenheit Alkohol dem Anlass gemäß kredenzt. Die Küche bietet allerhand exquisite Mahlzeiten, so dass es sich gut leben lässt in dieser Umgebung.
Sherry, Armagnac, Cognac und die teuersten Weine machen stets die Runde. Ganz diskret ließ der Hausarzt durchblicken, dass der gute Peter ein verkappter Alkoholiker sei. Kein Wunder bei seinem Lebensstil!

Im Hause hängen vielfach gezeichnet Porträts einer schönen Frau. Welche Rolle spielt diese ferne Schönheit in dem ganzen Stück?
Tom erfährt durch das Archiv die Lebensgeschichte von Stotz. Ergänzt wird diese durch die täglichen Erzählungen. Mahlzeiten und abendliche Gespräche bieten jede Möglichkeit, alles über Peter Stotz zu erfahren. Eine Frau mit Namen Melody, verkörpert in den zahlreichen Porträts an den Wänden, spielte eine zentrale Rolle in seinem Leben.
Sie war die Auserwählte von Peter Stotz, verschwand jedoch wenige Tage vor der Hochzeit und blieb für immer unauffindbar.
Bei der Suche nach ihr scheute der Patron keine Kosten für ferne Reisen, um sie zu finden

Im Hause gibt es einen Butler, eine Köchin und eine Sekretärin.
Sie alle kommen zu Wort und aus ihren Erzählungen und Handlungen verdichtet sich das Bild, das Tom von dem alten Herrn erhält.
Auch Tom wird in dem Werk seinen Part bekommen. Ohne Liebe geht es nicht!

So viel sei hier gesagt: im zweiten Teil beginnt eine Art Krimi um das Erscheinen und Verschwinden von Melody.
Ganz geheimnisvoll steuern wir auf ein Ende ihrer Geschichte zu, das uns staunen lässt und einen hohen Überraschungseffekt bietet.

Martin Suter erzählt in einem behaglichen Stil. Beschreibungen von Personen, Lebenssituationen und Ereignissen verbreiten Ruhe und lassen uns an dieser außerordentlichen Lebensgeschichte teilhaben.
Man wundert sich darüber, wie der Autor immer neue, interessante Sujets erfindet, um seine Leser zu unterhalten!
Insgesamt haben wir es mit einer absolut anregenden und angenehmen Lektüre zu tun, die uns aus unserem Alltag herausholt und abwechslungsreiche Unterhaltung auf einem hohem Niveau bietet.

Martin Suter
Melody
Diogenes, 3. Auflage März 2023
336 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072341
ISBN-13: 978-3257072341
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Kent Haruf: Das Band, das uns hält

Kent Haruf: Das Band, das uns hält

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Aufgebrochen in den Westen der USA nach Colorado, damals um 1900 noch ein raues und unbesiedeltes Land, finden die junge Ada und John Goodnough nur schwer zueinander.
Er ist ein notorischer Eigenbrötler mit raubeinigen Manieren und wenig Herz. Seine Frau Ada ist zart und empfindsam. Sie ist dem groben Leben auf dem erst noch urbar zu machenden Land kaum gewachsen.

Mit dieser Einführung beginnt ein Roman, in dem es an Härte aber auch Liebe unter den Menschen nicht mangelt.
Die Geschichte schildert ein Geschwisterpaar, das durch äußere Umstände eng aneinander gebunden bleibt, so dass beide kein Lebensglück finden können.
Langsam aufgebaut und mit immer neuen Erzählsträngen versehen, öffnet uns der Autor den Blick auf ein Leben, das von äußerster Kargheit und entbehrungsreichen Jahren gezeichnet ist.

Ada stirbt schon mit 42 Jahren und hinterlässt ihre jungen Kinder einem Vater, der mit harter Hand durchgreift. Mürrisch und herrisch lässt er seine Kinder auf dem Feld und bei der Viehzucht kräftig zupacken.
Edith und Lyman sind die Kinder dieser Ehe, die kein Glück für alle brachte.

Erwachsen geworden wird Edith, eine hübsche junge Frau, von einem Nachbarn umworben, der sie gerne heiraten will. Der brutale und selbstsüchtige Vater weiß das zu verhindern. Edith kann sich seinem Anspruch, weiterhin für ihn und den Bruder Lyman zu sorgen, nicht entziehen.
Lymann sucht eines Tages das Weite und lässt sich erst 20 Jahre später wieder blicken.

Die Spannung steigt mit Fortgang der Geschichte. Man bekommt einen unmittelbaren Eindruck vom Leben auf dem Land, von Dürre, Schnee und Kälte. John Roscoe, der Nachbar, sieht mit argwöhnischen Augen, wie Ediths Leben unter der Härte der Lebensbedingungen langsam vergeht.

Die Erzählung vermittelt einen starken Eindruck vom Leben der Farmer, ihrer spartanischen Lebensweise, den wenigen Freuden, und den unfreundlichen Umgangsformen eines cholerischen und harten Wüterichs, den Roy Goudnough verkörpert.

Edith ist die eigentlich Leidtragende, weil sie dem wütenden Vater ausgeliefert bleibt. John Roscoe, deren Nachbar, heiratet und sie bekommen Sohn Sanders, der die ganze Zeit Erzähler dieser Geschichte bleibt.

In dem Roman passieren noch weitere unwahrscheinliche Geschichten. Ein rundes Bild einer fast archaischen Welt tut sich auf. Die Jahre gehen ins Land, und die Zeiten ändern sich.
Unverdrossen bleibt Edith ihrem Bruder Lyman verbunden, der bis zum bitteren Ende ihr Leben belastet.
Auch so kann Leben sein: Plackerei, Mühe und nie zugelassene Träume von einer besseren Lebensgestaltung.

Kent Haruf berichtet hautnah und intensiv. Man bleibt zunehmend fasziniert vom Fortgang der Geschichte und ihrem Ende. Haruf ist ein herausragender Erzähler, von dem es schon zahlreiche Bücher über den fiktiven Ort Holt in Colorado gibt.

Kent Haruf
Das Band, das uns hält
320 Seiten, gebunden
Diogenes, Mai 2023
ISBN-10: 3257072295
ISBN-13: 978-3257072297
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Fabio Andina: Davonkommen

Fabio Andina: Davonkommen

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Fabio Andina schreibt Bücher, die in ihrer Sprache von großer Eleganz, Stille und Melancholie erfüllt sind.

Der Icherzähler monologisiert unentwegt und teilt einem imaginären Zuhörer seine Gedanken mit.
Worum geht es eigentlich?
Nun, ein Mann fühlt sich schlecht, er sucht einen Psychiater und findet nur sehr schwer jemanden, der Zeit für ihn hat.
Schließlich gelingt es ihm. Ein Arzt verschreibt ihm Beruhigungs-und Schlafmittel. Er braucht sie dringend, denn seine Frau will sich trennen, und er erträgt den Gedanken kaum, sich damit auch von seinem kleinen Sohn trennen zu müssen.

Es folgen zahlreiche Episoden, die sich alle immer gleichen: es schneit, es ist sonnig, er musste in eine Hütte in den Bergen ziehen, weil er in der Stadt keine Wohnung fand. Er telefoniert täglich mit seinem Sohn, muss sich aber auch mit den Schikanen seiner Frau herumschlagen, die den Kontakt zum Sohn oftmals verhindert, mindestens aber stört.
Er liebt diesen Sohn sehr! In Gedanken spricht er mit ihm und sehnt sich nach ihm.
Arbeitslos und aller Bindungen beraubt, drehen sich seine Gedanken und inneren Monologe um ihn, diesen kleinen geliebten Sohn, der vier Jahre alt ist.

Als Wachdienst verdient der Erzähler mehr schlecht als gut seinen Unterhalt. In seiner Hütte herrscht Chaos.
Sein Leben pendelt unausgefüllt zwischen den Scheidungsanwälten, die inzwischen eingeschaltet wurden, seinem Dienst als Wachmann, seinen geregelten Besuchszeiten mit seinem Sohn, zwischen Bier und Beruhigungspillen. Albträume plagen ihn und spiegeln die Schrecken eines Lebens, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Und doch: was mach den Roman so reizvoll?
Es sind die feinsinnigen Beobachtungen, die immer wieder spürbare Stille und nach und nach eine große Ruhe, die von der Erzählung ausgeht.
Kein spannender Handlungsstrang stört eine Entwicklung, die den Protagonisten zum duldenden Menschen macht. Er scheint sein Leben allmählich zu akzeptieren. Die Liebe zum Sohn bleibt die einzige feste Konstante, die seinem Leben Halt und Ruhe gibt.
Sie kulminiert in der Frage an den Sohn “warum wolltest du denn die gelben Pumas?“ Und die Antwort “sie sind wie die Sonne und die Sonne ist groß……. so groß wie das Leben!“

Ein poetischer, einnehmender Roman über das Leben und den Kampf, es zu bestehen.

Fabio Andina
Davonkommen
Rotpunktverlag, April 2023
200 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3858699764
ISBN-13: 978-3858699763
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Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

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Glattauer hat einen kurzweiligen und anregenden Roman geschrieben. Er benutzt die Möglichkeiten des Internets, um seine Geschichte in Szene zu setzen.

Zwei gut situierte Paare gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana.
Die Strobl-Marineks und die Binders sind gut befreundet. Binders haben den Sohn Benjamin, und Martineks die Tochter Lotte und Sophie mitgebracht. Damit sich die 14jährige Sophie nicht langweilt, durfte sie ihre Freundin Aayana mit in den Urlaub nehmen. Aayana ist ein Flüchtlingsmädchen aus Somalia.

Was froh und entspannt beginnt, endet sehr bald in einer Katastrophe. Sophie will Aayana das Schwimmen beibringen. Doch diese nutzt die Nacht, um selber im Pool zu schwimmen. Dabei ertrinkt sie.

Was macht den Roman so lesenswert?
Glattauer baut den Roman so auf, dass der Hauptkonflikt fast sofort klar wird. Zugespitzt erlebt man eine Flüchtlingstragödie bedauerlichen Ausmaßes.
Es gibt die vielen vermeintlichen Nebensächlichkeiten, die zur Katastrophe beigetragen haben könnten.

Elisa Marinek hat einen Geliebten. Um ihre Ehe ist es nicht mehr gut bestellt. Sie ist eine emanzipierte Frau, promoviert und Abgeordnete der Grünen im österreichischen Parlament.
Ihre politische Karriere könnte durch durch Aayanas Tod Schaden nehmen.
Sophie hat einen Internetfreund, mit dem sie sich austauscht, und in den sie sich, ohne ihn je gesehen zu haben, verliebt.
Melanie bezichtigt Elisa, den Tod von Aayana bewußt nicht verhindert zu haben. Die Atmosphäre zwischen den Paaren ist angespannt.
Die Dialoge sind aufschlussreich, weil sie Stimmungen vermitteln, die konfliktträchtig und unaufrichtig sind.

Glattauer bedient sich u.a. des Internets, um Austausch und Kommentare dort zu verfassen.
Nach und nach erreichen sowohl Elisa als auch Sophie Häme und Spott über dieses Medium.
Es gibt die pubertierende Tochter, die sich angestachelt durch ihre Internetkorrespondenz in eine phantastische Liebesgeschichte hineinsteigert. Man erlebt zwei Ehepaare, die durch die ganze Geschichte aufgeregt und irritiert ihre bürgerliche Existenz gefährdet sehen.

Die Figuren sind eine jede sehr eigen in ihrer Charakterstruktur. Gebannt folgt man einer Erzählung, die uns nach Österreich mitnimmt, in die Toskana und am Ende mit allen rechtlichen Verwicklungen als Folge des Todes von Aayana wieder nach Wien.
Verwirrung der Gefühle und Befindlichkeiten auf der ganzen Linie!

Glattauer setzt allem die Krone auf, indem er die verschiedenen Erzählstränge gekonnt zusammenführt, so dass sich ein abgerundetes Verstrickungsmodell abzeichnet.

So ist das Leben: es steckt voll hintergründiger Fallstricke und führt Menschen zusammen, die sich entweder gegenseitig nutzen oder Unglück auslösen.

Daniel Glattauer hat wieder einmal einen anspruchsvollen Unterhaltungsroman geschrieben.

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Paul Zsolnay Verlag, März 2023
304 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3552073337
ISBN-13: 978-3552073333
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Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

Daan Heerma Van Voss: Die Sache mit der Angst

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Der holländische Autor Daan Heerma van Voss hat ein wissenswertes Buch über Depressionen und Angstzustände geschrieben.

Als sich die Freundin von ihm trennt, weil sie seine Ängste nicht mehr ertragen kann, fasst er den Entschluss, den eigenen Ängsten auf die Spur zu kommen.
Konfrontiert mit immer neuen Angstphasen, besucht er zunächst einen Freund in Frankreich, wo er sich in intensivem Studium mit den Ursprüngen der Ängste befasst. Er staunt selber über Statistiken, aus denen hervorgeht, wie verbreitet Ängststörungen sind.
Es gibt chemische Formeln, mit denen man im Gehirn bei der Untersuchung am Menschen abweichende Normen für mentale Zustände diagnostizieren konnte.
Seine Studien führen den Autor zu seinen Ahnen in Indonesien, von denen ebenso bekannt ist, dass sie unter Ängsten litten.
Sehr präzise macht er den Weg aus, der bis zur Erkenntnis des heutigen Begriffs “Angststörung“ geführt hat. Da ist zunächst von Überarbeitung die Rede, neurasthenischer Veranlagung, Nervosität, Unruhe und vielen Begriffen mehr.

Schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts finden sich Andeutungen über Melancholie. Aber es geht noch weiter zurück bis hin zur griechischen Mythologie.
Ängstlich vermieden die Betroffenen, ihren Zustand als krank zu bezeichnen. Man beließ es gerne bei äußeren Einflüssen: Überarbeitung und wirtschaftlicher Not etc. Allerdings hat man bei Forschungen schon in Darwins Tagebüchern Aufzeichnungen gefunden, die auf gelegentliche Stimmungsschwankungen schließen lassen.

In der Literatur gibt es vielfache Hinweise auf psychische Not wie z.B. bei Proust, Hölderlin, ja selbst Goethe schrieb über die Melancholie; man findet sie bei Heine, Stefan Zweig, Thomas Mann und vielen anderen mehr.

Der Autor bemüht zahlreiche Studien, führt Gespräche mit Psychiatern und Psychologen, um zu dem heutigen Begriff der „Angststörung“ vorzudringen. Er bezeichnet seinen Weg als einen, der durch die Familiengeschichte, Wissenschaft, Literatur, Geschichte und Philosophie führte, um sich selber besser zu verstehen.
Es geht ihm eindeutig darum, mit der Ursachenforschung die Begründung für seine eigenen Malaisen zu finden. Dabei geht er neben eingeschobenen eigenen Stadien der Krankheit sehr wissenschaftlich vor. Er beeindruckt durch seine klare Sprache, seinen ungetrübten Blick und die rückhaltlose Offenheit. Dazu gehört ein immenses Wissen an verschiedenen Forschungsrichtungen, mit denen man den dehnbaren Begriff der „Angststörung“ auf die Spur zu kommen trachtete. Spannend wird sein Bericht dadurch, dass häufig Wissenschaftler oder auch Entdecker für weitere Forschung am eigenen Leib mit den Merkmalen von ungeklärten Symptomen geschlagen waren als da sind: Phobien, Melancholie, Unruhe, Schwindel, Platzangst etc.

Van Voss zieht als Fazit aus seinen Studien und der Ahnenforschung die Bilanz, dass genetische Faktoren, soziale Einflüsse und defekte chemische Strukturen im Gehirn erst zu den krankhaften Erscheinungen an Leib und Seele führen können.
Durch die Einschübe eigener Angstphasen und Gesprächen mit anderen Betroffenen wird die Verbindung zwischen realem Leben und Forschungserkenntnissen einleuchtend und lebendig.

Van Voss beginnt und lässt seinen Bericht enden mit seiner Liebe zu einer Lebensgefährtin, die seine Ängste weder verstand noch tolerierte.
Tabus belegen auch heute noch diese Krankheiten, die doch seit Jahrhunderten schon die Menschheit bedrängen.

Van Voss leistet mit seinem Buch einen hervorragenden Beitrag zu den so weit verbreiteten Formen der Angst und Depression mit der damit einhergehenden Einsamkeit. Sie zeitigen häufig tragische Folgen für die Betroffenen.
Ein gründliches und verstehbares Wissen macht den Bericht auch für den Laien sehr lesenswert.

Daan Heerma van Voss, Historiker, Autor und Journalist gilt als eine wichtige Stimme seiner Generation in Holland.

Im Anhang gibt es ein ausführliches Quellenverzeichnis.

Daan Heerma Van Voss
Die Sache mit der Angst
Diogenes, März 2023
384 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3257072309
ISBN-13: 978-3257072303
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Annika Büsing: Koller

Annika Büsing: Koller

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Dieses Buch ist ein Roadmovie der besonderen Art.

In einer trockenen und spröden Sprache beschreibt Annika Büsing die Geschichte von Chris und Koller, der eigentlich Kolja heisst.
Es fängt mit der Liebe an und hört mit ihr auf.
Wer ist Chris: Junge oder Mädchen?
Dann wird es klar: Koller hat sich in ihn verliebt! Chris ist der Icherzähler, ein nachdenklicher und ruhiger Mensch.
Zwischen den Zeilen wird die Geschichte eines jeden Jungen eingeblendet.
Sie lassen sich treiben und gehen keiner regelmäßigen Beschäftigung nach. Koller hat Medizin studiert. Das praktische Jahr stünde an; aber er mag nicht arbeiten.

Chris erzählt in Andeutungen von seiner Mutter. Sie ist Ärztin und liest Hegel. Er wuchs in einem gebildeten aber vaterlosen Haushalt auf.

Koller erfährt unvermutet, dass er Vater einer 4jährigen Tochter ist. Das haut ihn um. Also macht er sich mit Chris auf den Weg, sie zu besuchen. Sie fahren mit einem alten Polo an die Ostsee. Der Weg wird von allerhand Misshelligkeiten unterbrochen.

Den trockenen Sprachstil erkennt man wieder. Schon in „Nordstadt“ war dieser Sound sprachbestimmend. Er hat eine seltsame Faszination für den Leser*In.

Annika Büsing lässt die Männer unterschiedliche Stationen passieren. Mal ist es das Heim, in dem die behinderte Schwester von Koller lebt. Dann wieder suchen sie die Kate von Kollers Oma. Im Grunde erleben sie Nichtigkeiten. Eine gewisse Lethargie und Antriebslosigkeit lässt die Burschen ihres Weges ziehen. Haben sie ein Ziel? Es ist nicht erkennbar. Vielleicht einfach: in den Tag hineinleben, um den Moment zu genießen.

Auffällig sind Einschübe von poetischer Sprachkraft. Sie erinnern an biblische Aussprüche. Mitten hinein in einen ganz gewöhnlichen Augenblick „Die Sonne geht unter. Und siehe, es ist alles gut“ erscheinen diese Sätze wie aus dem Rahmen fallende Momente der Ruhe.
Alle dargestellten Beziehungen sind konfus. Sie sind ganz sicher nicht bürgerlich.
Am Ende geht es um Identitätsfindung, Autonomiesuche und um die Frage, was und wozu leben wir.

Verklausuliert in ihrer stockenden Alltagssprache bietet die Erzählung mit ihrem Tiefgang einen ganz einmaligen Reiz.
Es handelt sich um eine verlorene Generation mit starken Gefühlen, die nur sehr verhalten rüberkommen. Nicht zuletzt spielt das Leben in West und Ost vor und nach der Wende eine Rolle.

Am Ende wirkt die Geschichte, als ließe die Autorin uns mit einem Fragezeichen zurück. Glück? Freude?
“Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht.“ Momente scheinen den Augenblick zu bestimmen.

Annika Büsing
Koller
Steidl Verlag, 2. Auflage, März 2023
176 Seiten, gebunden
ISBN-10: 396999196X
ISBN-13: 978-3969991961
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Helga Schubert: Der heutige Tag

Helga Schubert: Der heutige Tag

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Eine Frau begleitet ihren Mann auf seinem letzten Lebensabschnitt. Seine Demenz ist offensichtlich. Wie geht man damit um?

Helga Schubert beschreibt im Wechsel mit ihrer Gegenwart, wie sie mit ihrem Mann zusammengelebt hat, wie ihre Liebe entstand und Bestand hatte und wie das „Heute“ aussieht.

Derden, wie sie ihn nennt, ist alt, krank und abhängig von ihr wie nie zuvor in ihrem langen gemeinsamen Leben.

Die Anfänge ihrer Ehe waren holprig; beide hatten Ehen hinter sich und Kinder aus diesen vergangenen Ehen. Während sie ihr Leben alleine schon bald gestaltet, zieht es ihn immer wieder zurück zu seiner Ehe und dem Familienleben. Sie konnte dem alternativlos ein Ende setzen. Nun sind sie seit 58 Jahren zusammen und lieben sich immer noch!

Das ist eine lange Zeit, um sich nah zu sein und zu bleiben. Es scheint ihnen gelungen, ein glückliches gemeinsames Leben gemeistert zu haben. Er malt, sie schreibt, doch das jetzige Leben mit Pflege und allen Begleiterscheinungen eines vergänglichen Lebens hat nochmal eine ganz neue Dimension.

Es gibt wunderbare Berichte über ihr Leben auf dem Land in einem stillen Bauernhaus in Mecklenburg, das Ruhe und Beschaulichkeit verspricht.

Die Düfte und Geräusche der natürlichen Umgebung sind berückend. Man vergisst vorübergehend ganz, was die Pflege ihres Mannes  für die Autorin an Beschwerlichkeiten mit sich bringt. 

In ihrem Alter, 83, sieht sie bei Freunden und Bekannten Veränderungen mit den unterschiedlichsten Merkmalen. Es gibt weit verbreitet Demenz, Heimunterbringungen, Todesfällte; auch späte Liebe mit über neunzig Jahren kommt vor! Sie selber ertappt sich gelegentlich bei eigener Vergesslichkeit. Die ganze Wahrheit des Altwerdens wird sichtbar. Es gibt glückliche Momente, das ja. Sie bestehen in der Stille, dem Gesang einer Amsel, dem Betrachten der Blumen im Sommer, und für Helga Schubert im Schreiben am Laptop. Doch alles wird überlagert von der schwer zu bewältigende Pflege für ihren schwer kranken und viele Jahre älteren Mann.

Wie viel Geduld das erfordert!

Eine zärtliche Geste hier, ein Hauch von Verzweiflung da: die Autorin berichtet hautnah, wie es sich lebt im Angesicht des langsamen Untergangs von Geist und Körper!

Die Liebe und die Nähe, gemeinsamer Humor und das Lachen: das alles gilt es zu bewahren und doch den nahenden Abschied nicht zu verleugnen. Wie schwer das fällt, bis er zur unabänderlichen Wahrheit wird!

Es ist ein schönes Buch, ein melancholisches auch, doch alles durchdrungen von einer langen Liebe! 

Helga Schubert
Der heutige Tag
dtv Verlagsgesellschaft, März 202
272 Seiten, gebunden
ISBN-10: ‏342328319X
ISBN-13 :978-3423283199
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Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

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„Ich liebe dich“ und „Ich verlasse dich“. Mit diesen drei Wörtern kann eine langjährige Beziehung umschrieben werden.

Im neuen Roman von Julia Schoch will eine Frau ihren Mann verlassen.
In Gedanken lässt sie, die selber Schriftstellerin ist, ihre gesamte Liebesgeschichte noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen.
Zuerst ist sie jung, verliebt und neugierig auf das Leben.
Zwischen den Zeilen, die teilweise einem Monolog gleichen, spürt man allerdings von Beginn an, dass hier eine junge Frau einen Freund liebt, dessen sie sich nie so ganz sicher gewesen zu sein scheint.
Sie studierten in der Nachwendezeit und trafen sich immer wieder.
Man verbringt Tage und Nächte zusammen, geht gemeinsam ins Kino, und sie ist ganz hingerissen von ihm. Ist er das auch von ihr?
Auf jeden Fall ist er in ihrer Darstellung einer, den sie als überlegen wahrnimmt. Sein Wort gilt, und sie fühlt sich wohl in seinem Schatten.

Was mit Überschwang beginnt, zeigt schon bald kleine Risse. Ein versäumter Termin, lange Tage ohne Kontakt: man spürt es schon. Hier wird nicht alles ganz reibungslos verlaufen.
Die euphorische Feststellung, „das Liebespaar des Jahrhunderts“ zu sein, wird nicht so bleiben!

Julia Schoch fühlt sich ganz in das Leben des Paares ein. Sie beschreibt, wie die anfängliche Hochstimmung nach und nach einem Alltag weicht, der dem so vieler anderer Paare gleicht.

Kinder werden geboren; Beruf, Alltag und Familienleben müssen in Gleichklang gebracht werden. Abnutzung und Ermüdung betreffen neben den alltäglichen Verrichtungen auch das sexuelle Leben der beiden. Man läuft schweigend aneinander vorbei, und die Zeit verrinnt. Sind die Träume des glücklichen Liebeslebens zerronnen?

Die Erzählerin vermerkt minutiös, wie sie sich mit dem Gedanken plagt, den Mann zu verlassen.

Gemessen an dem, was sie erwartet hat, wirkt der fortschreitende Prozess des Alltags recht trostlos. Julia Schoch kann Stimmungen einfangen und Situationen, Handreichungen und Haushaltsverrichtungen so beschreiben, dass der Leser*In ganz in dieses Milieu eintaucht.
Sie beweist einmal mehr, wie genau sie beobachten kann. Ihre Darstellung einer ermüdenden Beziehung ist echt und überzeugend und fängt das Leben ein, wie es ist.
Glücksgefühle allerdings sind rar in der Beziehung. Auch das ein Stück Realität?
Der Leser*In wird es prüfen und mit dem eigenen Leben vergleichen.

Das überraschende Ende des Romans lässt erkennen, dass „Leben und Liebe“ so ist, wie man es hier beschrieben findet.

Julia Schoch
Das Liebespaar des Jahrhunderts
dtv Verlagsgesellschaft, Februar 2023
192 Seiten, gebunden
ISBN-10: 3423283335
ISBN-13: 978-3423283335
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